Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

Dieses Gedicht gehört möglicherweise nicht zu den literarisch besten des Journalisten, Historikers und Dichters Theodor Fontane. Aber zu den eindrucksvollsten, vielleicht sogar am nachhaltigsten wirkenden zählt sein „Trauerspiel von Afghanistan“ auf alle Fälle. 1859 beschrieb der damals in England lebende und als Korrespondent arbeitende Fontane ein Ereignis, das sich 17 Jahre zuvor ereignet und seither traumatisch in das Selbstbewusstsein der Weltmacht Großbritannien eingebrannt hatte. Es war nicht nur die Vernichtung einer ganzen Armee plus zivilem Tross mit Frauen und Kindern (insgesamt mehr als 13 000 Personen), sondern die erste britische Niederlage in einem Kolonialkrieg überhaupt.

Mehr als nur eine Ähnlichkeit

Die seinerzeitige militärische Tragödie mit den zusätzlich vielen tausend zivilen Opfern in dem zentral-asiatischen Land rückt nicht zufällig gerade jetzt wieder in das öffentliche Bewusstsein. Was sich damals, während des sogenannten Ersten Anglo-Afghanischen Krieges, abspielte, weist mehr als nur eine Ähnlichkeit mit dem Desaster auf, das aktuell die USA und ihre europäischen Verbündeten nach 20 Jahre vergeblichen Bemühens erlebten, dort Frieden und Demokratie zu etablieren. Die Briten waren nicht nur einmal mit dem Vorhaben gescheitert, in jener Region die Vorherrschaft zu erringen, sondern mit gleich drei verlustreichen Kriegen. Genau wie in unserer Zeit die hochmodernen und bis an die Zähne bewaffneten Mächte Sowjetunion und USA.

Erster Anglo-Afghanischer Krieg

Das 1859 von Theodor Fontane in Versen erzählte Debakel vollzog sich im kalten, schneereichen Januar 1842. Es beschreibt das Ende des kläglich gescheiterten britischen Versuchs, in Afghanistan ein London zugeneigtes Königreich zu etablieren. Nach mehreren Stammes-Aufständen war die in Kabul eingerichtete Garnison nicht mehr zu halten. In zähen Verhandlungen und unter Zurücklassung ranghoher Geiseln erreichten sie „freies Geleit“ plus Eskorte für 690 britische und 2820 indische Soldaten sowie mehr als 9000 Zivilpersonen, einschließlich vieler Frauen und Kinder. Zwischenziel sollte das etwa 140 Kilometer entfernte Dschalalabad sein.

Die Zusage nicht eingehalten

Doch die afghanischen Stammesoberen hielten sich nicht an die Zusage. Während eines Überfalls am 8. Januar bei starkem Schneefall und extremer Kälte starben auf Seiten der Flüchtenden rund 3000 Menschen, zwei Tage später an einem Bergpass weitere 2000. Der demoralisierte Rest wurde schließlich am 31. Januar 1842 von den Afghanen entweder getötet oder gefangen genommen. Nur ein einziger überlebte das Gemetzel – der junge Militärarzt William Brydon erreichte Dschalalbad. „Einer kam heim aus Afghanistan“.

Genau wie heute hatten natürlich auch die damaligen Ereignisse politische Hintergründe. Die See- und Weltmacht Großbritannien sah sich einem Konkurrenzkampf mit Russland um die Vormacht in Zentralasien ausgesetzt. Die Lords an der Themse waren in Sorge um einen möglichen Griff des Zaren nach Indien. Und Afghanistan bildete eine Art Landbrücke – oder halt auch einen Puffer. „Great Game“ nannten die Briten den damaligen Konflikt und verstrickten sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in drei desaströse Kriege am Hindukusch. Anderthalb Jahrhunderte später schnappten die Russen (in Gestalt der Sowjetunion) doch noch zu – um am Ende ebenfalls zu scheitern.  

 

 

Das Trauerspiel von Afghanistan

Theodor Fontane

Der Schnee leis stäubend vom Himmel fällt,
Ein Reiter vor Dschellalabad hält,
“Wer da!” – “Ein britischer Reitersmann,
Bringe Botschaft aus Afghanistan.”

Afghanistan! Er sprach es so matt;
Es umdrängt den Reiter die halbe Stadt,
Sir Robert Sale, der Kommandant,
Hebt ihn vom Rosse mit eigener Hand.

Sie führen ins steinerne Wachthaus ihn,
Sie setzen ihn nieder an den Kamin,
Wie wärmt ihn das Feuer, wie labt ihn das Licht,
Er atmet hoch auf und dankt und spricht:

“Wir waren dreizehntausend Mann,
Von Kabul unser Zug begann,
Soldaten, Führer, Weib und Kind,
Erstarrt, erschlagen, verraten sind.

Zersprengt ist unser ganzes Heer,
Was lebt, irrt draußen in Nacht umher,
Mir hat ein Gott die Rettung gegönnt,
Seht zu, ob den Rest ihr retten könnt.”

Sir Robert stieg auf den Festungswall,
Offiziere, Soldaten folgten ihm all’,
Sir Robert sprach: “Der Schnee fällt dicht,
Die uns suchen, sie können uns finden nicht.

Sie irren wie Blinde und sind uns so nah,
So lasst sie’s hören, dass wir da,
Stimmt an ein Lied von Heimat und Haus,
Trompeter blast in die Nacht hinaus!”

Da huben sie an und sie wurden’s nicht müd’,
Durch die Nacht hin klang es Lied um Lied,
Erst englische Lieder mit fröhlichem Klang,
Dann Hochlandslieder wie Klagegesang.

Sie bliesen die Nacht und über den Tag,
Laut, wie nur die Liebe rufen mag,
Sie bliesen – es kam die zweite Nacht,
Umsonst, dass ihr ruft, umsonst, dass ihr wacht.

“Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
Vernichtet ist das ganze Heer,
Mit dreizehntausend der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan.”

 

 

 

- ANZEIGE -