Politik: Aufeinander angewiesen

De-Globalisierung und Systemwettstreit dürfen nicht zum Ende des Multilateralismus führen. Die globalen Krisen können nur gemeinsam gemeistert werden.

Inmitten des Kalten Krieges und in Anbetracht der Verwüstung durch einen Atomkrieg legten die Systemkonkurrenten USA und Sowjetunion Ende der 1960er Jahre einen Entwurf des Atomwaffensperrvertrages vor. Der Vertrag hat nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Beschränkung von Nuklearwaffen geleistet, sondern angesichts einer möglichen apokalyptischen Katastrophe den ideologischen Wettstreit zugunsten einer internationalen Regelung temporär unterbrochen. Das ist eine historische Leistung. Damit wurden die multilaterale Ordnung und die globale Sicherheit befestigt, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Gründung der Vereinten Nationen und der Stärkung des Völkerrechts entwickelt hatte.

GLobale ZUsammenarbeit © Gerd Altmann auf Pixabay.com

Aber nicht nur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind wegweisende multilaterale Vereinbarungen getroffen worden: Im Jahr 2015 hat die Weltgemeinschaft mit dem Pariser Klimaschutzabkommen und der Vereinbarung über die Sustainable Development Goals (SDGs) nahezu universelle Abkommen geschaffen, und damit nicht nur symbolisch anerkannt, dass nur durch globale Zusammenarbeit und Kohärenz die entscheidenden Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen sind. 

Wie beim atomaren Wettstreit ist die Menschheit erneut in einer existentiellen Krise.

Wie beim atomaren Wettstreit ist die Menschheit erneut angesichts des Klimawandels, der Biodiversitätskrise, Pandemien sowie durch geopolitische Spannungen und ein obszönes Ungleichgewicht in der Armuts- und Reichtumsverteilung in einer existentiellen Krise. Zu diesen Herausforderungen kommt hinzu, dass sich zunehmend ein Narrativ entwickelt, das einen systemischen Wettstreit zwischen Demokratien und autoritären Staaten heraufbeschwört. An dieser Erzählung sind Regierungen genauso beteiligt, wie Wissenschaftlerinnen und Journalisten.

Es scheint, als erlebten wir die Renaissance eines ideologischen Aufrüstens, die als „strategische Rivalität“ des sogenannten Westens mit China Eingang in Erklärungen und Strategiepapiere findet. Ende 2021 lud der US-Präsident zu einem pompösen Demokratiegipfel ein und auch bei der oft beschworenen „allumfassenden, strategischen Partnerschaft“ zwischen China und Russland, geht es um eine Allianz zur Abwehr von vermeintlich westlichen Ansinnen. Dieser Trend wird sich weiter verstärken, weil bereits in vielen Regierungen und Institutionen auf der ganzen Welt an Strategien gearbeitet wird, wie mit dem jeweiligen Systemrivalen umzugehen sei.

Dazu kommt, dass unter anderem durch die Corona-Krise und den russischen Überfall auf die Ukraine Bestrebungen zu einer De-Globalisierung und größerer strategischer Unabhängigkeit befeuert werden. Zu deutlich sind in den letzten zwei Jahren fragile Handelsketten und Abhängigkeiten bei strategisch wichtigen Komponenten und Ressourcen hervorgetreten, als dass ein Zurück zur Turbo-Globalisierung vermittelbar ist.

Vielen Regierungen und Institutionen arbeiten an Strategien, wie mit dem jeweiligen Systemrivalen umzugehen sei.

Zu fragen ist allerdings, ob eine De-Globalisierung zwangsläufig zu einem Ende des Multilateralismus führen muss, der sich durch stabile internationale Institutionen und eine regelbasierte Ordnung auszeichnet? Man könnte fast diesen Eindruck gewinnen, wenn man das Schlagwort Plurilateralismus inflationär liest, Bewegungen zu Ad-hoc-Bündnissen verfolgt und die Absagen an die westlich dominierte internationale Institutionenordnung weltweit deutlichen Zuspruch erfährt. 

Während einerseits also der regelbasierte Multilateralismus mit seinen internationalen Institutionen in einer Krise ist, finden gleichzeitig Treffen wie zum Beispiel die COP27-Klimakonferenz in Sharm Al-Sheik und der G20-Gipfel auf Bali wie geplant statt. Deshalb muss kritisch gefragt werden, ob eine vermeintliche Systemkonkurrenz ein zentraler Baustein für eine neue Phase in der Außenpolitik werden darf? Denn die Protagonisten, die von allen Seiten eine Systemkonkurrenz hervorheben, übersehen oft wichtige Fakten:

Die Protagonisten, die von allen Seiten eine Systemkonkurrenz hervorheben, übersehen oft wichtige Fakten.

Erstens: Bei aller berechtigten Demokratieforderung ist kaum zu übersehen, dass sich diese zwar im inneren Staats- und Gesellschaftsaufbau zum Beispiel bei den G7-Mitgliedern wiederfinden, gleichzeitig aber eine Demokratisierung der internationalen Institutionen, die vielfach bereits in der Zeit nach 1945 entstanden sind, bis heute effektiv verhindert wird. Die Verweigerung solcher Reformen schadet aber massiv der Glaubwürdigkeit jeglicher Demokratieforderung und führt zum Vorwurf von Doppelstandards.

Der Vorwurf von Doppelstandards wird umso heftiger, je stärker Demokratie, der Vorrang des Völkerrechts und die Verurteilung von Kriegen vom sogenannten Westen zum moralischen Kompass von Außenpolitik stilisiert werden, wenn doch offensichtlich ist, dass Kriege, Völkerrechtsbrüche von vielen Akteuren weltweit zu verantworten sind und immer waren. Der deutsche Bundespräsident Gustav Heinemann hat einst das schöne Wort geprägt: „Wer auf andere mit dem ausgestreckten Zeigefinger zeigt, der deutet mit drei Fingern seiner Hand auf sich selbst.“

Zweitens: Auch die Demokratien und die Rechtsstaaten in den USA und bei einigen EU-Mitglieder sind gefährdet. Nicht nur der Sturm auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 und die ungebrochene Sympathie für Donald Trump einer signifikanten Bevölkerungsgruppe in den USA ist offensichtliches Zeugnis hiervon. Hinzu kommen Tendenzen zur „illiberalen Demokratie“, die zum Beispiel der ungarische Ministerpräsident Orbán offen als Zukunftsmodell für Ungarn benannt hat.

Drittens: Gleichzeitig dürfen die Kritiker einer westlichen Ordnung nicht übersehen, dass der Multilateralismus der Nachkriegszeit ab 1945 zumindest eine nukleare Katastrophe verhindert und auch den Aufstieg zumindest einiger Länder des globalen Südens ermöglich hat. 

Viertens: Die These, dass Demokratie, Frauenrechte oder Pressefreiheit nur westlichen Vorstellungen entsprächen, entbehrt jeder Grundlage. Wer so etwas behauptet ist entweder zynisch, möchte vor allem den eigenen Machterhalt sichern oder hat noch nie mit Menschen gesprochen, die sich auf der ganzen Welt für entsprechende Rechte einsetzen.

Der globale Süden braucht den globalen Norden so dringend, wie der Norden den Süden braucht.

Um jedes Missverständnis vorzubeugen: Mir geht es nicht um eine Relativierung von Demokratien oder Menschenrechten. Ich möchte auch nicht funktionierende Demokratien mit autoritären Staaten gleichsetzen. Ich warne nur vor einem alles umfassenden Moralismus in der Außenpolitik, an dessen Anspruch jeder Staat letztlich scheitert, der oft zurecht den Vorwurf der Doppelmoral auslöst, und der die dringend notwendigen Lösungen für die großen planetarischen Krisen zumindest erschwert und im schlimmsten Fall sogar mit auslöst.

Der globale Süden braucht den globalen Norden so dringend, wie der Norden den Süden braucht. Es gibt aus sehr nachvollziehbaren Gründen Misstrauen, die lebendige Erinnerung an historische Schuld und heute noch bestehende tägliche Unrechtserfahrung. Wer dies berücksichtigt, wird mit mehr Empathie die internationalen Gespräche führen und mit weniger Belehrung: Denn zu sehr sind wir als Menschen, Völker und Staaten auf gemeinsames Handeln angewiesen, wenn wir überleben wollen.

Das schließt aber nicht aus, dass zum Beispiel bei internationalen Handelsabkommen menschenrechtliche, ökologische und soziale Standards Teil des Verhandlungspakets sind, es schließt nicht aus, Demokratiebewegungen von außen zu unterstützen und es schließt auch keine Sanktionen aus – gerade bei letzterem, haben sich in den letzten Jahren auch zivilgesellschaftliche Formen der Sanktionierung entwickelt.

Es ist dringlich, dass die noch bestehenden internationalen Gesprächsformate zur Rettung des Planeten genutzt werden.

Gleichzeitig ist aber dringlich, dass die noch bestehenden internationalen Gesprächsformate zügig und mutig für wuchtige Initiativen zur Rettung des Planeten genutzt werden. Beim Treffen der Regierungschefs anlässlich des G20-Gipfels auf Bali Mitte November, wäre es zum Beispiel ein Wendepunkt, wenn es gelänge, den globalen Süden für eine Klima-Initiative zu gewinnen, die mehr Tempo bei der Dekarbonisierung auslöst. Damit könnte das COP27 Treffen in Sharm El-Sheik neuen Schwung bekommen, das unmittelbar auf den G20-Gipfel folgt. Und damit könnte im besten Fall eine neue Dynamik entstehen, die in den Gipfelketten der UN, der G20 und regionalen Organisationen ihren Niederschlag finden.

Denn der lobenswerte Versuch der deutschen G7-Präsidentschaft in diesem Jahr, das Pariser Klimaabkommen durch einen „Klimaclub“ voranzubringen, wird erst dann wirkungsmächtig, wenn China, Indien und andere CO2-Großemittenten diesem Klub beitreten. Dabei ist es eine Chance, das auf die indonesische G20-Präsidentschaft Indien, Brasilien und Südafrika folgen, weil damit der Fokus bei den G20 auf dem globalen Süden liegt. 

Bei einer Zustimmung zu dem von der deutschen Bundesregierung initiierten Klimaclub geht es natürlich nicht darum, dass der globale Süden einer G7-Initiative folgt, an dessen Konzipierung er nicht beteiligt war. Vielmehr könnten Länder, die vom Klimawandel am heftigsten betroffen sind, im wohlverstandenen Eigeninteresse neuen Schwung in die internationalen Klimaschutzbemühungen bringen, wenn sie diese neue Initiative unterstützen. Der Klimaklub, der offen konzipiert ist – auch wenn der Begriff „Klub“ ärgerlicherweise etwas anderes suggeriert – könnte seine Hebelwirkung sogar noch deutlich verstärken, in dem er zivilgesellschaftliche Bewegungen wie Fridays For Future ernsthaft einbezieht und überdies den vielen Initiativen aus der Wirtschaft für eine Dekarbonisierung ein Angebot auf Augenhöhe unterbreitet.

Dem Beispiel Klima müssen natürlich weitere Anwendungsfälle für internationale Initiativen folgen: Bei Pandemien ist es offensichtlich, dass sie nur gemeinsam weltweit überwunden werden können. Hierfür ist eine Etablierung der Gesundheitsver- und -vorsorge als globales, öffentliches Gut notwendig, was in bestimmten Fällen den Patentschutz beschränken muss und den Aufbau auch von Produktionskapazitäten von Vakzinen und anderen Medikamenten zum Beispiel in Afrika notwendig macht. Bei Pandemien gilt: Niemand ist sicher, solange nicht alle sicher sind.

Die Themenliste lässt sich fortsetzen: Auch die Bereiche Sicherung der Biodiversität, die Überwindung von Armut in und zwischen den Gesellschaften, und die Rüstungskontrolle sind Herausforderungen mit planetarischer Dimension, die über unsere Zukunft entscheiden. Und diese Generation wird zusätzlich einen regelbasierten Umgang für das digitale Zeitalter finden müssen, wenn die digitale Disruption unser Zusammenleben, unsere Sicherheit, unsere Gesellschaften, unsere Wirtschafts- und Handelbeziehungen und unsere Werte nicht vollständig untergraben sollen.

Dieser Text ist in Erinnerung an alte Rüstungskontrollvereinbarungen ein Plädoyer für einen innovativen und fairen Multilateralismus und die kreative Nutzung bestehender internationaler Institutionen, am „Vorabend“ des G20-Gipfels und der COP27.

Dr. Markus Engels ist Generalsekretär der Global Solutions Initiative (GSI), einem internationalen Think Tank Netzwerk, das sich für eine Neuausrichtung zu mehr Nachhaltigkeit, gesellschaftlicher Solidarität und individuellem Empowerment einsetzt. Die GSI ist unabhängig und formuliert u.a. Empfehlungen für die G20.

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