Von Günter Müchler

Günter Müchler

So schnell kann es gehen. Drei Wahlen hintereinander hat die AfD gewonnen. Wochenlang drehte sich alles um sie. Doch kaum ist das Stakkato der ostdeutschen Urnengänge vorüber, sind die Rechtsausleger in der Flaute. Unverändert isoliert und aktuell ohne Machtperspektive, müssen sie zusehen, wie ein politisches Ufo, das Bündnis Sahra Wagenknecht, ihr den Rang in der öffentlichen Wahrnehmung abläuft und wie sich gleichzeitig das Spielgeschehen von den Ländern auf den Bund verlagert. Wie geht es weiter in Berlin? Platzt die Koalition? Kommt es zu Neuwahlen? Das Wort vom „Herbst der Entscheidungen“ ist in aller Munde.

Was ist gut für Deutschland? Wer bei dieser Frage auf die Berliner Ampel-Regierung tippt, darf sich einen furchtlosen Nonkonformisten nennen. Im Bundestag hat die rot-grün-gelbe Koalition zwar noch die Mehrheit. Aber draußen ist sie längst abgewählt. Der Klimawandel hat die Koalition eingeholt. Erst der Sommer des Missvergnügens, dann ein schwer verregneter September. Und mit einem goldenen Oktober rechnet niemand, noch nicht einmal in der Regierung. Dort hat der ewige Streit das Vertrauen in die eigene Kraft ausgetrieben. Sarkasmus macht sich breit. Die Appelle zum Durchhalten klingen hohl. Der lächelnde Kanzler ist eine Maske, hinter der sich wer weiß was verbirgt.

Der Ausgang der Brandenburg-Wahl hat die Kanzlerfrage für einen Moment entschärft. Vom Tisch ist sie nicht. Der Achtungserfolg für die Genossen kam nur zustande, weil der kluge sozialdemokratische Ministerpräsident in Potsdam es verstanden hatte, den Genossen Bundeskanzler im Wahlkampf unsichtbar zu machen – eine zirkusreife Leistung. Wäre es anders gelaufen, wäre der Münchner OB Reiter schon jetzt nicht mehr der Einzige in der SPD, der Scholz den Abgang nahelegt. Hinter vorgehaltener Hand aber nimmt das Raunen zu. Es sind vor allem die wenig prominenten Mitglieder der SPD-Fraktion, die die Kanzlerfrage stellen. Sie ahnen, dass ein Vormann, der nicht hebt, sondern hinkt, sie die berufliche Existenz kosten könnte.

Öl ins Feuer gießt die Abdankung des ganzen grünen Parteivorstandes. Das Rücktritts-Wort ist nun für den Sprachgebrauch in der Koalition freigegeben. Die Grünen-Politikerin und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat Ricarda Lang und Omid Nouripour ihren Respekt ausgesprochen. Das war verdient. Jedermann weiß, dass die beiden Co-Vorsitzenden nicht diejenigen sind, die das Erscheinungsbild der Grünen verdorben haben. Vielmehr waren sie es, die die Partei in den zurückliegenden Monaten trotz wachsenden Unmuts zusammenhielten. An ihnen liegt es nicht, dass die Grünen sich, wie Nouripour unverblümt formulierte, in der schwersten Krise der Dekade befinden.

Woran liegt es? Die Grünen haben in Folge vier Wahlen verloren. Ihr Abschneiden bei der Europawahl war miserabel. In Sachsen konnten sie sich noch mit knapper Not im Landtag behaupten. In den Landtagen von Thüringen und Brandenburg sind sie nicht mehr vertreten. Dabei muss man die jüngsten Debakel wohl nur als die Symptome eines Niedergangs verstehen, dessen Ursachen tiefer liegen. Es ist der „wind of change“, der die Öko-Partei zaust. Über Jahre war es ihr gelungen, den Comment in der Gesellschaft zu bestimmen. Sie setzten die Akzente, die „weichen“ Themen, die dann erstaunlicherweise in der Ära der CDU-Kanzlerin Merkel mehrheitsfähig wurden: Offene Arme für Migranten aus aller Welt, ob asylberechtigt oder nicht. Einschränkungsloses „empowerment“ sexueller Minderheiten. Mystifizierung der Vielfalt. Umpflügen der Sprache im Sinne sogenannter Gender-Gerechtigkeit. Die Grünen führten einen Umgang mit der Politik ein, der Interessenvertretung durch Gesinnung ersetzt.

Es war und ist ihr Stil des Moralisierens und des Belehrens, der jetzt viele Menschen gegen sie aufbringt. Das ging so lange gut, bis Putin über die Ukraine herfiel. Ausgerechnet in dem Augenblick, als Frau Baerbock die Ära feministischer Außenpolitik ausrief, drängten plötzlich „harte“ Themen wie Aufrüstung und Energieunabhängigkeit auf die Tagesordnung. Den Rest gab die europaweite Migrationskrise, die gerade im Willkommensland Deutschland Schulen belastet, Wohnraum verknappt und Städte und Gemeinden an den Rand des Knockouts führt. Schlagartig wurde offenbar: Die Grünen, die lange Zeit scheinbar nicht zu erschüttern vermochte, sind aus dem Gleichschritt mit dem Zeitgeist gefallen. Auch neue Parteivorstände und ein Kanzlerkandidat Habeck werden den Abwärtstrend so schnell nicht drehen.

Am schmerzlichsten für die Grünen ist, dass sie bei den jungen Leuten nicht mehr ankommen. Dabei waren sie es, die die Herabsetzung des Wahltalters auf sechzehn vorantrieben, weil sie darin einen Vorteil für sich erblickten. Sie haben sich gründlich verkalkuliert. Am Sonntag in Brandenburg zeigte sich nicht zum ersten Mal, dass die Jungwähler vor allem zur AfD laufen. Trunken vor Freude, tanzend und singend, feierte der rechts-trendige Nachwuchs am Wahlabend mit Transparenten, die herausposaunten, was man machen würde, wenn man machen könnte: „Millionen abschieben“. Den Erfolg bei den Kids quittierte die Co-Vorsitzende Alice Weidel mit dem Satz, nun sei amtlich, die Zukunft gehöre der AfD.

Das möge Wotan verhindern. Indessen sind die tektonischen Verschiebungen im Parteiensystem beispiellos und wohl mehr als eine Momentaufnahme. Die AfD existiert praktisch erst seit zehn Jahren, das BSW seit ein paar Monaten. Und doch bringen sie zusammengenommen mehr auf die Waage als die Ampel-Parteien. Von denen erwischte es nicht nur die Grünen. Abgesehen von Brandenburg mit seinen Besonderheiten ist auch die SPD, Deutschlands älteste Partei, an einem Punkt angekommen, der knapp vor der Bedeutungslosigkeit liegt. Den Abgrund vor Augen hat ebenfalls die FDP. Christian Lindners Courage und seine Hartnäckigkeit haben nicht verhindert, dass der FDP dasselbe Schicksal droht wie den Liberalen in der Weimarer Republik. Die waren die ersten, die von den radikalen Rändern erdrückt wurden. Dabei wäre eine liberale Wirtschaftswende dringend erforderlich. Volkswagen-Krise, Krise am Bau, marode Infrastruktur, schrumpfende Exporte: Krise wo man hinsieht. Wachstum gibt es nur bei der Bürokratie. Alle Welt reibt sich die Augen. Was ist los mit den Deutschen? Das einstige Wirtschaftswunderland Deutschland hinkt in der Entwicklung hinter den großen Wirtschaftsnationen zurück.

Es stimmt, die Probleme haben nicht erst mit der Ampel begonnen. Aber die Ampel bekommt sie nicht in den Griff. Sie bekommt sich nicht in den Griff. Dabei waren stabile Regierungsverhältnisse selten so nötig wie jetzt. Bloß ist ein Wunderheiler, der sie herstellen könnte, nicht in Sicht. In einem Jahr steht die Bundestagswahl an. In der Regel ist das der Zeitpunkt, an dem auch in soliden Koalitionen die Friedenspflicht ausläuft. Dass sich die Partner in der Ampel ausgerechnet jetzt am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, ist also höchst unwahrscheinlich. Müssen wir uns demnach auf ein weiteres Jahr des Durchwurschtelns, der Halbheiten und Widersprüchlichkeiten einstellen?

Das Wort vom Herbst der Entscheidungen stammt von Lindner. Für einen Aufruf zur Einigung im Haushaltsstreit ist das Wort zu groß. Was also meint der FDP-Chef? Den Ausstieg aus der Koalition? Alle Exit-Spekulationen sind bisher an der nüchternen Erkenntnis geplatzt, dass an Neuwahlen weder SPD und Grüne noch die FDP interessiert sein können. Die September-Wahlen haben an dieser Erkenntnis nicht gerüttelt. Im Gegenteil: Scholz wäre nach einem vorgezogenen Urnengang Anfang des Jahres mit einiger Sicherheit nicht mehr Kanzler, die FDP nicht mehr im Parlament, und die Grünen müssten sich fragen, ob die Fortschreibung der Erfolge von AfD und BSW von den Ländern auf den Bund wirklich eine gute Idee war. Vielleicht brächte Friedrich Merz das Kunststück einer CDU-geführten Regierung fertig, vielleicht. Aber es fällt auf, dass die oppositionellen Rufe nach Neuwahlen aus gestopften Trompeten kommen. So einfach, wie Merz es sich vorgestellt hat, die AfD zu halbieren, ist die Sache offenbar nicht. Die CDU muss zulegen und dafür braucht sie Zeit. Wo man hinschaut: die Aussichten sind trübe.

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.    

 

 

   

     

 

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