Rezension von Dr. Aide Rehbaum
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Ulrike Draesner: Die Verwandelten

Ulrike Draesner © Dominik Butzmann

Schwere Kost, dieser neue Roman der 1962 geborenen Autorin, sowohl vom Thema als auch vom Stil her. Mit diesem Stoff versucht Draesner eine Darstellung hauptsächlich von Kriegsende und Nachkriegszeit mit Handlungsfäden, die in die Gegenwart reichen. Kulisse ist vorwiegend Breslau, das auch für die späteren Generationen, die die Stadt vor dem Krieg nicht kannten, zum Familienankerpunkt wird.

Die zugrundeliegenden Übergriffe der Soldaten, Hunger, Verluste und gebrochene Persönlichkeiten sind als Tatsachen bekannt. Die Schrecken aus Frauensicht so in Worte zu fassen, dass sie unter die Haut gehen, ist ein schwieriges Vorhaben. Sinnbildlich dafür schreibt Draesner in einer streckenweise genauso gebrochenen Sprache aus Satzfetzen, Worterfindungen, Mischung aus Polnisch und Deutsch, Durchstreichungen und Gedankenblitzen. Das verlangt vom Leser ein ständiges Hinterherfühlen und Interpretieren und macht den Text sperrig wie eine mühevolle Rekonstruktion. Die ausformulierten Szenen berühren den Leser als Achterbahn des Grauens.

Draesner nimmt sich die Frauen einer Familie aus mehreren Generationen vor. Die unchronologische Herangehensweise hat eine verwirrende Vielzahl von Erzählsträngen auch innerhalb einzelner Kapitel zur Folge, deren Protagonisten einer Annäherung widerstreben. Die Sprachlosigkeit ist der einen Hilfe zum Überleben, der andern eine Barriere zur Weiterentwicklung. Da so viel Unausgespochenes zwischen den Generationen liegt, bleibt den Frauen verschlossen, was ihre Depressionen verursacht.

Jede für sich trägt gewaltige Lasten Verdrängtes mit sich herum: als Kind von der Mutter abgeschoben, von Eltern verlassen und belogen, vergewaltigt, unerwünscht schwanger, geschieden. Der Bogen spannt sich von Lebensborn-Adoptionen, Naziideologie bis zu Identitätswechsel. Mehrere Frauen sind Geliebte eines verheirateten Mannes, andere hatten Fehlgeburten, plötzlichen Kindstod und anderes Entsetzliches mehr erlebt. Allmählich gelingt es dem Leser die Zusammenhänge zusammenzureimen. Kein Buch zum Einschlafen, das man so nebenbei entspannt konsumieren kann, aber Grund genug, das Buch mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds auszuzeichnen .

 

Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, wurde für ihre Romane und Gedichte vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie den Preis der LiteraTour Nord, den Bayerischen Buchpreis, den Deutschen Preis für Nature Writing, den Ida-Dehmel-Literaturpreis (alle 2020) sowie den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds (2021). Von 2015 bis 2017 lehrte sie an der Universität Oxford, seit April 2018 ist sie Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Draesner lebt in Berlin und Leipzig.

 

 

 
 
ORIGINALAUSGABE
Hardcover mit Schutzumschlag, 608 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-328-60172-2
Erschienen am  08. Februar 2023
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