CDU-Kür: Merz auf dem Vormarsch
Von Günter Müchler

Es gibt gewiss Wichtigeres, als sich schon jetzt über die nächste Bundestagswahl den Kopf zu zerbrechen. Die halbe Legislaturperiode liegt noch vor uns, und der Unwägbarkeiten sind viele.Mögen einzelne Unionspolitiker auch öffentlich vorgezogene Neuwahlen verlangen: Dass es dazu kommt, ist noch unwahrscheinlicher als dass die deutsche Fußballnationalmannschaft Europameister wird. Auf einem anderen Blatt steht die Klärung bestimmter Fragen, welche die größte Oppositionspartei schon aufgrund des komplizierten Binnenverhältnisses von CDU und CSU rechtzeitig vornehmen muss, will sie nicht in die Wahlauseinandersetzung hineinstolpern. Klärungsbedürftig ist an erster Stelle das Problem der Kanzlerkandidatur. Friedrich Merz ist gerade dabei, eine Lösung in seinem Sinn voranzutreiben.
Für den Sauerländer läuft es momentan nicht schlecht. Beim letzten „Deutschlandtrend“ konnte er seine Position deutlich verbessern. Während mit Olaf Scholz nur 20 Prozent der Wahlbürger zufrieden sind – ein absoluter Tiefstand – sind es mit Friedrich Merz 32 Prozent. Das ist wahrhaftig nicht die Welt. Doch nach langer Durststrecke befindet sich Merz auf dem Vormarsch. Hinter Boris Pistorius und Annalena Baerbock rangiert er mittlerweile auf Rang drei der Beliebtheitsskala. Auch mit der Partei geht es allmählich bergauf. Im „Deutschlandtrend“ lag die Union zuletzt bei 32 Prozent, praktisch gleichauf mit den Dreien von der Ampel – SPD, Grüne und FDP – zusammengenommen.
Wenn keiner mehr die Ampel will, warum dann nicht neu wählen? Es gehört zu den Paradoxien der repräsentativen Demokratie, dass den Bürgern eine Regierung nicht nur dann lange erhalten bleibt, wenn sie gut ist, sondern auch dann, wenn sie besonders schlecht ist. Keine der drei Koalitionsparteien hat von Neuwahlen anderes als ein Scherbengericht zu erwarten. Verbunden in Todesangst werden sie schon deshalb versuchen, die Wahlperiode durchzustehen, bis zuletzt.
Das weiß auch Friedrich Merz. Er weiß zudem, dass es einer Opposition nie gut bekommt, wenn sie sich wie eine Regierung im Wartestand gebärdet. Die Exekutive wirkungsvoll zu kontrollieren und mit besseren Vorschlägen für die Zukunft des Landes zu glänzen, heißt nicht, Politik im Schlafwagenstil zu betreiben. Es ist einfach der beste Weg zurück in die Regierungsverantwortung.
Ein Indiz für Merz‘ abwartende Haltung ist sein Umgang mit der FDP. Anfang der achtziger Jahre, in der Abendsonne der Regierung Helmut Schmidt, forderten führende Christdemokraten von den Liberalen alle drei Tage, endlich zu „springen“, d.h. die Koalition mit der SPD zu verlassen. Von Merz war eine solche Forderung bislang nicht zu hören. Dabei ist die Unruhe im Lager der Freien Demokraten kein Geheimnis. Für die Hälfte der Mitglieder ist das Berliner Regierungsbündnis, das vor zwei Jahren als „Fortschrittskoalition“ wahrgenommen werden wollte, längst zur babylonischen Gefangenschaft geworden. Aber Merz drängt sich als Fluchthelfer nicht auf. Dabei bleibt für ihn die FDP Wunschpartnerin. Bloß dümpelt sie im Moment mehr unterhalb als oberhalb der Fünf-Prozent-Hürde herum. Sie hat zu wenig zu bieten.
Außerdem ist die Zeit noch nicht reif. Im Juni steht zunächst die Wahl zum Europaparlament an. Es folgen drei Landtagswahlen in Ostdeutschland. Das sind vier Wettbewerbe mit Wegweiser-Funktion. Sie werden offenbaren, erstens, ob noch Leben in der Ampel ist, zweitens ob die von Merz mit Umsicht vorangetriebene konservative Neuausrichtung der CDU weiter Früchte trägt. Schneiden die Christdemokraten zufriedenstellend ab, wird die Kür des Kanzlerkandidatur im Herbst nur noch Formsache sein.
Merz hat Luft nach oben. Dass er sie braucht, werden auch die glühendsten Anhänger nicht bestreiten. Seine Anfänge waren nicht immer glücklich. In der Partei Fuß zu fassen, fiel ihm schwerer als die Ausfüllung der Rolle des Oppositionsführers im Parlament. Im Wege stand ihm die Vorgängerin. Angela Merkel war immer virtuos darin, auch ohne Worte ihr Missfallen deutlich zu machen. Und Friedrich Merz mochte sie nie. Als Erblast hinterließ sie die ungelöste Nachfolge. Ihr Versuch, Annegret Kramp-Karrenbauer als „die Frau danach“ aufzubauen, scheiterte. Armin Laschet konnte die Lücke nicht füllen. Als Merz dann schließlich zum CDU-Vorsitzendn gewählt wurde, musste er seine Autorität erst gegen die vielen „Merkelianer“ im Parteiapparat durchsetzen. Ein unsicherer Kantonist ist nach wie vor Markus Söder, der Unberechenbare. Im Auge behalten muss Merz außerdem die CDU-Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, Hendrik Wüst und Daniel Günther. Ob sie, die beide mit beachtlichen Wahlerfolgen in ihren Ländern für sich punkten konnten, zu Mitspielern des CDU-Chefs werden oder Zaungäste bleiben, wird sich bei den vier „Vorwahlen“ des neuen Jahres entscheiden.
Ein guter Schachzug von Merz war der Wechsel des Generalsekretärs. Seit er im Amt ist, hat Carsten Linnemann gute Arbeit geleistet. Der Entwurf des neuen Grundsatzprogramms ist für das Genre erfreulich wenig verschwurbelt. Der Entwurf restauriert konservative Positionen, die unter Merkel geschleift worden waren, ohne die Offenheit für neue Einsichten, die den Konservatismus stets ausgezeichnet hat, zu verbauen. Die AfD wird die erneuerte CDU nicht halbieren. Fürs Erste wäre es ein Fortschritt, gelänge es, das Wachstum der Rechtsaußenpartei zu stoppen. Der irrlichternde ehemalige Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen dürfte dabei wenig helfen. Dessen, von ihm selbst angekündigte, neue Partei, kommt sie denn überhaupt zustande, wird als Machtphantasie eines Frustrierten kaum Bestand haben.
2025 wird Friedrich Merz 70 Jahre alt sein. Er hat viel Geld verdient in seinem Berufsleben, besitzt sogar einen Privatjet. Und weil er außerdem keine Frau ist, scheint er alle Eigenschaften zu verkörpern, mit denen nach den Maßstäben des „woken“ Zeitgeistes kein Staat zu machen ist. Auch in der Union gibt es ein Untergrundraunen, das mit dem Altersargument hantiert. Merz hat den Stier bei den Hörnern gepackt. In einem Interview kurz vor dem Jahreswechsel äußerte er, gemünzt auf die Konstellation in den USA, wo demnächst wohl ein 81jähriger Titelverteidiger einem 77jährigen Herausforderer gegenüberstehen wird, man dürfe es nicht für selbstverständlich nehmen, „dass man in diesem Alter ein solches Amt noch wirklich ausfüllen kann“.
Es war klug, das Thema zu besetzen, ehe es sich als Schreckgeschichte vom „alten weißen Mann“ verselbstständigt. Merz ist nicht 81 wie Jo Biden, und verglichen mit Olaf Scholz, der 2025 sein Widerpart sein wird, falls die SPD dies zulässt, wirkt der Sauerländer wie ein austrainierter Sportler. Sowieso existiert der „alte weiße Mann“ nur in den Köpfen chronisch erregter Feministinnen. Im CDU-internen Konkurrenzkampf fand Merz seine hauptsächlichen Hilfstruppen nicht in der Senioren-Union, sondern bei den jungen Frauen und Männern der Nachwuchsvereinigung.
Ein „alter weißer Mann“ wie er im Buche steht war übrigens Konrad Adenauer, als er 1949 mit 73 Jahren zum ersten deutschen Bundeskanzler gewählt wurde. 73 war damals deutlich älter als heute. Man memoriert mit Vergnügen, wie Adenauer bei der sogenannten „Rhöndorfer Konferenz“ vom 21. August 1949 Altersskeptiker in seiner Partei, die es durchaus gab, ruhigstellte. Statt sich künstlich jünger zu machen, trumpfte Adenauer mit seinem Lebensalter auf. Sein Hausarzt, Professor Martini, gebe ihm noch „ein bis zwei Jährchen“, vertraute er den Konferenzteilnehmern an, die nunmehr wähnten, ihre Zeit werde kommen. Sie hoben „den Alten“ auf den Schild, der wurde Bundeskanzler – und blieb es 14 Jahre lang.
Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.