„Graswurzel“-Demokratie

Autor Dieter Weirich

Man braucht kein Prophet zu sein, um für die hessischen Kommunalwahlen am kommenden Sonntag einen Briefwahl-Boom zu erwarten. Viele werden sich angesichts von Corona den Gang ins Wahllokal sparen, wo sie mit Maske geschützt und mit einem eigenen Stift für die Wahl ausgestattet sein müssen. Die Abstimmung per Brief – bei ihrer Einführung als Ausnahme für Urlauber, Geschäftsreisende, ältere oder behinderte Mitmenschen gedacht – wird ohnehin immer populärer. Schon vor Corona hatten bei der vergangenen Landtagswahl 23 Prozent per Brief gewählt, bei der Bundestagswahl 2017 gab es mit 28,6 Prozent sogar einen Höchstwert.

Viele Mitbürger ächzen bei der Bewältigung der Zettelwirtschaft. So gilt es, Kreistagsabgeordnete, Stadtverordnete, Gemeindevertreter, Ortsbeiräte, Mitglieder von Kammern für Planungsverbände wie in Frankfurt zu wählen. Hinzu kommt die Bestallung von Ausländerbeiräten und in einer Anzahl von Städten wie in Hanau oder Gemeinden wird auch noch der Oberbürgermeister oder Bürgermeister gewählt.

Kein anderes Bundesland hat sich im Laufe der Jahrzehnte so vehement für die Einführung der direkten Demokratie eingesetzt, wie Hessen. Das „Kumulieren“ erlaubt das Anhäufen von Voten, das „Panaschieren“ gestattet die Abgabe von Stimmen für Kandidaten verschiedener Parteien. Dieses System stärkt die Persönlichkeitswahl, schwächt die von Parteifunktionären erdachten Vorgaben.

Auch sonst sind Besonderheiten im Kommunalwahlrecht zu beachten. Es gibt keine explizite Sperrklausel; wahlberechtigt ist jeder über 18 Jahre alte EU-Bürger, wenn er mindestens drei Monate Wohnsitz an dem Ort nimmt, n dem er seine Stimme abgibt.

Es war ein langer und von dem Wunsch nach Transparenz und Bürgernähe getragener Marathon für die direkte Demokratie in Hessen. Ende der 60-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts musste die im Bund bereits 1957 eingeführte Briefwahl für Hessen erstritten werden. Erst 2008 wurde die Begründungspflicht für Briefwähler abgeschafft.

1993 wurde durch eine Wahlrechtsreform die Direktwahl für Bürgermeister und Landräte beschlossen. Gegner befürchteten den Populismus von „Freibier-Bürgermeisterkandidaten“ im Wahlkampf. Die Sorge war unbegründet.

Hessen orientierte sich bei seiner Liberalisierung am südlichen Nachbarland Baden-Württemberg, dessen erster freidemokratischer Ministerpräsident, Reinhold Maier, der ein Anhänger dieser von ihm als „Graswurzel-Demokratie“ bezeichneten Form der bürgerlichen Mitbestimmung war. Sein Vertrauen in die Urteilskraft der Bürger mündete in ein freiheitliches Wahlrecht.

Direkte Demokratie verlangt allerdings aktive Bürger, die Interesse am Gemeinwesen haben. Das beginnt mit der Teilnahme an der Wahl, dem selbstverständlichsten demokratischen Engagement.

Dieter Weirich (Jg. 1944) war von 1989 bis 2001 Intendant des deutschen Auslandsrundfunks Deutsche Welle. Zuvor gehörte er eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Abgeordneter dem Hessischen Landtag und dem Deutschen Bundestag an, wo er sich als Mediensprecher seiner Partei und als Wegbereiter des Privatfernsehens einen Namen machte. Außerdem nahm er Führungspositionen in der PR-Branche in Hessen wahr. Weirich, der sich selbst “als liberalkonservativen Streiter” sieht, gilt als ebenso unabhängig wie konfliktfreudig.  

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