Putin und sein “Heiliger Krieg”
Von Wolfgang Bergsdorf
Der seit mehr als einem Jahr tobende Angriffskrieg Wladimir Putins gegen die Klein-Russen in der Ukraine fällt in der Prioritätenskala öffentlichler Aufmerksamkeit zurück. Unsere Medienschaffenden scheinen die Überzeugung zu entwickeln, dass dieser Krieg dabei sei, zum gewohnten Zustand der Geopolitik zu werden, dem man nicht mehr umfangreiche Beachtung schenken sollte. Nichts ist so falsch wie diese Annahme. Denn der 100.000-fache Tod auf Seiten der überfallenen Ukrainer, aber auch der russischen Invasoren müsste vorrangiges Thema jeder Massenkommunikation sein. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die russischen Medien diese menschliche Katastrophe vollständig unterschlagen.
Aber auch die systematischen Zerstörungen ukrainischer Städte durch russische Bomben und Raketen und die zahlreichen Kriegsverbrechen zeigen die Verrohung der Aggressoren, von der die Weltöffentlichkeit Kenntnis erhalten muss. Die Flucht vor dem Krieg von 10 Millionen Ukrainern in den Westen des Landes und in die westlichen Nachbarstaaten verlangt nach Solidarität mit den Opfern imperialistischer Politik. Deutschland hat bisher eine Million Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen. Deren vorübergehende Integration in die Gesellschaft ist weitgehend gelungen – besser gelungen jedenfalls als das Zurechtkommen mit dem gleichzeitigen Ansturm von Asylbewerbern aus afrikanischen und asiatischen Ländern.
Der Ukraine-Krieg hat auch tief in die Speichen der deutschen Wirtschaft gegriffen. Die Wachstumsverluste durch gestörte Lieferketten und gestiegene Energiepreise wird für das vergangene Jahr auf 2,5 Prozent geschätzt. Bis zum Jahresende dürfte sich der Wohlstandsverlust aufgrund des Putin-schen Angriffskrieges auf 4 Prozent erhöhen. Für den einzelnen Bundesbürger bedeutet dies nach den Berechnungen der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) ein Minus von 2000 € für 2022. Die deutsche Wirtschaft musste ein kriegsbedingtes Minus von 160 Milliarden € verkraften. Nach einer Studie des Kölner Institutes der deutschen Wirtschaft (IW) hat der Ukraine-Krieg die Weltwirtschaft im abgelaufenen Jahr 1 600 Milliarden US-Dollar gekostet. Für dieses Jahr prognostiziert die gleiche Studie weltweite Produktionsausfälle von weiteren 100 Milliarden Dollar. Der Krieg habe, so die Studie, weltweit zu Produktionsstörungen und Lieferausfällen geführt, die Energiepreise in die Höhe getrieben, die Inflation global gesteigert und so die Konsumkraft des Verbrauchers verringert.
Angesichts der unsicheren Aussichten für die Wirtschaft sowie steigender Finanzierungskosten infolge des weltweit wachsenden Zinsniveaus und der Verteuerung von Investitionsgütern halten sich die Unternehmen rund um den Globus mit Investitionen zurück. Die absoluten Einbußen durch den Krieg könnten 2023 allerdings geringer ausfallen, weil sich die Lage auf den Rohstoff- und Energiemärkten leicht entspannt habe. Aber die Entwicklungs- und Schwellenländer würden mit 40 Prozent des weltweiten Produktionsrückgangs in diesen zwölf Monaten stärker verlieren als im ersten Kriegsjahr.
Überraschend sind diese negativen Folgen des Ukraine-Krieges für die Weltwirtschaft nicht. Denn die Globalisierung der Wirtschaft ist zu weit fortgeschritten, als dass ein Krieg von der Dimension des Überfalls Russlands auf die Ukraine nicht zu weltweiten Wohlstandsverlusten führen müsste. Das gilt natürlich vor allem für das Opfer, für die Ukraine, deren Wirtschaftsleistung um 40 Prozent eingebrochen ist. Das Land hat nicht nur die enormen Zerstörungen durch die russischen Angriffe auf seine Infrastruktur zu verkraften, sondern auch die Behinderung seiner Getreideexporte durch die russische Armee. Das von der Türkei vermittelte Getreideabkommen über so genannte sichere Routen der Frachter im Schwarzen Meer läuft am jetzt aus und wird wohl unter dem Druck der Vereinten Nationen um einige Monate wohl verlängert werden. Die Behinderung des Getreideexportes durch Russland hat freilich weltweit die Zahlen der Unterernährten und Hungernden von 275 Millionen Menschen um weitere 70 Millionen erhöht.
Aber auch der Aggressor Russland erleidet Wohlstandsverluste durch seinen Krieg. Dazu tragen vor allem die westlichen Sanktionen gegen die russische Wirtschaft und die politischen Eliten bei. Im ersten Kriegsjahr hat sich die russische Wirtschaft allerdings als wesentlich resistenter gegen die Sanktionen erwiesen als allgemein erwartet wurde. Putin feiert es schon als Erfolg, dass seine Wirtschaft den Sanktionen getrotzt habe und viele sanktionierte Waren und Ersatzteile auf Umwegen beschaffen konnten. Die Luftfahrt, die Automobilindustrie, die Pharma-Unternehmen und die IT-Branche haben gleichwohl erhebliche Einbußen zu verzeichnen.. Nun hat die EU, zusammen mit den G7-Staaten und Australien, auch noch einen Preisdeckel auf russisches Öl eingeführt. Europäische Versicherer dürfen seit kurzem nur noch Tanker versichern, deren Erdöl für weniger als 60 US-Dollar pro Barrel verkauft wird – ganz gleich in welches Land.
Das Ziel dieser Maßnahme ist es, Russland einen Strich durch die Rechnung zu machen bei der Finanzierung des Krieges: In der ersten Woche nach Einführung des Preisdeckels ist der Export von russischem Öl um fast 50 Prozent eingebrochen. Um Einnahmen beim Öl- und vor allem beim Gasexport zu kompensieren, hat Russland nun eine Spezialsteuer eingeführt. Allein die Ölindustrie soll in diesem Jahr 300 Milliarden Rubel (3,7 Milliarden Euro) als einmalige Sondersteuer für den Staatshaushalt aufbringen. Für ein Regime, wie Putin es sich geformt hat ohne Gewaltenteilung, ohne Opposition, ohne Meinungs- und Pressefreiheit, ohne zivilgesellschaftliche Akteure ist es ein Leichtes, diese Steuer durchzusetzen. Es bedarf hier nur einer einzigen Weisung des Machthabers.
Der gleiche Mann hätte es allerdings auch in der Hand, das von ihm ausgelöste blutige Gemetzel mit einer einzigen Weisung zu beenden. Anders als viele Europäer, die bei Demonstrationen und Manifestationen Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine fordern, denkt der Herrscher im Kreml jedoch nicht einmal im Traum daran, den Krieg zu beenden. Er ist davon überzeugt, bisher alles richtig gemacht zu haben. Gerade hat der Moskauer Soziologe Grigoriy Judin in einem Interview mit dem unabhängigen russisch-sprachigen Portal Medusa drauf aufmerksam gemacht, dass gerade die Geschlossenheit des Westens Putin in der Vorstellung bestärkt habe, die Ukraine sei die Schlüsselregion, von der aus der Westen Russland angreifen wolle.
Im Geschichtsbild des Kreml-Chefs gehört die Ukraine zu Russland. Deshalb verhandelt er nicht mit der Ukraine. Er ist bereit, so viel Blut zu vergießen wie nötig, um sein Kriegsziel – Auslöschung der ukrainischen Staatlichkeit – zu erreichen. Dagegen – so der Soziologe – werde die Allianz, die Kiew gegenwärtig unterstützt, bald zerfallen, um ihre eigenen Ressourcen zu schonen. Judins Hinweise sind nicht zuletzt deshalb ernst zu nehmen, weil er einer der wenigen Experten war, die den Angriffskrieg Putins vorausgesagt hatten. Aus Putins Sicht sei es auch gut, dass die russischen Streitkräfte ihre Schwächen und Defizite zu Beginn des Krieges offenbart habe. Jetzt könne man die Armee rapide vergrößern sowie das Wirtschafts- und Bildungssystem nach militärischen Prioritäten umzubauen für den nach seiner Meinung unvermeidlichen großen Krieg gegen den „Satanismus“ des Westens.
Damit ist vor allem der „Verrat“ des Westens an den Werten des Christentums und der Nation gemeint. Festgemacht wird dies in der russischen Propaganda an der „Ehe für alle“, der Gender-Ideologie und den Gesetzen zur sexuellen Selbstbestimmung ab 14 Jahren. Es geht dem Herrscher im Kreml darum, ein „Fünftes Imperium“ zu errichten, „das in die tausendjährigen Fußstapfen des Kiewer Rus, moskowitischen Zarenreiches, des russländischen Vielvölkerimperiums und des 1991 zerborstenen sowjetischen Megastaates zu treten hat“ – so der Frankfurter Historiker Gerd Koenen. Putins geistlicher Mentor, Vater Tichon, Metropolit von Pskow und Porchow und wie auch sein Patriarch Kyrill früherer Geheimdienstoffizier, hat in dem russischen Präsidenten schon sehr früh den von Gott Gesandten erkannt. Putin sei berufen, die gesamte große russische Welt in „einem spirituellen Raum, der von Kamtschatka bis zu den Karpaten reicht“ wieder zu vereinen. Putin selbst hat dies öffentlich gemacht bei einem Festakt 2015 auf der annektierten Krim, als er den legendären Gründer des Kiewer Reiches, Vladimir den Heiligen, einen ziemlich blutrünstigen Waräger Fürsten, zu seinem persönlichen Vorbild erkor.
Die spirituelle und religiöse Überhöhung der Ziele des russischen Angriffskrieges lassen es daher kaum erwarten, dass Putin den Befehl zum Waffenstillstand gibt. Er hat seine politische Zukunft und sein historisches Erbe mit dem Kriegserfolg verbunden. Deshalb spricht vor allem dies für die Annahme, dass mit einen baldigen Ende der Kampfhandlungen nicht zu rechnen ist. Wir werden also in den Medien weiterhin immer wieder sinnlose, aber blutige Bilder der Vernichtung ukrainischen Lebens sehen, die von einer ruchlosen russischen Armee angerichtet werden. In diesen Tagen ist es der Mangel an Munition, der auf beiden Seiten die Heftigkeit des gegenseitigen Beschlusses etwas abflauen lässt. Die Ukraine wie Russland bereiten sich auf Frühjahrsoffensiven vor. Die Ukraine kann dafür auf westliche Panzer hoffen, deren Besatzung in den vergangenen Wochen in Deutschland oder Polen ausgebildet wurden.
Die Russen kommen mit Panzern und selbstfahrenden Geschützen aus eigener Produktion. Deren Zahl dürfte vermutlich von der Präzisionsmunition der ukrainischen Panzer spürbar dezimiert werden. Nicht wenige westliche Beobachter beurteilen den strategischen Nachteil Russlands von Tag zu Tag als größer. Manche behaupten sogar, die strategische Niederlage Russlands sei keine Frage des Ob, sondern nur noch eine des Wann. Einige der militärischen Experten glauben deshalb, dass der Krieg im Oktober vorbei sei. Dagegen spricht freilich die Überzeugung des Herrschers im Kreml, dass dieser Krieg nur ein Vorspiel der wirklichen, großen Auseinandersetzung zwischen dem „satanischen Westen“ und dem „Heiligen Russland“ sei. Weder im Westen noch in Russland weiß jemand genau, wie sich der gerade wiedergewählte chinesische Präsident Xi zu dieser Frage einlässt. Von ihm ist nur bekannt, dass er vor einem russischen Atomwaffeneinsatz eine rote Linie gezogen hat.
Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinet“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt. Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.