Von Wolfgang Bergsdorf

Prof. Wolfgang Bergsdorf

Der Deutsche Bundestag verabschiedete vor wenigen Tagen eine Entschließung, mit der er den millionenfachen Mord durch Hunger an Ukrainern, Kasachen und Russlanddeutschen, den so genannten Holodomor der Jahre 1931-33, als Genozid bewertete. Auf deutsch: als Völkermord. Damals hat der sowjetische Diktator Stalin die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft durchgesetzt, die vor allem von den selbstständigen Bauern (Kulaken) in der Ukraine, in Kasachstan und in der Wolga- und Kuban-Region abgelehnt wurde. Die Bauern mussten den größten Teil ihrer Ernte in der ersten Phase dieser Politik abliefern. Danach wurde ihnen sogar das Saatgut weggenommen und alle weiteren Lebensmittel. Schließlich wurden die Gebiete der früher so ertragreichen Bezirke abgeriegelt, damit den Bauern die Flucht in andere Regionen versperrt wurde. Die Folge: sieben Millionen Tote, mehr als die Hälfte Ukrainer. In Relation zur Gesamtbevölkerung wurde Kasachstan am stärksten betroffen. Zwischen 1,2 und 1,5 Millionen Kasachen starben damals am Hunger. Das entspricht 40 Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung.

Diese Geschehnisse der Dreißigerjahre in der damaligen Sowjetunion waren nicht die ersten im 20. Jahrhundert, die die Bezeichnung Genozid verdienen. Und sie waren schon einmal gar nicht die letzten. Dass sich das deutsche Parlament nach 90 Jahren dazu äußert und die mörderischen Vorgänge als gezielte Vernichtung kennzeichnet, will nicht beanspruchen, die einzig korrekte Deutung des Geschehens von damals zu liefern. Denn das, was als „Geschichte“ überliefert wird, verdient meistens unterschiedliche, auch widersprüchliche, in jedem Fall aber kritische Deutungen. Das Parlament sieht sich dann zur Stellungnahme gezwungen, wenn aus politischen Gründen nachweisliche und nachgewiesene Tatsachen beschönigt, verniedlicht, verschwiegen oder sogar geleugnet werden. Dies war beim millionenfachen Judenmord – begangen durch das nationalsozialistische Deutschland – der Fall. Der Gesetzgeber hat die Leugnung des Holocausts strafbar gestellt. Zum Genozid an den Armeniern während des 1. Weltkriegs haben das deutsche wie auch andere europäischen Parlamente zum großen Ärger der Türkei ebenfalls Resolutionen gefasst.

Bei der jüngsten Entschließung des Deutschen Bundestages, mit der der seinerzeitige Mord durch Hunger an den Ukrainern als Genozid bezeichnet wird, spielt zweifellos der aktuelle Angriffskrieg Putins gegen die Ukrainer eine Rolle. Er wird auf russischer Seite mit der Propaganda begleitet, dass die Ukraine immer Teil des russischen Imperiums gewesen sei, eine eigenständige ukrainische Kultur nicht existiere und deshalb auch die ukrainische Sprache minderwertig sei und durch Russisch ersetzt werden müsse.

Das Massensterben und seine Ursachen in der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in den dreißiger Jahren werden auch in Putins Russland nicht geleugnet. Die Geschehnisse werden als große Tragödie dargestellt, zu der es durch eine Kette von unglücklichen Umständen gekommen sei. WladimirPutin hat 2021 in seinem langen Artikel „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“, in dem er der Ukraine das Recht auf Eigenständigkeit absprach, den großen Holodomor nur in einem einzigen Satz erwähnt. Weder nennt er Ursachen noch Opferzahlen, und schon gar nicht die Verantwortlichen für dieses Verbrechen. Vielmehr instrumentalisiert er die heutige Behandlung des damaligen Geschehens in der Ukraine als Vorwurf an deren Führung, die ukrainische Elite habe die Unabhängigkeit des Landes auf der Verneinung der Wahrheit gegründet, die Ukrainer „geben unsere gemeinsame Tragödie der Kollektivierung, des Hungers Anfang der Dreißigerjahre als Genozid“ aus.

Und nun nimmt Putin als Verfälscher und Leugner historischer Tatsachen auch noch das Recht für sich in Anspruch, der Ukraine erneut mit Gewalt seinen imperialen Willen aufzudrücken. Dieses Mal ist es nicht der Hunger, mit der er den Ukrainern das Lebensrecht bestreiten will; dieses Mal ist es in der winterlichen Kälte die gezielte Zerstörung der Infrastruktur für Strom, Gas und Wasser, mit denen Russlands Diktator den Ukrainern das Lebensrecht zu bestreiten und sie aus ihrem eigenen Land zu vertreiben versucht. Falls ihm das gelänge, hätte das einen Tsunami an Geflüchteten in die europäische Union zur Folge. Die Zahl der Ukrainer, die bisher in Deutschland Schutz gefunden haben, würde sich vervielfachen und unsere Möglichkeiten bei weitem überfordern.

Auch deshalb ist es ureigenstes deutsches und europäisches Interesse, der Ukraine Raketenabwehrsysteme zur Verfügung zu stellen und jede Hilfe zu leisten, damit die Ukrainer den Winter überstehen und nicht ihr Land verlassen müssen. Wir müssen dieses Land auch moralisch unterstützen, dessen Bevölkerung und dessen Elite in den letzten 90 Jahren mehrfach dem Auslöschungswillen russischer Diktatoren ausgesetzt war.

Die Holodomor-Resolution des Deutschen Bundestages nimmt Partei und zeigt das Mitgefühl des heutigen Deutschlands, in dessen Namen die Ukrainer im Zweiten Weltkrieg ebenfalls dem Mordwahn eines Diktators ausgesetzt waren. Wenn man die zahllosen Säuberungen Stalins in den Blick nimmt, mit denen er die nationalistischen Elemente in der eigenen Partei ausgeschaltet und die ukrainische Elite dezimiert hat, dann wird deutlich, dass die Erde der Ukraine mit mehr Blut getränkt ist als andere Landstriche in Europa. Dies hat der amerikanische Historiker Timothy Snyder in seinem Bestseller von 2011 „Bloodlands, Europa zwischen Hitler und Stalin 1933-1945“ an Hand der Ukraine verdeutlicht.

Auch jetzt steht Europa im Zentrum des Konfliktes zwischen Russland und der Ukraine. Die „Kornkammer Europas“ will nach Europa. Russland bestreitet das Recht auf Selbstbestimmung mit der Verweigerung der Staatlichkeit für die Ukraine. Diese Verweigerung ist auch eine Spätfolge des kommunistischen Systems. Sie zeigt, dass mit der Implosion der Sowjetunion der imperiale Impetus Russlands keineswegs untergegangen ist. Putins Russland will – ähnlich wie seinerzeit die Sowjetunion – einen Kranz von willfährigen Staaten um sich gruppieren. Damit sollen der Verlust des einstigen Imperiums kompensiert und Verbündete gewonnen werden, die zu Zeiten der Sowjetunion von Moskau domestiziert wurden. Die ersten, die aus der kommunistischen Zwangsvereinigung der einstigen Sowjetunion in die staatliche Selbstständigkeit flohen, waren die baltischen Staaten. Sie haben sofort begonnen, ihre kommunistische Vergangenheit aufzuarbeiten. Sie gründeten Archive für die Verfolgungen, räumten kommunistische Denkmäler ab und änderten Straßennamen.

In der Ukraine spielte die Aufarbeitung der 70-jährigen Sowjet-Diktatur nach 1991 zunächst keine große Rolle. Zuerst war personelle Kontinuität angesagt. Die ersten Präsidenten Krawtschuk und Kutschma gehörten dem früheren KPdSU-Zentralkomitee an. Damals trauerten tatsächlich noch Viele im Osten und im Süden der Ukraine den Zeiten nach, als das Land Teil der Sowjetunion war. 2004 kam der Umschwung: bei der Präsidentenwahl wurde auf den europäisch orientierten Kandidaten Wictor Juschtschenko ein Giftanschlag verübt und die Wahlergebnisse zugunsten seines Kreml-nahen Widersachers Wictor Janukowitsch verfälscht. Große Demonstrationen in der „orangen Revolution“ bewirkten, dass die Wahl wiederholt wurde mit dem Ergebnis, dass Juschtschenko Präsident wurde.

Seine Regierung machte die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit zum Regierungsprogramm. Auf seinen Vorschlag verurteilte das ukrainische Parlament die Massen-Hungersnot 1931-33 als Genozid; per Erlass verpflichtete er die Gebietshauptstädte, Denkmäler für die Opfer der großen Hungersnot zu errichten. 2008 wurde in Kiew ein Holodomor-Museum eröffnet. Auch an andere Verbrechen der Sowjetunion wurde erinnert. Als erster Präsident nahm Juschtschenko an der jährlichen Gedenkveranstaltung im Wald von Bykiwnia bei Kiew teil. Dort liegen die sterblichen Überreste von bis zu 130.000 Menschen, die zwischen 1937 und 1941 von der sowjetischen Geheimpolizei erschossen wurden. Der Präsident ließ nach polnischem Vorbild ein „Ukrainisches Institut für nationale Erinnerung“ gründen.

2010 wurde er jedoch abgewählt und Janukowitsch trat an seine Stelle, der die Aufarbeitung teilweise wieder rückgängig machte. 2013/14 kam es mit dem „Euromaidan“ zu einer neuen Welle der Aufarbeitung: Nachdem die Regierung auf russischen Druck das vereinbarte Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnen wollte, folgten wieder Massenproteste, und Janukowitsch floh nach Russland. Sein Nachfolger wurde Petro Poroschenko. Putin sah jetzt die Chance, seine mehrfach angekündigten Ansprüche umzusetzen: Russland annektierte die Krim und brachte den Donbas unter seine Kontrolle.

Das allerdings hatte in der Ukraine zur Folge, dass jede historisch-verklärende Erinnerung an den Kommunismus ausgelöscht wurde. Diese Politik übertraf so alles, was in anderen ehemaligen Ostblockstaaten oder einstigen Sowjetrepubliken an Aufarbeitung geleistet wurde. Es erfolgten tausende von Entlassungen im ukrainischen Staatsapparat, und es wurde ein Gesetz zum Verbot totalitärer Propaganda erlassen. 2000 Denkmäler, darunter 1300 Lenin-Statuen wurden beseitigt. 50.000 Straßen und Plätze bekamen neue Namen. Angesichts der Energie, mit der sich die Ukraine seit spätestens 2014 ihrer kommunistischen Vergangenheit entledigt, verwundert es, wie gering solche Anstrengungen in Russland selbst waren.

Mittlerweile hat Putin alle Initiativen zur historischen Aufarbeitung abgewürgt und die zivile Einrichtung „Memorial“ sogar als „ausländischen Agenten“ gebrandmarkt, weil sie sich der Aufgabe gestellt hatte, die millionenfachen Opfer des Stalin-Regimes zu rehabilitieren. Der Grund für diesen Verzicht auf Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist vermutlich die dann nicht mehr zu vermeidende Erkenntnis, dass die Geschichte der Sowjetunion eine Geschichte verbrecherischer Gewalt gewesen ist. Hieraus lässt sich keine Legitimität für das heutige Regime in Russland gewinnen, das seine Zuflucht ebenfalls regelmäßig in Gewalt sucht. Die einzig positiv bewertete Gewalt ist der „Große Vaterländische Krieg“, den Russland gegen die Nazis geführt hat. Das ist vermutlich auch der Grund, weswegen Putin die Ukrainer als Nazis gekennzeichnet haben möchte. Außerhalb Russlands überzeugt dies niemanden. Immerhin ist der ukrainische Präsident Selenskij ein nach allen internationalen Regeln gewählter Repräsentant. Das kann man von Putin nun wirklich nicht behaupten, nachdem er jeden ernsthaften Konkurrenten ausgeschaltet, ins Gefängnis geworfen oder auf andere Weise unschädlich gemacht hat.

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinet“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt.  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

 

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