Rezension von Dr. Aide Rehbaum

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Martin Beyer: Tante Helene und das Buch der Kreise

© Marian Lenhard

Der preisgekrönte Germanist Beyer erzählt in dem Roman auf zwei Zeitebenen. Die Gegenwart spielt in New York bei der Familie von Alexander, der beruflich noch nicht gefestigt ist und seinen Lebensentwurf sucht. Er reist nach Deutschland, um das Land seiner Vorfahren näher kennenzulernen und das Erbe seiner Tante Helene zu sichten. Er erinnert sich an Besuche bei ihr und Gespräche, findet Zeitzeugen und ein unvollständiges Projekt: das Buch der Kreise, für das Helene lebenslang gesammelt hat.

Helene Klasing, die eine strenge Erziehung genoss, erfährt erst kurz vor ihrer Eheschließung in den sechziger Jahren, dass sie adoptiert ist. Ihre leibliche Mutter, schwarzes Schaf aus adeliger Familie, hatte das Kind weggegeben und ist nach dem zweiten Weltkrieg nach Amerika ausgewandert. Ein Teil des Romans beschäftigt sich zum einen mit den verklemmten Moralvorstellungen der 50er und 60er Jahre, in denen Helene, die Malerin und Modeschöpferin, ihren Mann Harald kennenlernt. Beide haben eine ähnlich lieblose Kindheit erlebt. Wie es dem Bild der Frau damals entspricht, wird ihre Arbeit wenig gewürdigt, weil sie auch selbst ihr Licht unter den Scheffel stellt.

Ihr Mann gibt seinen Lehrerberuf auf und steigert sich in die Studentenrebellion der 68er hinein, in der es um endlose Diskussionen, Sit-ins, Demos und freie Liebe geht. Da Helene realistisch für ihren Lebensunterhalt sorgt und von den Kommilitonen ihres Mannes nicht für voll genommen wird, entfremdet sich das Paar mehr und mehr. Helene freundet sich mit der geschiedenen Heidi, einer Musikerin, an, die ihr eine andere Sicht auf die Rechte der Frauen nahebringt und ihr Selbstbewusstsein stärkt. Schließlich nimmt Helene auch Kontakt zur leiblichen Mutter auf, was unproblematisch gelingt und wenig bewegt.

Ein paar altertümliche Begriffe, mit denen der Autor versucht authentischer zu wirken, sind deplaziert, z.B. das Wort „Tornister“ war vielleicht in den 40er Jahren noch gebräuchlich, um 1960 nicht mehr. Leider lädt keine Figur zur Identifikation ein, es toben weder Leidenschaften noch wird besonders gekämpft und gelitten. Die Handlung plätschert voraussehbar dahin. Die Szenerie der 68er Jahre an der Uni Frankfurt wird zwar plastisch geschildert, aber die psychologische Ebene bleibt schwach. Beyer ließ sich vom Schicksal einer Berliner Künstlerin inspirieren, die er mal interviewte. Könnte sein, dass der Autor von der wahren Vorlage unbewusst gehemmt wurde, einen stärkeren Spannungsbogen zu entwickeln.

 

Martin Beyer, geboren 1976, ist promovierter Germanist und lebt und arbeitet in Bamberg als freier Autor und Dozent für Kreatives Schreiben. 2009 erschien sein Debütroman Alle Wasser laufen ins Meer. Im selben Jahr erhielt er den Walter-Kempowski-Literaturpreis, 2011 den Kultur-Förderpreis der Stadt Bamberg.

 

 

  • Ullstein Hardcover
  • Hardcover mit Schutzumschlag
  • 416 Seiten
  • ISBN: 9783550201356
  • Erschienen: 03.01.2022
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