Die Kinder aus Buller-bü

In Schwedens segregierten Vierteln nehmen Schießereien und Gewalt massiv zu. Linke Parteien dürfen sich dem Problem nicht verschließen.

Ausschreitungen in Schweden

Schweden hat sich vom einstigen Leuchtturm der Demokratie zu einem eher abschreckenden Beispiel gewandelt. Wenn schon in Schweden die Konservativen bereit sind, sich von einer populistischen Rechtsaußenpartei mit Wurzeln in der White-Supremacy-Bewegung der 1990er-Jahre und im Nationalsozialismus der 1940er-Jahre zur Macht verhelfen zu lassen, dann ist dies nirgendwo mehr ausgeschlossen.

Viele glauben, in Schweden habe der Trumpismus Einzug gehalten. Kriminalität und Inflation seien so ausgeufert, dass eine Wiederwahl der bisherigen Regierung undenkbar gewesen sei. Daran ist mit Sicherheit etwas Wahres. Doch Schweden ist kein Sonderfall, sondern fügt sich ein in eine politische Landschaft, die sich durch Migration, das Auseinanderdriften von Zentren und Peripherie sowie Establishment-feindliche Stimmungen massiv verändert hat. Vor diesem Hintergrund ist es beinahe überraschend, dass Schwedens Sozialdemokraten nach acht Jahren an der Regierung immer noch 30 Prozent der Wählerschaft hinter sich hat.

Wer die Ergebnisse der letzten Wahl analysiert, kann die steil ansteigende Kriminalitätsrate im Land nicht ignorieren. In vielen Landesteilen nimmt die Zahl der Schießereien in größeren und kleineren Städten sowie in den Vororten massiv zu. Dahinter stecken meist das organisierte Verbrechen und Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gangs. Die Brutalität ist erschreckend, und die Gewalt erfasst inzwischen alle Teile der Gesellschaft. Die breite Bevölkerung ist zwar nicht die Zielscheibe, aber in Sicherheit wähnen kann sich niemand mehr.

Zwar wurde die Polizei besser ausgestattet und die Strafen verschärft, aber um die Gesetzgebung so zu aktualisieren, dass sie mit den neuen Technologien, schweren Waffen und den Arbeitsweisen der organisierten Kriminalität Schritt halten und ihnen Paroli bieten kann, muss mehr passieren. Die Gesellschaft konnte bislang nicht verhindern, dass die verschiedenen Gangs männliche Jugendliche und junge Männer rekrutieren, und wenn es nicht gelingt, diese Entwicklung zu stoppen, ist kein Ende der Gewalt in Sicht. Die Lebenserwartung junger Männer, die mit der organisierten Kriminalität in Berührung kommen, beträgt oft keine 25 Jahre. 2021 wurden bei 335 Schießereien 46 Menschen getötet. Dass bei den Wahlen die innere Sicherheit das Thema Nummer eins war, ist daher keine Überraschung.

Die Integrationschancen der Menschen aus diesen benachteiligten Vierteln sind gering

Die meisten, die durch das organisierte Verbrechen ums Leben kommen, haben einen Migrationshintergrund und sind in einem der ethnisch segregierten Stadtteile in Schweden aufgewachsen, in denen die sozial und wirtschaftlich Benachteiligten leben und die Arbeitslosen- und Kriminalitätsrate besonders hoch ist. Diese Stadtteile und ihre Bewohner wurden vom Staat im Stich gelassen. Zu wenig Investitionen in den Wohlfahrtssektor, kein politisches Konzept für die Ansiedlung von Geflüchteten, Zuwanderung und eine gescheiterte Integrationspolitik – all das hat zur Ghettoisierung der betreffenden Stadtviertel geführt. 2015 erreichte dieser langsame, aber stetige Prozess mit der „Flüchtlingskrise“ seinen Höhepunkt.

Diese Viertel sind der Nährboden für die organisierte Kriminalität. Profite gemacht und Arbeitsplätze geschaffen werden anderswo. Die Integrationschancen der Menschen aus diesen benachteiligten Vierteln sind gering. Viele Bürgerinnen und Bürger sehen die Schuld bei „den anderen“ – und ein kausaler Zusammenhang zur Migration ist schnell hergestellt. Genau diesen Zusammenhang stellen die politischen Akteure am äußersten rechten Rand her. Die progressiven Kräfte wiederum sind nicht konsequent genug gegen die Kriminalität vorgegangen und waren unfähig, für die vielen Menschen, die kaum über die Runden kommen, bessere soziale und wirtschaftliche Verhältnisse zu schaffen.

Die Globalisierung befreit Millionen von Menschen aus der Armut, treibt den technologischen Wandel voran und generiert enorme wirtschaftliche Werte. Doch sie teilt die Welt auch in Gewinner und Verlierer oder, um eine Unterscheidung von David Goodhart aufzugreifen, in „Anywheres“ und „Somewheres“. Kapital, Jobs und gesellschaftlicher Status werden neu verteilt, und diese Neuverteilung bewirkt in den einzelnen Ländern tiefgreifende Transformationsprozesse und lässt das Zusammengehörigkeitsgefühl in den Gesellschaften schwinden. Das Narrativ der extremen Rechten schreibt der Migration und speziell der Arbeitsmigration eine zentrale Rolle zu, wenn es um die „Globalisierungsverlierer“ geht, und konstruiert einen kausalen Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Zuwanderung auf der einen Seite und der Kriminalität und den längerfristigen sozialen Problemen auf der anderen Seite.

Ausschreitungen in Schweden

Die Strategie der Rechten ist eine schwedische Abwandlung des Trumpismus inklusive heftiger Abwehrreaktionen gegen das Establishment: „Die Sozialdemokratie hat Schweden an die Globalisierung und die Migranten verramscht. Die Kriminalität und das Versagen des Sozialsystems sind dafür die Quittung.“ Mit anderen Worten: Den Rechten ist es gelungen, das akute Kriminalitätsproblem und die langfristigen Probleme einer zusehends auseinanderfallenden Gesellschaft in Bezug zu setzen.

Als Ministerpräsidentin und Parteichefin der Sozialdemokraten setzte Magdalena Andersson klare Prioritäten: Sie ging entschlossener gegen die Kriminalität vor und bekämpfte verstärkt deren Ursachen, steckte mehr Geld in die Sozialsysteme, beendete den Privatisierungskurs und schuf durch eine ökologisch orientierte Entwicklung neue Arbeitsplätze. Ihre Linkskoalition arbeitete gegen die Märchen der Populisten an, doch die real existierende Kriminalität arbeitete gegen die Linkskoalition. Obendrein hinderte die Inflation die sozialdemokratisch geführte Regierung daran, noch ambitionierter in die Sozialsysteme zu investieren. Der Krieg in der Ukraine führte obendrein dazu, dass die Bekämpfung des Klimawandels nicht mehr als Chance, sondern als Ursache für hohe Energiepreise und steigende Lebenshaltungskosten wahrgenommen wurde.

Dass die Parteien des linken Spektrums die Wahl verloren, lag an den Themen Kriminalität und Migration

Andersson verlor die Wahl trotz ihrer enorm hohen Beliebtheitswerte. In gewisser Weise war der diesjährige Urnengang eine Abstimmung über die Demokratie, und dies brachte Andersson Stimmenzugewinne in der Mittelschicht. Ehemalige Stammwähler aus der Arbeiterschaft hingegen wanderten zu den Schwedendemokraten ab. Unterm Strich verbesserten sich die Sozialdemokraten sogar um zwei Prozentpunkte, aber ihre Koalitionspartner sackten in der Wählergunst ab. In einem System mit festen Koalitionsregierungen ist die größere Partei nicht nur für ihre eigene Agenda verantwortlich, sondern muss vor den Wahlen einen Kurs finden, der für alle Koalitionäre zum Erfolg führt. Die Sozialdemokraten konnten zwar ihren Koalitionspartnern Stimmen abjagen, aber sie schafften es nicht, Stimmen von den Schwedendemokraten zurückzugewinnen.

Dass die Parteien des linken Spektrums die Wahl verloren, lag an den Themen Kriminalität und Migration. Ein weiterer Grund war, dass die progressiven Kräfte bislang kein Narrativ oder politisches Programm anzubieten haben, wie man die Globalisierung neu austarieren und so gestalten kann, dass einerseits der Klimawandel in Angriff genommen wird und andererseits die Weichen für soziale Aufstiegsmöglichkeiten und wirtschaftlichen Wohlstand für alle gesellschaftlichen Gruppen gestellt werden.

Die Schaffung von Wohlfahrtsstaaten, die ohne fossile Brennstoffe auskommen, ist für progressive Kräfte eine enorme Chance: Sie können Entwicklung, Verantwortung und die Rolle der Gesellschaft neu denken und auf dieser Basis eine Agenda für eine bessere Zukunft formulieren. Durch inneres „Nation Building“ den Gemeinschaftssinn stärken und ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen – das wäre ein wirkungsvolles Argument gegen den Populismus von Rechtsaußen. Eine solche Agenda allein wird nicht das Kriminalitätsproblem lösen, aber ein „Zeitalter der Investitionen“ eröffnet die Chance, gesellschaftliche Gräben zu schließen – und das wird der Kriminalität zunehmend den Boden entziehen.

Die Mitte-Links-Parteien werden erst wieder an die Regierung kommen, wenn sie mit Rezepten für die Beendigung der Kriminalität und eine zukunftsorientierte Agenda aufwarten können, die die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammen- und weiterbringt. Realistische Hoffnungen sind besser als Hoffnungslosigkeit. Was es dafür braucht, ist eine tiefgreifende politische Erneuerung. Wer Kriminalität und Migration in den Griff bekommt, bekommt deswegen noch nicht die Globalisierung und den Klimawandel in den Griff, aber durch ein neues Gemeinschaftsgefühl und durch ökologisches Wirtschaften eröffnen sich Möglichkeiten, das Auseinanderdriften der Gesellschaft zu stoppen und Integration erfolgreicher zu gestalten. Gefordert ist ein politisches Rezept, das für alle diese Aspekte eine Lösung anbietet.

Über den Ursprung und die Ziele der Schwedendemokraten sollte niemand sich Illusionen machen. Sie sind eine autoritäre und rassistische Partei. Die liberalkonservative Regierung hat sich von ihrem Wohlwollen abhängig gemacht. Bleibt nur die Frage, wie weit die Schwedendemokraten in dieser Legislaturperiode gehen wollen. Ihre Koalitionspartner werden sich ihnen nicht widersetzen können, weil dann die Regierung am Ende wäre. Diese Sachlage hat Schweden schon jetzt deutlich geprägt und wird das Land weiter verändern.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Johan Hassel ist Senior Fellow und Direktor für globalen Fortschritt am Center for American Progress und ehemaliger internationaler Sekretär der Sozialdemokratischen Partei Schwedens.

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