Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

In der Tierwelt soll es nicht selten vorkommen, dass bestimmte Verhaltensweisen sozusagen genetisch weiter vererbt werden. Tatsächlich haben Biologen in der Rhön Rehe – vereinzelt und im Rudel – beobachtet, wie sie auch viele Jahre nach dem Ende der deutschen Teilung den Streifen nicht überquerten, wo vorher jahrzehntelang die von Stacheldraht und Minenfelder bewehrte Todeszone allen Lebewesen das Passieren verwehrt hatten. Ob das menschliche Erbgut vielleicht ebenfalls über ähnliche, von Generation zu Generation weiter getragene, Informationen verfügt? Dann würde das ja bedeuten, dass zwischen den hoffnungslos überfüllten und zumeist aus den Großstädten ins bäuerliche Umland führenden Zügen vor mehr als sieben Jahrzehnten und verschiedenen leeren Regalen in den deutschen Supermärkten heute  ein direkter Zusammenhang bestünde.

„Hamster-Züge“ nannte man das, was damals auf den Gleisen rollte. Und „hamstern“ war das, was Tausende und Abertausende antrieb. Die Notwendigkeit nämlich, zu versuchen, wenigstens ein paar Eier, Kartoffeln oder Speck einzutauschen. Nicht gegen Geld, denn die Reichsmark war wertlos. Oft wechselten Schmuckstücke, Eheringe, wertvolle Uhren die Besitzer. Und meistens waren Bauern die neuen Besitzer. Ein böser Spruch lautete seinerzeit, die Bauern legten sogar ihre Ställe mit Teppichen aus; das schlechte Image dieses Berufsstands hielt ziemlich lange an. „Hamstern“, das war – jedenfalls in jenen ersten Jahren nach dem Krieg – eine Frage des Überlebens. Zwischen der Zeit damals und unserer jetzigen wuchsen allerdings mindestens drei (eher vier) neue Generationen auf. Und zwar größtenteils in Perioden wachsenden Wohlstands.

Trotzdem werden in den Supermärkten schon wieder manche Artikel rationiert verkauft, weil eine beträchtliche Anzahl von Bundesbürgern fast panisch „bunkert“. Nicht zum ersten Mal, übrigens. Sondern praktisch immer dann, wenn es irgendwo in der Welt kriselt. 2015, zum Beispiel, als das Heer von Flüchtlingen und Vertriebenen vor allem aus Nahost in unseren Breiten Zuflucht suchte. So wie damals werden auch jetzt wieder Waren in Massen heimgeschleppt. Ganz zuvorderst Toilettenpapier und Speiseöl, aber auch gehörig viele weit weniger lang haltbare Artikel und Lebensmittel. Wie viele davon werden wohl schon in Kürze auf dem Müll landen? Ist Kaufwut demnach eine, sozusagen, genetische Erblast von unseren hungernden Altvorderen?

Nun steht ja wirklich außer Frage, dass sich die Dinge auf der Welt um uns herum dramatisch verschlechtert haben. Nach dem von Russlands Präsidenten Wladimir Putin befohlenen brutalen Überfall auf die Ukraine mit all seinen menschlichen, politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen praktisch auf das gesamte Weltgeschehen können eigentlich nur noch völlig hoffnungslose Tagträumer an jene „Friedensdividende“ glauben lassen, von deren ewiger Existenz viele Menschen (vor allem in Deutschland) tatsächlich lange überzeugt waren. Was hilft es jetzt noch, wenn Realisten erbittert daran erinnern, wie sie von der Mehrheitsgesellschaft als „kalte Krieger“, „ewig Gestrige“ oder „Rechte“ in verfemte Ecken gedrängt wurden, weil sie zu Vorsicht und Beibehaltung der Wehrhaftigkeit mahnten?

Das Erwachen aus wohligen Träumen ist immer bitter, nicht selten erschreckend. Aber welche Konsequenzen werden nun aus der neuen, bitteren Realität gezogen von Menschen, die – ebenso wie ihre Eltern und teils auch ihre Großeltern – aufgewachsen sind in einer ganz anderen Normalität. In einer „Normalität“, die sich nun ganz plötzlich als bloße Scheinnormalität erweist? Von Zeitgenossen, die nur erlebt haben, dass es vorwärts und ökonomisch stetig aufwärts geht? Denen immer mehr von der Welt offenstand – beruflich, touristisch, schulisch? Die sogar ein (im Sinne des Wortes) grenzenloses Europa mit einheitlicher Währung erfahren konnten? Menschen, denen allerdings auch mehr und mehr Verantwortung für das eigene Wohlergehen vom „sozialen Staat“ abgenommen wurde? Die (einmal daran gewöhnt) von diesem dann freilich auch immer mehr Wohltaten und öffentliche Leistungen einforderten – „schließlich zahle ich ja genug Steuern!“

Zu dem – erneut entdeckten – Begriff „Hamstern“ gehört eigentlich das Gegenstück „Verzicht“. Noch ist in unserer Gesellschaft davon nicht viel zu hören. Noch ist – zum Glück – stattdessen die Spendenbereitschaft zugunsten der Opfer dieses unsäglichen Krieges in der Ukraine und der vielen schlimmen Dinge anderswo auf diesem Erdball groß. Aber die Boten und Künder magerer Zeiten sind ja schon da. Explodierende Preise für Gas, Öl und (entsprechend) Strom, existenzgefährdende Unterbrechungen von Lieferketten für industrielle Schlüsselbereiche, Pleiten bei an sich gut aufgestellten Unternehmen, infolge des Doppelschlags von Corona und Krieg, drohende Arbeitslosigkeit… Noch reagieren Öffentlichkeit und Politik mit jener Rhetorik, die sich in mehr als einem halben Jahrhundert eingeschliffen hat – der Staat müsse eingreifen, helfen, für Abhilfe sorgen.

Aber wie lange kann der das noch? Weil sich dieser Staat – durchaus getragen von einer reiten gesellschaftlichen Zustimmung – derartig abhängig gemacht hat von russischen Öl- und Gas-Lieferungen, kann er die dadurch entstandene Situation nicht von heute auf morgen  verändern. Darum wird er, zum Beispiel, die mehr als drastisch angestiegenen Preise für Benzin und Diesel auch nur in begrenztem Maße abfedern können. Es sei denn, er würde tiefe Einschnitte ins soziale Netz vornehmen und/oder die ohnehin bereits so arg vernachlässigte nationale Verteidigungsfähigkeit (entgegen allen Festlegungen) weiterhin schludern lassen.

Man kann es drehen und wenden, wie man will – wir Deutsche werden künftig auf manche lieb gewonnene Annehmlichkeit verzichten müssen. Und zwar auf eine nicht zu überblickende Zeit. Und wir alle werden selber wieder lernen müsse, was wirklich notwendig ist oder verzichtbar. Die Generation, die noch Not kannte und notfalls Solidarität und Nachbarschaftshilfe, steht für lebenskundige Lehren und Anleitungen nicht mehr zur Verfügung. Das wahllose Einlagern von Klo-Papier, Sonnenblumenöl und Zucker ist jedenfalls keine Antwort auf die Frage nach Fähigkeit und (mehr noch) Bereitschaft zum Verzicht. Die angenehmen, mehrmaligen,  Wochenurlaube in Italien – die Spritpreise werden zur Sparsamkeit mahnen. Das jeweils neueste Smartphone? Eher unwahrscheinlich, dass es eine Selbstverständlichkeit bleibt. Möge hier jeder seine eigene Reihe fortsetzen.

Putins Krieg gegen die Ukraine ist schon für sich genommen eine Katastrophe. Aber das Geschehen dort wird das Zusammenleben und -wirken der Menschen und Staaten rund um den Erdball radikal verändern, Bundeskanzler Olaf Scholz hat von einer Zeitenwende gesprochen. Es steht zu befürchten, dass es eine Wende zurück ist. Wie weit, weiß heute niemand. Aber die Skala der Besorgnisse ist durchaus nach oben offen.

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

 

 

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