Das Kesselinger Tal – ein Stück katholisches Ostpreußen in der Eifel angesiedelt

Von Gisbert Kuhn

Blick über Kesseling ins Kesselinger Tal ©seppspiegl

Die Ahr, im Eifel-Städtchen Blankenheim entspringend, ist ein linker Nebenfluss des Rheins. Die steilen Hänge an den Ufern mit ihren von der Sonne erwärmten Schieferböden beherbergen das kleinste Weinanbaugebiet Deutschlands und lassen hervorragende Rotweine reifen – vor allem die Sorten Früh- und Spätburgunder. Nur wenige Kilometer von dem nicht zuletzt bei Ausflüglern beliebten Örtchen Altenahr entfernt flussaufwärts Richtung Adenau zeigt am Ortsende der Gemeinde Ahrbrück ein Wegweiser links nach „Kesseling“. Er markiert den Eingang in ein nahezu verstecktes, malerisches, etwa 15 Kilometer langes Seitental. Ein kurvenreich durch die Landschaft mäanderndes Bächlein plätschert munter durch grüne Weideflächen und blumenbunte Heu-Wiesen. Hie und da ein kleines, blitzsauberes Dörfchen und – nicht zu übersehen – höchst stattliche Bauernhöfe mit erkennbar hohem Viehbestand. Das Ganze ist links und rechts eingerahmt von steilen, bis auf rund 600 Höhenmeter reichenden, felsigen Berghängen. Kurz – es ist einfach schön, durch das Kesselinger Tal zu fahren oder zu wandern; fast schon eine Idylle.

Ohne Habe und ohne Hoffnung

Neu entstehende Häuser in Oberheckenbach, 1950

Welch ein Unterschied zu jenem 13. April 1950, als in dem damals noch auf den Namen Brück/Ahr lautenden Bahnhof ein Sonderzug mit 65 Familien an Bord einlief. Auf den angehängten 22 Wagen verstaut zudem 12 Pferde, allerlei kleiner Hausrat, Brennmaterial und ein paar alte landwirtschaftliche Geräte. Es waren Menschen aus Ostpreußen. Genauer gesagt: Aus dem Ermland, dem an das Frische Haff stoßenden, katholisch gebliebenen, Teil im äußersten Nordosten des einstigen Deutschen Reichs. Sie waren,  nur mit dem Allernötigsten versehen, im Winter 1945 vor der heran nahenden Roten Armee geflüchtet, von dieser trotzdem mitunter überrollt worden und nach unsäglichen Strapazen und nicht selten grässlichen Erlebnissen zumeist in Schleswig-Holstein oder Niedersachsen gelandet. Zusammen mit vielen tausenden Landsleuten, die ähnliche Schicksale hinter sich hatten und nun – bei dortigen Bauern oder in großen Lagern notdürftig untergebracht – hilflos, nahezu ohne Habe, orientierungslos und entsprechend hoffnungslos einer ungewissen Zukunft im zerstörten Nachkriegsdeutschland entgegenblickten.

Zur selben Zeit war einige hundert Kilometer weiter südlich, im neu gebildeten Bundesland Rheinland-Pfalz, ein einzigartiges Siedlungsprojekt ausgearbeitet worden. Genauer gesagt, ein Plan zur Wiederansiedlung. Im Zentrum dabei stand exakt jenes kleine Seitental in der Eifel; ein rund 10 000 Hektar umfassendes Gelände. Gegen Ende der 30-er Jahre hatte Hermann Göring das dünn besiedelte Gebiet unweit des Nürburgrings als Übungsareal für seine Luftwaffe beansprucht. Deswegen mussten von 1937 bis 1939 vierhundert Familien mit 2400 Menschen samt ihrem Vieh und anderem Besitz das Tal verlassen. 13 000 Reichsmark hatte die „Reichsumsiedlungsgesellschaft“ seinerzeit an Entschädigung dafür gezahlt. Damit waren 11 Dörfer und Weiler der Zerstörung und dem Verfall preisgegeben.

Ein einmaliges Projekt

Hettier de Boislambert

Nach dem Krieg, genau am 13. November 1946, gab der damalige französische Generalgouverneur des neu geschaffenen Bundeslandes Rheinland-Pfalz, Hettier de Boislambert, die von ihm zuvor als privates Jagdgebiet genutzte Talschaft zur landwirtschaftlichen Neuerschließung frei. Das war praktisch der Startschuss für eine ebenso abenteuerliche wie für die deutsche Nachkriegszeit zugleich einmalige  Unternehmung – nämlich die größte, und zwar landsmannschaftlich geschlossene, Ansiedlung von heimatvertriebenen Bauern aus dem Osten in der neuen Heimat.

Wenn Artur Marienfeld und seine Frau Brigitta heute in Oberheckenbach in alten Fotoalben blättern, werden viele Erinnerungen wach. Das Ehepaar (beide Jahrgang 1942) gehört zu den wenigen noch lebenden Zeitzeugen aus den Pionierjahren in der Eifel. Was bei der Flucht aus Ostpreußen geschah und die Überlebenskämpfe in den ersten Nachkriegszeiten, kennen sie aus den Erzählungen der „Alten“. Umso präsenter sind dafür die Aufbaujahre, sind die Erinnerungen an die Mühen der Siedler, um den versteppten, verginsterten und verbuschten Boden wieder in bäuerliches Kulturland zu verwandeln. Artur Marienfeld war mit seiner Familie erst 1953, nach einem Umweg über Niedersachsen und die Pfalz, als 12-Jähriger ins Kesselinger Tal gekommen. Aber natürlich wissen er und seine (selbstverständlich ebenfalls aus dem Ermland stammende Frau) um die Geschichten aus der „Gründerzeit“.

Zufall auf dem Katholikentag

Artur Marienfeld und seine Frau Brigitta mit einem “Schwedenhaus” im Hintergrund.

 Auf dem Deutschen Katholikentag 1949 in Bochum hatte durch Zufall Pfarrer Johannes Preuß, der Caritas-Direktor von Schleswig-Holstein – logisch: auch er ein Ermländer -, von dem Projekt in der Eifel erfahren und sofort Verhandlungen mit den zuständigen Behörden in Rheinland-Pfalz aufgenommen. Und bereits im darauffolgenden Februar reiste eine Delegation von grundsätzlich  siedlungswilligen Bauern aus Schleswig-Holstein zur Vorbesichtigung des Geländes an die Ahr. Deren Eindrücke müssen allerdings niederschmetternd gewesen sein. Man war in der alten Heimat flaches, allenfalls hügeliges Land gewöhnt, das weite Ausblicke gewährte. Hier, dagegen, war das Tal beengt, gab es steile Berge und steinige Böden.

Was würde man den gespannt wartenden Landsleuten in Schleswig-Holstein und Niedersachsen berichten können. Ein Teilnehmer beschrieb die damals in der Besichtigungsgruppe vorherrschende Stimmung später so: „Ich muss schon sagen, dass die Kommission vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens stand, ob man auf dem vorgesehenen Gelände siedeln sollte, oder nicht. Die Berge flößten uns Menschen aus dem Flachland Schrecken ein. Aus dem Rundfunk erfuhren wir zudem, dass der Luftwaffenübungsplatz schon vor der Aussiedlung Notstandsgebiet gewesen sei. Trotz der Berge, der sehr geringen Erträge des Bodens und der ungeheuer niedrigen Milchleistung der Kühe entschlossen wir uns im Hinblick auf die drückende Notlage unserer Landsleute, die geradezu nach Land schrien, das Gebiet zu besiedeln“. Oder richtiger: Eine entsprechende Empfehlung zu geben.

Ohne jede Beschönigung

Auf einer stark besuchten Versammlung in Neumünster erstattete die Vorausabteilung schließlich Bericht. Weiter im Originalton: „Wir beschrieben den Zustand des Landes und dessen Erträge. Ohne etwas zu beschönigen. Ja, wir versuchten sogar, es noch schlechter darzustellen, als es war, damit später niemand enttäuscht sein würde“. Ungeachtet dessen meldeten sich sofort so viele Interessenten, dass nur etwa die Hälfte berücksichtigt werden konnte. Trotzdem – als am 3. April 1950 der Transport mit den 56 Familien und ihren in 22 Waggons verstauten Habseligkeiten in Brück/Ahr eintraf, herrschte alles andere als Fröhlichkeit. Männer fragten entsetzt: „Um Himmels Willen, so sind wir hier? Wo habt ihr uns nur hingeführt?“ Und viele Frauen hatten das Gefühl, von den steilen Bergen erdrückt zu werden.

Blick ins Kesselinger Tal mit den saftigen Wiesen ©seppspiegl

Für die Nachgeborenen ist es schwer, vielleicht sogar unmöglich, sich in die damalige Situation zu versetzen. Auch, und möglicherweise sogar gerade wegen der persönlichen Erlebnisse während des Massenzustroms von Kriegsflüchtlingen 2015 aus dem Nahen Osten. Alles war damals völlig anders. Auch das Umfeld. Auch die privaten und öffentlichen Hilfen. Ja, es gab für die Siedler geringe staatliche Unterstützungen, Kredite mit niedrigen Zinsen und langer Laufzeit, dazu Gelder aus dem Lastenausgleich, Saatgetreide und Dünger. Mitunter sogar laut bejubelte Überraschungen. 1951, zum Beispiel, erreichte ein Transport mit 70 Jersey-Kühen und zwei Bullen den Bahnhof in Brück an der Ahr. Christliche Vereinigungen in den USA hatten dort von der Not des vertriebenen emsländischen Landvolks gehört und beschlossen, den Flüchtlingssiedlern den Anfang zu erleichtern. Die kleine amerikanische Rinderrasse scheint sich in der Eifel wohlgefühlt zu haben; jedenfalls spricht man noch heute mit Hochachtung von den Tieren und ihrer Milchleistung.  Oder die unerwartete Spende aus Schweden – zahlreiche der in dem skandinavischen Land typischen Holzhäuser.

Rodung nur mit den Händen

Das alles half, ohne Zweifel. Aber es bewahrte die Siedler nicht vor wahrer Fronarbeit. Das Tal musste vollständig praktisch allein mit der Hand gerodet werden. Mehr noch, die anfallenden Tätigkeiten dienten ja nicht allein der Zukunft, sondern hatten auch das tägliche Überleben zu sichern. Rodung, Wegebau, Ausschachten von Kellern und Jauchegruben, Trockenlegung von Nasswiesen, Bau von Wasserleitungen, Kultivierung der gerodeten Flächen und Beseitigung der Ruinen früherer Häuser, deren Steine als Fundamente für die neuen Heimstätten dienten. Die Arbeiten wurden zumeist im Akkord ausgeführt, weil das – erstens – mehr Geld einbrachte und – zweitens – dazu führte, dass die ersten Siedler schon am 17. November 1950 einziehen konnten.

Der ermländische Reiterverein 1951-53

Sie haben viel erreicht. Mit Muskelkraft, aber auch Ideen-Reichtum. Mit Gemeinsinn und Genossenschaftsgeist. Und mit Modernisierungen, auch wenn diese lang bewahrte und liebgewonnene Traditionen verdrängten. So existierte zwischen 1951 und 1953 einmal ein stolzer Reiterverein im Tal. Schließlich kam man doch aus dem Land der berühmten, edlen Trakehner. Doch dann ersetzte allmählich der Traktor das Pferd und mit diesem die Reiter. Auch das einstige Gasthaus, der “Ermländer Hof” im Dörfchen Cassel am Ende des Tales, existiert nicht mehr.

Erinnerungen in Fotoalben

Artur Marienfeld hatte 1967, wie er sagt, in die Familie seiner Frau Christine „eingeheiratet“. Heute muss man schon sehr genau hinschauen, um auf dem Hof noch Spuren aus der Aufbauzeit zu entdecken. Zum Beispiel das „Schwedenhaus“, das natürlich seither zahlreiche An- und Ausbauten erfuhr. Jetzt wohnt der Sohn der Marienfelds samt Familie darin. Der Betrieb wurde ihnen von den Eltern überschrieben. Sie betreiben erfolgreich Rinderzucht und Milchwirtschaft und nennen etwa 600 Stück Vieh ihr Eigen. Vater und Mutter haben sich gleich nebenan ein eigenes schmuckes Haus gebaut. Das Wohnzimmer erlaubt einen freien Blick hinaus in die Natur, die Fotos mit all den Erinnerungen an die alte, die sprichwörtliche „Kalte Heimat“ stehen in den Regalen hinten an der Rückwand.

Ermland im Königreich Preußen

Aber, auch diese Überraschung halten der Besuch auf dem Hof in Oberheckenbach und die Gespräche parat: Mehr als sieben Jahrzehnte nach Flucht, Verzweiflung und Neuanfang gibt es für die Ermländer im Kesselinger Tal nicht mehr bloß ein „Damals“ und ein „Heute“. Längst hat sich in dem Leben so etwas wie ein „Dazwischen“ eingebürgert. Nämlich eine Brücke, die “einst” mit “jetzt” verbindet. Erst waren es nur vereinzelte Besuche aus der Eifel „daheim“ in Masuren (aus dem Ermland kamen zum Beispiel auch der langjährige Bundestagsabgeordnete und CDU-Vorsitzende Rainer Barzel und der SPD-Politiker Hans-Jürgen „Ben Wisch“ Wischnewski), mittlerweile gibt es einen regen Austausch zwischen den „alten“ und den „neuen“ Ostpreußen. Natürlich mit fröhlichen Festen. Man hat Freundschaft geschlossen.

Ein Gedanke an Rückkehr

„Sie mögen es glauben oder nicht“, sagt Artur Marienfeld unvermittelt, „ich habe mir tatsächlich ernsthaft überlegt, ob wir nicht zurückgehen sollten. Das war vor etwa 20 Jahren. Die polnischen Freunde hatten mir sogar versprochen, dass wir einen besonders guten Hof bekämen. Meine Frau wäre mitgegangen…“ Und woran hat es gelegen? „Ich habe natürlich auch meinen Sohn gefragt. Und der sagte: ´Was soll ich im Ermland? Ich bin hier zuhause. Das ist meine Heimat, und das haben wir uns aufgebaut´. Natürlich hat er Recht gehabt“.

 

 

Leserbriefe zu dem Artikel:

Georg Plath 12.03.21

Dieser Artikel ist auch die Geschichte meines Vaters und dessen Familie.
Meine Oma Rosa Plath, geb. Schier, flüchtete in der Nacht vom 4. auf den 5. Februar 1945 mit ihren damals noch acht Kindern, ihren Eltern und ein paar Habseligkeiten auf einem Pferdefuhrwerk vor der nahenden Roten Armee über das zugefrorene Frische Haff Richtung Westen. Opa Michael war zu der Zeit in russischer Kriegsgefangenschaft.
Das Gemüsebauern- und Fischerdorf Neupassarge, Teil der Stadt Braunsberg, an der Mündung des Ermlandflusses Passarge ins Frische Haff war ihre Heimat. Mein Vater war damals 12½ Jahre alt, 2. Kind und gleichzeitig ältester Sohn der Familie. Als seine Familie losfuhr, kam er gerade von der Frischen Nehrung zurück, weil er Munition für die verbliebenen deutschen Soldaten dorthin fahren musste – als 12-Jähriger!
Von dort ging es im großen, gefährlichen Treck über den Danziger Korridor nach Schleswig-Holstein. Die Familie hatte dort Verwandtschaft. Nach einiger Zeit wurde die Familie hier ins Rheinland verbracht. Mein Opa Michael war inzwischen aus der Gefangenschaft zu den Angehörigen gestoßen. Zunächst wurden sie dann in der damaligen Flüchtlingsunterkunft im Schloss und Landgut Vehn (heute im Besitz der Fa. Bahlsen) bei Löhndorf (Stadt Sinzig) untergebracht und später, nach 1951, in der neugebauten Siedlung “Auf Wallers”, zu Bad Breisig gehörend, neu begütert.
Mein Vater war als ältester Sohn währenddessen zur finanziellen Untersützung der Familie zu seinem Vetter nach Bensheim an der Bergstraße beordert worden. Er arbeitete dort in dessen Weingut und trug so mit seinem Einkommen zur Versorgung der Angehörigen bei.
Vor einiger Zeit besuchte ich während einer Wanderung den kleinen Friedhof in Heckenbach. Dort fand ich Gräber mit Familiennamen, die mir aus der Verwandtschaft meines Vaters geläufig sind.
Vor zwei Wochen war ich bei einem Freund an der Saar. Im Gespräch stellten wir fest, dass unsere Väter in ihrer Kindheit in unmittelbarer Nähe aufgewachsen sind.

 

Henning Gietenbruch – 13.03.2021 17:20

Sehr geehrter Herr Kuhn, danke für den interessanten Bericht. Bringen Sie öfter solche Schilderungen aus der wechselvollen Geschichte Deutschlands. Die Erinnerung an die Ostgebiete darf nicht verloren gehen. Selber Jg. 42, erinnere ich mich gut an die vielen Flüchtlinge in meiner ursprünglichen Heimatstadt Iserlohn. Zuerst wurden sie in einer Turnhalle untergebracht. Die Halle mit Seilen unterteilt, daran Leintücher als Abgrenzung eines Familiengevierts gehängt. Relativ schnell wurden sie integriert und materielle Seite verbesserte sich nach und nach.
Ich kenne aber auch Schilderungen von einer geflüchteten Bekannten, die auf der Flucht über die Ostsee, als Kind erleben musste, wie Kinder brutal von Flüchteten vom Bootssteg ins Meer gestossen wurden. Keiner konnte in dem Gedränge helfen!

 

Richard Scholl – 13.03.2021 16:46

Sehr empathisch für die fast tabuisierten Millionen von Ostdeutschen. Zur gleichen Zeit flüchteten rund 200 000 Palästinenser nach dem Westen, wo sie bis heute auf Rückkehr in ihre Heimaten harrenund pochen.
Nicht so die rund 13 Millionen Deutschen Vertriebenen.

        

       

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