Weirichs Klare Kante

Dieter Weirich

 Es sind bedeutungsschwere Begriffe, mit denen in der Politik die Dramatik einer Lage verdeutlicht werden soll. „Herbst der Entscheidungen“ nennt nach dem Landtagswahl-Debakel in Brandenburg die FDP-Spitze ihren Forderungskatalog an die Ampel-Partner zur wirtschafts- und migrationspolitischen Wende. Von dessen Erfüllung will sie einen Verbleib in der Koalition abhängig machen. Der auch verfilmte „Deutsche Herbst“ erinnert an den politischen und sozialen Aufruhr Ende der siebziger Jahre, als die Terrorwelle in Deutschland ihren Höhepunkt erreichte.

„Politische Buchmacher“ würden auf die Ampel, deren Ablösung von den meisten Deutschen verlangt wird, keinen Cent mehr verwetten. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende – das ist die Stimmung der liberalen Basis nach den drei Wahlen im Osten, wo die FDP jeweils ein einziges Prozent geholt hat und damit in der Bedeutungslosigkeit verschwunden ist. Der sofortige Ausstieg aus dem Berliner Bündnis erscheint Vielen immer noch erfolgversprechender als eine Fortsetzung des ermüdenden Gewürges bis zur Bundestagswahl 2025.

FDP-Vize Wolfgang Kubicki glaubt nicht, dass man bei der jetzigen „Performance Weihnachten noch erreicht“. Allzu unterschiedlich seien die Auffassungen, wie man die Wirtschaft wieder flott machen und die irreguläre Migration in den Griff bekommen könne. Das Verhältnis zu den Grünen sei „toxisch“. Der bayerische Landesvorsitzende Martin Hagen fordert einen liberalen Befreiungsschlag.

Ob die FDP in der dahinsiechenden Koalition aber noch die Kraft zu einem solchen Schritt hat, ist offen. Dabei wäre es ist die allerletzte, sich bietende Ausfahrt in der laufenden Legislaturperiode.Das Verhalten der FDP erinnert an die Fabel vom Schäfer und dem Wolf. In diesem Märchen hat der Hirtenjunge so oft spielerisch um Hilfe gerufen, dass ihm beim eigentlichen Angriff auf seine Herde niemand mehr zur Hilfe eilte.

Parallelen zum Koalitionsbruch 1982 sind unübersehbar. Der damalige Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff hatte mit einem Reformpapier zur Wirtschaft die sozialliberale Koalition gesprengt, für Bundeskanzler Helmut Schmidt war das „Verrat“. Es gibt allerdings einen Unterschied zu heute. Helmut Kohl stützte den seinerzeitigen Partnerwechsel durch „Leihstimmen“ bei der Bundestagswahl. Solche politischen Wohltäter fehlen heute.

Dieter Weirich (Jg. 1944), gelernter Journalist, kommentiert jede Woche mit spitzer Feder seine Sicht auf das aktuelle Geschehen in rantlos; mit freundlicher Genehmigung der “Zeitungsgruppe Ostfriesland (ZGO)”. Weirich war von 1989 bis 2001 Intendant des deutschen Auslandsrundfunks Deutsche Welle. Zuvor gehörte er eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Abgeordneter dem Hessischen Landtag und dem Deutschen Bundestag an, wo er sich als Mediensprecher seiner Partei und als Wegbereiter des Privatfernsehens einen Namen machte. Außerdem nahm er Führungspositionen in der PR-Branche in Hessen wahr. Weirich, der sich selbst als “liberalkonservativen Streiter” sieht, gilt als ebenso unabhängig wie konfliktfreudig.

 

 

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