Der Tag des Zorns
Von Günter Müchler
Die drückende Vorgewitterschwüle war seit Wochen zu spüren. Nun ist die Lage da. Gleich zweimal hat der Blitz getroffen, und das an einem Tag. Auch wer das ständige Herumwerfen mit Superlativen satt hat und ausgelutschte Vokabeln wie Zeitenwende nicht mehr hören mag, wird zugeben: Dieser 6. November 2024 mit seinem Doppelschlag von Washington und von Berlin stellt eine Zäsur da. Noch lange wird man von der Zeit vor und der Zeit nach dem Tag des Zorns sprechen.
Der Wahlsieg Donald Trumps war am Ende keine Überraschung mehr. Bloß mit dieser Überdeutlichkeit hatte niemand gerechnet. Kamala Harris, die Kandidatin der Demokratischen Partei, konnte Trump trotz eines üppigen Budgets nicht distanzieren. Sie schnitt noch schlechter ab als Hilary Clinton vor acht Jahren. Sind die USA nicht reif für eine Frau an der Spitze? Wer so fragt, macht es sich zu einfach. Er lenkt von den Fehlern der Demokratischen Partei ab. Die Dauerschwäche der Demokraten ist Teil des Krankheitsbildes der USA.
In Deutschland gibt es Menschen, die der lamentable Zustand der USA nur ein müdes Lächeln kostet. Sie haben diesen Hort des Kapitalismus schon immer gehasst und über die Unkultur der Yankees gelästert. Was sie nicht daran gehindert hat, die Lieder dieser Yankees zu pfeifen, ihre Care-Pakete zu verschlingen und die Freiheit zu nutzen, unter dem Schutzschirm der amerikanischen Abschreckung auf der Bonner Hofgartenwiese die Amerikaner zu vermaledeien, heldenhaft und natürlich bei schönem Wetter.
Die Mehrheit der Deutschen hat hingegen nicht vergessen, was Deutschland Amerika schuldet. Auf die Vereinigten Staaten war Verlass im Kalten Krieg. Sie waren das Vorbild in Sachen Demokratie, ihnen konnte man vertrauen. Und jetzt? Jetzt haben einen Mann ins Weiße Haus gewählt, der nicht mehr beweisen muss, dass er ein Egomane ist; der lügt, dass sich die Balken biegen und der skrupellos sein kann bis zum Bürgerkrieg. Die Amerikaner können nicht sagen, sie hätten das alles nicht gewusst. Sie haben ihn gewählt, trotz allem.
Was da passiert ist, kann niemanden kalt lassen. Die Vereinigten Staaten sind seit 1945 machtpolitisch die Nummer eins auf der Welt und das wird noch eine Weile so bleiben. Der Wahlausgang verstört, er verstört bis zur Verzweiflung. Wie Christen, Evangelikale, einem Mann das Halleluja singen können, der mit fast jedem der Zehn Gebote auf Kriegsfuß steht, wer soll das verstehen?
Allein, Wählerbeschimpfung hilft nicht weiter. Die amerikanischen Wähler waren in der Mehrzahl nicht die „dümmsten Kälber“, die angeblich „ihren Metzger selber“ wählen. Trump ist ein Rattenfänger von hohen Graden. Er hat Charisma. Er erklärt die Welt im Schwarz-weiß-Format. Das kommt an in einer Zeit voller Anpassungsstress, in der alles so anstrengend flimmert. Auch stimmt ja, dass es den Amerikanern unter Trump wirtschaftlich besser gegangen ist als unter Biden. Warum also ihm nicht glauben, wenn er jetzt ein „Goldenes Zeitalter“ verspricht? Glauben zu können, verschafft gute Gefühle.
Die Rahmenbedingungen für Trump II sind günstiger als die in Trumps erster Amtsperiode. Die Republikaner, sein parlamentarischer Anhang, besitzen in beiden Häusern der Gesetzgebung die Majorität. In die Gerichte hat Trump Leute hineingeholt, die er für zuverlässig hält. Der 47. Präsident der Vereinigten Staaten hat viel Ellbogenfreiheit, und wie man sie kennt, wird er sie nutzen. Wozu wird er sie nutzen? Pessimisten wetten darauf, dass er versuchen wird, den Welthandel im Sine von „America first“ zu steuern. Sie erwarten einen Hexentanz des Protektionismus. Echten Grund zur Sorge hat das Weltklima, das den Trumpisten egal ist. Echten Grund haben die Ukrainer, die um ihr Überleben kämpfen, haben die übrigen Europäer. Denn sie rätseln, was dem neuen Herrn im Weißen Haus die Beistandsverpflichtung der Nato wert ist.
Optimisten haben es schwer. Sie haben nichts in der Hand als Trumps erwiesene Unberechenbarkeit. Als Hoffnung ist das nicht viel, aber besser als nichts. Vielleicht hat Trump doch keine Lust, die Ukraine Putin herzuschenken. Immerhin war er 2017 der erste, der Kiew Waffen lieferte. Vielleicht werden Richter und Staatsanwälte Trump nicht aus der Hand fressen, wie er erwartet. Gewaltenteilung, das System von checks and balances, die in einem 250 Jahre alten Mutterboden wurzeln, lassen sich nicht einfach aushebeln. Vielleicht wird die amerikanische Demokratie doch fertig mit dem „Polarisierungsunternehmer“ Trump, wie ihn Jürgen Kaube in der FAZ gelabelt hat.
Man wird sehen und darf doch nicht einfach zuschauen. Nur Reden und sich die Haare raufen kann sich Europa nicht länger leisten. Die Gemütlichkeit der Pax Americana, das war einmal. Trumps Wahl bedeutet den Ernstfall. Und genau in dem Moment, wo diese Erkenntnis sich Bahn brechen müsste, am Tag des Trump-Sieges, kracht in Berlin die Koalition auseinander. Deutschland ist ohne handlungsfähige Regierung. Kaum besser sieht es in Frankreich aus. Dieses Loch der Ohnmacht, das in der Mitte Europas klafft, ist eine Morgengabe für den Präsidenten ante portas und eine Genugtuung für Putin. Denn wenn beide etwas verbindet, ist es die Überzeugung, dass die Europäer Weicheier sind.
Lassen wir beiseite, wer an dem Berliner Desaster die Hauptschuld trägt. Dem Schiff kann es gleich sein, ob es bei Skylla oder bei Charybdis zerschellt. Letztendlich ist es gut, dass der Schrecken ein Ende hat. Eine Regierung, von der bei Umfragen bloß Spaßvögel behaupten, sie sei toll, steht nur im Weg.
Es müsste also der Berliner Blitzeinschlag des 6. November nicht unbedingt ein Unglück sein. Er könnte die Bedingungen für einen Neubeginns schaffen. Aber da steht Olaf Scholz vor. Der Bundeskanzler, der in seinen drei Amtsjahren wahrhaftig vor schwierigen Herausforderungen stand, der gar nicht alles falsch gemacht hat und einmal sogar eine Sternstunde hatte, nach dem russischen Überfall – diesem Bundeskanzler fehlt die Größe einzusehen, dass er nur noch stört. Er klammert sich an die Macht, an den Rockzipfel, der davon geblieben ist, und spielt Hazard. Seine Ansage, Neuwahlen erst im März, ist geprägt von geradezu trumpistischer Egozentrik. Was mutet er Deutschland zu? Wir haben Anfang November. Die Vertrauensfrage soll am 15. Januar gestellt werden. Auf die Bundestagswahl Ende März werden locker zwei Monate Koalitionsverhandlungen folgen. Mit anderen Worten: Deutschland soll sieben Monate paralysiert sein, Europa seinen Weg finden in krankheitsbedingter Abwesenheit des wichtigsten Mitgliedsstaates – und das nur, weil Scholz an der Mythe jener Aufholjagd von 2021 klebt, die sich nicht wiederholen wird.
Denn was soll entstehen aus der sich hinziehenden Agonie, der die Gnade der Beendigung versagt wird? Ein weiterer Aufwuchs der Randparteien rechts und links ist das bei weitem wahrscheinlichste Szenario. Indem der Kanzler diese Kräfte aufpumpt, verspielt er den Rest seines Renommees. Er betätigt sich als Geisterfahrer, der Deutschland an die Wand fährt. Seine Partei, und die Partei der Grünen, sollten ihm ins Lenkrad greifen. Die Neuwahlen müssen früher stattfinden, so früh wie möglich. Gewiss, eine unionsgeführte neue Regierung garantiert nicht die Auferstehung. Aber sie böte eine Chance – die einzige, die verhindern kann, dass der 6. November endgültig als Tag des Zorns in die Geschichtsbücher eingeht.
Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.
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