Neige Sinno – Trauriger Tiger
Rezension von Dr. Aide Rehbaum
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Neige Sinno – Trauriger Tiger
Die inzwischen in Mexiko lebende Autorin berichtet in diesem Buch von ihren jahrelangen Vergewaltigungen durch ihren Stiefvater. Etwa im Alter von sieben Jahren begann es, aber erst, als ihre Geschwister ins gleiche Alter kommen – sie ist mit 21 schon aus dem Haus -, entschließt sie sich, der Mutter reinen Wein einzuschenken. Sie muss ihre Geschwister schützen. Die Mutter wartet danach noch ein Jahr, bevor sie zur Polizei geht und Anzeige erstattet. Das Buch hat keinen eigentlichen roten Faden, denn die Handlung springt zwischen den Zeiten und betrachtet das Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln. Kernaspekt ist dabei der Umgang der Gesellschaft mit Opfern und Tätern.
Gnadenlos seziert die Autorin die Motive des Mannes, der vor Gericht geständig ist und Rechtfertigungen anbringt. Am Ende bekommt er neun Jahre Gefängnis. Als er nach der Entlassung auf dem Jakobsweg wandert, begegnet er einer Frau, die sich trotz seiner Vorgeschichte in ihn verliebt und weitere vier Kinder mit ihm bekommt. Sinnos leiblicher Vater hatte sich entzogen, die Mutter ist ein Hippie und Bergführerin wie der Stiefvater. Jahrelang leben die Aussteiger abseits des Dorfes in einer Bruchbude, die sie nach und nach renovieren. Der Stiefvater wird von allen Zeugen als charismatisch, hilfsbereit und kompetent geschildert. Innerfamiliär ist er autoritär und cholerisch.
Immer wieder gewinnt der Leser Distanz zum Drama, weil Sinno nicht nur die Diskussion der 1970er und 1980er zur Entkriminalisierung von Pädophilie aufgreift, sondern das Erinnern abwechselt mit literarischen Exkursen zu Annie Ernaux, Toni Morrison, Virginia Woolf, Emmanuel Carrere und vielen anderen. Sie vergleicht, wie unterschiedlich die Literaten mit ihrer eigenen oder fiktiven Missbrauchsgeschichte umgegangen sind und in welcher Weise sie ihr Leben beeinflusste.
In Frankreich werden 70 Prozent der Strafanzeigen wegen Vergewaltigung eingestellt und allenfalls 10 Prozent der Anklagen vor einem Gericht verhandelt. Nachdem Sinno den Skandal aufdeckte, wird das Opfer von den Dorfbewohnern ausgegrenzt, nicht etwa der Täter.
Sinno versucht mit ihrer Ausdrucksfähigkeit, ähnlich verletzten Menschen die Einsamkeit zu lindern und Mütter, Lehrer, Sozialarbeiter und Ärzte aufzurütteln, die seinerzeit auffälliges Verhalten ignorierten und niemals hinterfragten.
4. Auflage
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