Politik: Eiszeit am 38. Breitengrad

Aufrüstung und Kriegsrhetorik: Was will Nordkorea mit dem außen- und sicherheitspolitischen Taktikwechsel erreichen?

Militärparade in Pjöngjang: Kim Jong Un hat das Jahr mit einem Paukenschlag begonnen und Südkorea zum ewigen Feind erklärt.

Kim Jong Un läutete das Jahr 2024 mit einem radikalen Politikwechsel ein: Die Aufkündigung des Ziels der koreanischen Wiedervereinigung und die Benennung Südkoreas als Hauptfeind brachen mit der Politik seines Großvaters, von Nordkoreas „ewigem Präsidenten“ Kim Il Sung. Entsprechende Anpassungen parteiinterner Organe, der Propaganda und der Verfassung folgten. Kriegsrhetorik und Artillerieübungen entlang der umstrittenen maritimen Grenze erinnerten an den faktischen Kriegszustand auf der koreanischen Halbinsel.

Nordkoreas militärische Modernisierung und kriegerische Rhetorik sind jedoch nicht zu verwechseln mit Vorbereitungen einer Offensive, sondern vielmehr Ausdruck eines andauernden Taktikwechsels, welcher bereits mit dem gescheiterten Hanoi-Gipfel 2019 seinen Anfang nahm. Dafür sprechen die fehlenden Anzeichen für die Planung einer solchen Offensive, wie zum Beispiel entsprechende Vorbereitungen entlang des hochmilitarisierten Grenzgebietes mit Südkorea. Auch die wiederholten Waffenlieferungen an Russland und die – wenn auch begrenzte – Wiedereröffnung für den Tourismus stehen einer Offensive entgegen. Am obersten Ziel und an der Strategie des Regimeerhalts hat sich demnach grundlegend nichts verändert: Im Zentrum stehen nach wie vor die Ausweitung der militärischen Fähigkeiten und die Erhöhung der Kriegstüchtigkeit, etwa um Versuche eines Regimesturzes abzuschrecken, die Bevölkerung zusammenzuhalten und um das Land wirtschaftlich am Laufen zu halten. Nordkoreas Nuklearwaffen und Raketenprogramme spielen dabei immer zentralere Rollen in der eskalatorischen Abschreckungsstrategie – einerseits zur Regimeakzeptanz und andererseits als Einkommensquelle. Aktive Kriegshandlungen auf der koreanischen Halbinsel gilt es im Gegenzug jedoch zu vermeiden, da sie den Regimeerhalt fundamental gefährden könnten.

Nordkorea setzt bis auf weiteres in erster Linie auf seine Partnerschaft mit China und Russland.

Stattdessen sehen wir nun die Resultate eines Taktikwechsels, der diese Strategie forcieren soll: Nordkorea setzt bis auf weiteres in erster Linie auf seine Partnerschaft mit China und Russland, nicht mehr auf Optionen mit Südkorea und den USA. Während die gescheiterte Gipfeldiplomatie mit den USA und Südkorea zwischen 2018 und 2019 dieses Umdenken anstieß, boten die COVID-19-Pandemie, Russlands Angriffskrieg in der Ukraine und der sich verschärfende US-China-Konflikt förderliche Umstände. Gleichzeitig sorgen innenpolitische Zerwürfnisse in den USA und Südkorea nach wie vor für eine inkohärente und ineffektive Politik gegenüber Pjöngjang.

Das Gipfeltreffen zwischen US-Präsident Donald Trump und Kim Jong Un im Februar 2019 in Hanoi war mit der Hoffnung verbunden gewesen, den seit vielen Jahren schwelenden Konflikt um Nordkoreas Nuklearwaffenprogramm diplomatisch zu lösen. Doch der Gipfel erzielte keine Einigung und scheiterte letztlich an der Ausgestaltung des Denuklearisierungsprozesses. Nordkorea forderte einen schrittweisen Prozess, nach welchem das Land Teile seines Atomprogramms stoppen und gegen konkrete Gegenmaßnahmen wie beispielsweise Sanktionserleichterungen zurückbauen würde. Die Trump-Administration bestand hingegen auf einen umfassenden Deal und unmittelbare Abrüstung. Auch die fehlende Unterfütterung der Gipfeldiplomatie durch robuste Gespräche auf Arbeitsebene führte schließlich dazu, dass der Hanoi-Gipfel vorzeitig abgebrochen wurde und der Verhandlungsprozess scheiterte. Trotz der persönlichen Dimension veranschaulichte der Hanoi-Gipfel das beständige Misstrauen und den fundamentalen Interessenkonflikt, der seit drei Jahrzehnten einen diplomatischen Ansatz zu Nordkoreas Atomwaffen verwehrt.

Donald Trumps und Kim Jong Uns zweites Gipfeltreffen war mehr als eine missglückte politische Initiative.

Donald Trumps und Kim Jong Uns zweites Gipfeltreffen war mehr als eine missglückte politische Initiative, sondern rückblickend ein critical juncture, der einen langfristigen taktischen Wandel in der nordkoreanischen Außen- und Sicherheitspolitik nach sich zog. Dieser wird charakterisiert durch die (zumindest vorübergehende) Aufgabe des Ziels der Normalisierung der Beziehungen zu den USA durch Denuklearisierungsgespräche und der Nutzung der damit verbundenen wirtschaftlichen Möglichkeiten, wie der Erleichterung von Sanktionen. Statt der erhofften Annäherung beendete Pjöngjang sein 17-monatiges Raketentestmoratorium, brachte die andauernde Eskalationsspirale mit Südkorea in Gang und setzt seitdem auf Kooperation mit China und Russland.

Innenpolitisch wurde dieser Taktikwechsel durch die COVID-19-Pandemie begünstigt. Diese diente Nordkorea seit Januar 2020 als Begründung für einen strikten nationalen Lockdown, der den Grenzverkehr und die Mobilität innerhalb des Landes einschränkte (inklusive für internationale Vertretungen) sowie den humanitären und zivilgesellschaftlichen Austausch erschwerte. Erster Warenverkehr über die Landesgrenzen nach China und Russland fand erst ab 2022 wieder statt, direkter Austausch mit Peking und Moskau seit 2023.

Im Januar 2021 verkündete Kim Jong Un außerdem eine dem Fünfjahresplan folgende umfassende militärische Aufrüstung und Ertüchtigung; 2022 folgte die bisher höchste Anzahl an Raketentests. Der Fünfjahresplan beschreibt die bisherige und zukünftige Entwicklung und Stationierung einer Bandbreite von Nuklearwaffensystemen, die Ziele in Südkorea, Japan, auf Guam, Hawaii und dem US-amerikanischen Festland erreichen können. Nordkorea hatte erstmals 2017 Interkontinentalraketen getestet und seinem Arsenal in 2022 und 2023 neue Modelle hinzugefügt. Pjöngjang präsentierte seit 2019 zudem verschiedene Raketensysteme mittlerer Reichweite, die zu Schiff oder U-Boot gelagert und von dort abgeschossen werden können. Nach Kim Jong Uns Aussagen von 2023 könnte die „Nuklearisierung“ der Marine besondere Aufmerksamkeit in der weiteren Umsetzung des Ertüchtigungsplans finden. Kurzstreckenraketensysteme wurden nicht nur vielmals getestet und weiterentwickelt, sondern fanden zusammen mit passenden nuklearen Sprengköpfen und Mittelstreckenraketensystemen auch Betonung in Nordkoreas Produktionserhöhung.

Diese Nuklearstrategie bedarf allerdings umfangreicher Fähigkeiten zur militärischen Aufklärung, die Nordkorea mit dem Ausbau seines Drohnen- und Satellitenprogramms zu verbessern versucht.

Militärparade in Pjöngjang: Kim Jong Un hat das Jahr mit einem Paukenschlag begonnen und Südkorea zum ewigen Feind erklärt.

Kim Jong Un hatte im Januar 2021 zudem erstmals „taktische Nuklearwaffen“ erwähnt und damit Befürchtungen einer eskalatorischen Abschreckungsdoktrin untermauert. Das Nuklear-Gesetz von 2022 verdeutlicht sowohl die niedrige Schwelle als auch die Bereitschaft für den Einsatz von Nuklearwaffen sowie die Drohung eines „präemptiven“ Erstschlags bei ersten Anzeichen eines bevorstehenden gegnerischen Angriffs. Diese Nuklearstrategie bedarf allerdings umfangreicher Fähigkeiten zur militärischen Aufklärung, die Nordkorea mit dem Ausbau seines Drohnen- und Satellitenprogramms zu verbessern versucht. Doch auch mit potenzieller Unterstützung durch Russland bleiben ernst zu nehmende eigene Fähigkeiten zur Überwachung aus dem Weltall für Pjöngjang in weiter Ferne. Wobei Letztere im Umkehrschluss sogar eine stabilisierende Wirkung haben könnten, wenn sie Nordkorea verlässlich mitteilen könnten, welche militärischen Aktivitäten Südkoreas und der USA Kriegsvorbereitungen sind und welche nicht.

Nordkoreas außen- und sicherheitspolitischer Taktikwechsel wird außerdem von seiner vergrößerten strategischen Bedeutung für Russland, aber auch für China, und dem damit einhergehenden größeren außenpolitischen Spielraum wesentlich begünstigt. So bietet etwa Russlands Angriffskrieg in der Ukraine Nordkorea ungeahnte Möglichkeiten der erweiterten und öffentlichen Zusammenarbeit. Der Verkauf von Artilleriegeschützen, ballistischen Kurzstreckenraketen und Abschussfahrzeugen bringt Pjöngjang nicht nur wichtige Einnahmen, sondern auch Informationen über den Einsatz seiner Systeme auf dem Schlachtfeld. Darüber hinaus könnte eine engere Zusammenarbeit mit Moskau Nordkorea auch dabei helfen, die chronische Lebensmittel- und Energieknappheit zu beheben und perspektivisch die übermäßige ökonomische Abhängigkeit von China abzumildern.

Peking und Pjöngjang verbinden hingegen parteipolitische und wirtschaftliche Beziehungen. China bleibt Nordkoreas wichtigster Handelspartner und ist zugleich misstrauisch gegenüber allen Schritten Pjöngjangs, die das Land destabilisieren oder mehr US-Truppen in die Region ziehen könnten. Hatte Peking, zusammen mit Moskau, 2017 noch die Verabschiedung weitreichender Sanktionen mitgetragen, so ist der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen seitdem blockiert und die Umsetzung des Sanktionsregimes lückenhaft. Nordkoreas Sanktionsumgehungen, vor allem zur See und im Cyberspace, werden immer umfangreicher.

Kim Jong Un hat die jahrzehntelange Ausrichtung der Politik seines Landes gegenüber Südkorea auf eine neue Grundlage gestellt.

Neben dem Aufruf zur Kriegstüchtigkeit in 2019 und der beschleunigten militärischen Modernisierung seit 2021 hat Kim Jong Un seit Jahresbeginn außerdem die jahrzehntelange Ausrichtung der Politik seines Landes gegenüber Südkorea auf eine neue Grundlage gestellt. Nordkorea, so Kim Jong Un, strebe nicht länger eine Versöhnung und Wiedervereinigung mit dem Süden an, sondern werde das Land als „ewigen Feind“ einstufen. Im Kriegsfall bestünde das Ziel in der Besetzung, Unterdrückung, Zurückeroberung und Unterwerfung der Republik Koreas. Acht Jahrzehnte nach dem Koreakrieg, der als Angriff Kim Il Sungs zur Wiedervereinigung begann, stehen die innerkoreanischen Beziehungen folglich an einem historischen Tiefpunkt.

Diese politische Entscheidung wird weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen, auch und gerade für die auf Diplomatie ausgelegte Nordkoreapolitik der liberalen Kräfte in Südkorea, die 2027 erneut die Präsidentschaft gewinnen wollen. Gleichwohl wurden die innerkoreanischen Beziehungen in der Vergangenheit stets auch unmittelbar von den US-Nordkorea-Beziehungen determiniert. Die grundlegende Frage ist also, ob Nordkorea das Ziel verbesserter Beziehungen zu den USA langfristig tatsächlich aufgeben und sich damit für die geopolitische Abhängigkeit von China und Russland entscheiden möchte – oder ob dies lediglich bis zum „Abschluss“ des militärischen Fünfjahresplans aufgeschoben wird. Bis dahin könnten sich die Faktoren, die den Taktikwechsel begünstigt hatten, beispielsweise Russlands Kriegsführung in der Ukraine, grundlegend ändern.

In der Zwischenzeit gilt es daher abzuwarten, wie Südkorea nach den Parlamentswahlen im April und die USA nach den Präsidentschaftswahlen im November auf die verschärfte Konfrontation mit Nordkorea reagieren werden. Auch bleibt offen, ob Nordkorea die Entkopplung von der internationalen Gemeinschaft weiter forciert oder ob die Einschränkungen für die diplomatische und humanitäre Arbeit im Land zurückgefahren werden und offizielle und inoffizielle Kontakte auf internationaler Ebene wieder aufgenommen werden. Die derzeitige politische Eiszeit, Pjöngjangs Ertüchtigungsplan und die Priorisierung von Peking und Moskau lassen jedoch nur wenig Hoffnung auf absehbare Entspannung zu. Stattdessen nähren sie vielmehr die Risiken einer ungewollten, weil missverstandenen Eskalation – insbesondere in Zeiten, in denen belastbare Kommunikationskanäle mit Nordkorea fehlen.

Eric J. Ballbach ist derzeit Korea Foundation Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Er forscht zu den Themen Außen- und Sicherheitspolitik Nord- und Südkoreas, innerkoreanische Beziehungen, Multilateralismus in Ostasien und koreanische Identitätspolitik.

 

Elisabeth Suh ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und im Projekt Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order (STAND) tätig. Sie forscht zum indopazifischen Raum, Massenvernichtungswaffen, Proliferation und Rüstungskontrolle.

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