Günter Müchler

von Günter Müchler

Die Sicherung der Landesverteidigung gehört zu den großen Bewährungsproben, die die Regierung Merz zu bestehen haben wird. Am Geld wird es nicht scheitern. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hatte die Vorgängerregierung mit dem Aufbau eines Sondervermögens für die Bundeswehr die Signale bereits auf grün gestellt. Den zweiten Schritt tat der alte Bundestag, indem er kurz vor dem Auseinandergehen das Grundgesetz änderte und die Schuldenbremse für Verteidigungszwecke lockerte. Aber mit Geld sind nicht alle Wunden zu heilen, die die vielen Jahren friedenspolitischer Träumerei hinterlassen haben. Was aussteht, ist ungleich schwerer als der Gang zu den Finanzmärkten. Merz und seine Koalition müssen die Bürger von Sinn und Nutzen der Abschreckung zu überzeugen. Das erfordert langen Atem.

Mit der Ausrufung der Zeitenwende 2022 wurde vom damaligen Bundeskanzler Olaf Scholz eine wichtige Markierung gesetzt. Die größere Übung wird sein¸ die Zeitenwende in ihrer ganzen Breite auszubuchstabieren und für das Erforderliche Zustimmung zu gewinnen. Die Widerstände sind absehbar. Pazifistische Einstellungen sind in Deutschland verbreiteter als die überschaubaren Teilnehmerzahlen an Ostermärschen vermuten lassen. Sie reichen hinein in Gewerkschaften und Kirchen und würden den vorpolitischen Raum mit seiner Unzahl von Nichtregierungsorganisationen noch stärker dominieren, hätten nicht die Grünen unter Habeck und Baerbock einen bemerkenswerten realpolitischen Schwenk vollzogen. Wie sich die Nach-Habeck-Grünen sortieren, bleibt abzuwarten.

Als parlamentarische Vorhut des Pazifismus versteht sich die Partei Die Linke. Sie fischt momentan nicht ohne Erfolg im Reservoir junger Wähler, und „Friedenspolitik“ ist dabei einer ihrer Köder. Widersprüche werden in Kauf genommen. Einerseits geißelt die Linke, nachdem sie der Rücksichtnahme auf die Putin-Versteherin Wagenknecht ledig ist, zwar verbal den russischen Angriffskrieg. Sie sagt allerdings nicht, wie dem Landraub entgegengetreten werden soll, auf keinen Fall durch erhöhte Verteidigungsanstrengungen. Vielmehr will sie den Militärhaushalt zusammenstreichen. Die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen in Europa kommt für sie ebenso wenig infrage wie die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Das Ziel ist Abrüstung. Sie soll durch die Verstaatlichung der Rüstungsindustrie erreicht werden. Die russische Rüstungsindustrie kann damit nicht gemeint sein, wie überhaupt das „friedenspolitische“ Programm der Linken den Geist der Einseitigkeit atmet. Putin könnte es ohne Abstriche unterschreiben.

Der Pazifismus ist seit eh und je umstritten, an sich aber eine durchaus ehrbare Haltung. Zahlreiche Persönlichkeiten, die sich als Pazifisten bezeichneten, haben Namen, die noch heute mit großem Respekt genannt werden. Die Tragik des Pazifismus besteht darin, dass er häufig begünstigt, was er ausmerzen will: die Kriegstreiberei. Es ist nun einmal so, dass nicht alle Menschen friedfertig sind und machtleere Räume Aggressoren anziehen wie das Aas die Fliegen. Die Geschichte kennt dafür viele Beispiele. Am Ende des Dreißigjährigen Krieges war das Heilige Römische Reich nicht mehr imstande, sich zu verteidigen. Das erlaubte Ludwig XIV., sich das Elsaß anzueignen und weite Teile Süddeutschlands straflos zu verheeren. Nach dem Ersten Weltkrieg vernachlässigten Frankreich und Großbritannien ihre Verteidigungsanstrengungen. Auf der Gegenseite rüstete Hitler, einmal zur Macht gekommen, massiv auf. Die Folge war, dass Nazi-Deutschland sich Österreich aneignen und die Tschechei zerschlagen konnte, ohne dass ihm die Westmächte ernstlich in den Weg traten. „München“ wurde zum Synonym für die Begünstigung des Bösen durch die Selbstschwächung des Guten.

Charakteristisch für pazifistische Politik ist das Kleinreden der Gefahr. Chamberlain und Daladier suggerierten Briten und Franzosen, Hitler werde es schon nicht zum Äußersten treiben. Eine realistischere Ansprache hätte ihrer „Friedenspolitik“ die Grundlage entzogen. Dasselbe Ablaufmuster von Zurückweichen und Verharmlosung kennzeichnete die Diskussionen in der Bundesrepublik der achtziger Jahre. Die Entspannungspolitik war im Grunde vernünftig. Zur Falle drohte sie zu werden, als ihre Exponenten vergaßen, dass es die erfolgreiche Abschreckungspolitik des Westens gewesen war, die die Entspannung erst ermöglichte. Sie gingen dazu über, die moskowiter Dunkelmänner und ihre Vasallen in den übrigen Blockstaaten als Biederleute darzustellen. 1981 traf Willy Brandt Leonid Breschnew im Kreml. Nach seiner Rückkehr zitierte „Der Spiegel“ ihn mit dem Satz“: Breschnew zittert um den Frieden“. Erhard Eppler brachte von einem Besuch Nordkoreas überschwängliche Berichte mit, die dem trostlosen Reich des Diktators Kim Il-sung die Qualität eines künftigen Paradieses bescheinigten. Ähnliche Paradiese entstanden angeblich in Kuba, China und Kambodscha und überall, wo sozialistisch experimentiert wurde. Im Oktober 1983 war der Bonner Hofgarten Schauplatz eines riesigen Happenings. Hunderttausende verlangten den Verzicht auf die Nachrüstung mit amerikanischen Mittelstreckenraketen. Von einem russischen Verzicht auf die SS-20 war nicht die Rede.

Bekanntlich hat sich keines der sozialistischen Versuchslabore, denen sich das ewige Utopiebedürfnis der Linken hingebungsvoll zuwandte, in ein Paradies verwandelt. Am Ende war es das Kernland der kommunistischen Weltrevolution selbst, die Sowjetunion, die implodierte – nicht weil im Kreml die Saat des Pazifismus plötzlich aufgegangen wäre. Das System war einfach bankrott. Dazu beigetragen hatte die westliche Abschreckungspolitik. Jahrzehntelang war das Gleichgewicht des Schreckens ein Balanceakt auf der Rasierklinge gewesen und doch von einer bezwingenden Rationalität. Unfallfrei überstand es zahllose Gefahrenmomente, darunter den Mauerbau und die Kuba-Krise.

Man kann nicht behaupten, dass die Lektion gelernt worden wäre. Rasch wurde der Erfolg, der durch Abschreckung erzielt worden war, vergessen. Bis heute glauben Pazifisten, die Sowjetunion sei durch westliche „Friedenspolitik“ in die Knie gegangen. Getragen von dieser schönen, aber falschen Erzählung konnte Wladimir Putin unangestrengt seinen neoimperialistischen Feldzug beginnen. Tschetschenien, Georgien, die Krim: Die Alarmglocken hätten viel früher geläutet werden müssen. Als 2022 die Zeitenwende ausgerufen wurde, hatte Putin hinreichend vorgeführt, was das Recht des Stärkeren meint. Er konnte es praktizieren, ohne dabei gestört zu werden.

Das Recht des Stärkeren hat mit dem uns geläufigen Recht im Vertragssinne nicht das Geringste zu tun. Es folgt der darwinistischen Vorstellung, dass das Schwache dem Kräftigen Platz zu machen hat und dafür noch dankbar sein muss. Die klassische Darstellung dieser Denkweise hat der altgriechische Historiker Thukydides geliefert. In seinem „Peloponnesischen Krieg“ schildert er, wie die Feldherren der attischen Flotte den Bewohnern der kleinen Insel Melos weiszumachen versuchten, dass ihre widerstandslose Unterwerfung für sie ein großer „Deal“ wäre. Thukydides hält es für wichtig zu erwähnen, die Athener hätten ausdrücklich auf „schöne Worte“ verzichtet. Das heißt, sie bemühten sich gar nicht, ihr Unterwerfungsverlangen dadurch zu verbrämen, dass sie irgendein Recht geltend machten. „Wir wissen doch beide nur zu gut“, sagt der Sprecher der Athener oberlehrerhaft zu den Meliern, „dass es bei Verhandlungen unter Menschen nur dann Gerechtigkeit gibt, wenn beide unter dem gleichen Zwange stehen, dass dagegen die Überlegenen unternehmen, was möglich ist, und die Schwachen es ihnen zugestehen“. Und fügte hinzu: „Den richtigen Weg geht derjenige, der Ebenbürtigen nicht weicht, Stärkeren gebührend entgegenkommt, Schwächeren Mäßigung zeigt“. Die Melier wollten sich dieser Kasuistik nicht beugen, lieber gingen sie in eine Partie, die kaum gut ausgehen konnte. Nach der Eroberung der Insel töteten die Athener alle erwachsenen Männer, Kinder und Frauen machten sie zu Sklaven. Was droht den Ukrainern, wenn der Westen sie im Stich lässt und die Russen ihr Land unterworfen haben?

Putin kennt den Westen. Er hält ihn für grundsätzlich dekadent. Ihm spielt in die Karten, dass es demokratischen Staaten nach aller Erfahrung schwerfällt, sich konsequent auf den Ernstfall vorzubereiten. Gut an kommen in der Öffentlichkeit abwiegelnde Stimmen, die Ruhe zur ersten Bürgerpflicht erklären oder vor „Säbelrasseln“ warnen (so der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier noch 2016, nach der russischen Annexion der Krim). Wer möchte schon gegen Frieden sein? Genauso wenig möchte man, wenn es hart auf hart kommt, Opfer bringen. Auf das Zusammenwirken von Bequemlichkeit und pazifistischer Doktrin setzte Olaf Scholz, als er in der finalen Wahlkampfphase schwor, mit ihm werde es keine Sozialkürzungen zugunsten von Rüstungsausgaben geben. Weniger Rente wegen der Ukraine? „Mourir pour Dantzig?“ („Sterben für Danzig?“) wollten 1939 nur die wenigsten Franzosen und ließen Hitler beim Überfall auf Polen freie Hand.

Mit Gegenwind muss die neue Bundesregierung rechnen, wenn es ihr mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht Ernst ist. Die Mehrheit der Bevölkerung hat für das Projekt keine Sympathie. Bei einer aktuellen Untersuchung des Allensbach-Instituts antworteten auf die Frage „Sind Sie dafür, die Wehrpflicht wieder einzuführen, oder sind Sie gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht?“ 45 Prozent mit Nein, nur 32 Prozent sprachen sich dafür aus. Auch in er Koalition gehen die Meinungen auseinander. In ihrem Wahlprogramm befürwortete die CDU die „aufwachsende Wehrpflicht“, also die Wiedereinführung in kleinen Schritten. Dagegen stand im Wahlprogramm der SPD zu lesen: „Der neue Wehrdienst soll auf Freiwilligkeit basieren“. Im Koalitionsvertrag heißt es auf Seite 130 ebenso salomonisch wie unbestimmt: „Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert.“

Am Fortgang der Wehrpflicht-Debatte dürfte sich zeigen, wozu die schwarz-rote Koalition willens ist, und was sie sich und den Bürgern zutraut. Nur glaubhafte Abschreckung verhindert das Faustrecht. Davon muss sie die Bevölkerung überzeugen – und zuerst sich selbst. Leicht wird das nicht sein. Aber es war auch nicht leicht für die Finnen und die Schweden, mit ihrer alten neutralistischen Politik zu brechen. Trotzdem sind sie der Nato beigetreten. Auch den Briten fällt es nicht leicht, sich zehn Jahre nach dem Brexit Europa sicherheitspolitisch zu verbinden. Sie tun es trotzdem. So geht nämlich Zeitenwende.

 

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