Von GünterMüchler

Günter Müchler

Wer sich ein Bild von der Gegenwart machen will, greift gern auf die Vergangenheit zurück. Wie war das damals? Haben wir das nicht alles schon einmal erlebt? Dieser Methode bedient sich auch die Politikwissenschaft. Oft ist das hilfreich. Analogien können Durchblick schaffen und das Verständnis erleichtern. Mitunter führen sie jedoch auch in die Irre. Ein Beispiel liefert die gegenwärtig breit geführte Diskussion um die Krise der Demokratie.

Wann ist die Demokratie in Seenot? Ab wann ist es Zeit, SOS zu senden? „Weimar“ wird oft als Erklärungsmuster offeriert. Schulmeinung ist, mit der ersten deutschen Republik sei es den Bach herunter gegangen, als die Massenarbeitslosigkeit begann, das Kleinbürgertum Statusangst erfasste und eine charismatische Führungsperson auftauchte, der es leichtfiel, die Hoffnungslosen zu benebeln.

Leider hilft der Hinweis auf „Weimar“ in der heutigen Situation nicht weiter. Gewiss, die Wirtschaft läuft nicht rund, in ganz Europa nicht. Einige Länder kämpfen mit der Rezession, Deutschland auch. Investoren investieren nicht, Konsumenten halten ihr Geld zusammen. Hinzu kommt die dunkle Ahnung, von den Großthemen Klima und Verteidigung in stürmische Wetterzonen zu gelangen, in denen jeder Tag Kap Hoorn ist.

Andererseits: Blanke Not herrscht nirgendwo. Die Heizung läuft. Bei Dunkelflaute importiert man eben Atomstrom. Nahrungsmittel sind erschwinglich und reichlich. Die oft gescholtene konventionelle Landwirtschaft hat dafür gesorgt, dass Hunger in Europa ein Fremdwort ist. Um unseren Wohlstand werden wir beneidet. Jahr für Jahr verlassen Hunderttausende ihre Heimat und versuchen bei Gefahr für Leib und Leben, Europas Gestade zu erreichen. Massenarbeitslosigkeit? Wahrheit ist, dass für eine Masse Arbeit die Menschen fehlen.

Die Politik kann aber die Krisenzeichen nicht ignorieren. Sie scheut es jedoch, die Bequemlichkeit des Schlafwagens aufzugeben. SPD und Grüne, die letztverbliebenen der Ampelkoalition, halten am Bürgergeld fest und suggerieren: Bei uns wird auch dem geholfen, der sich nicht selber hilft. Die teure Frührente mit 63 ist für unantastbar erklärt. Neue Aufgaben sollen durch neue Schulden finanziert werden. Kein Gedanke daran, aus dem Sozialhaushalt, dem größten Etat, etwas Luft rauszulassen. Auch die CSU kann es nicht lassen. Ihre Forderung nach mehr Mütterrente entspricht dem Ziel der Haushaltssanierung so wenig wie Robert Habecks Stilllegung funktionierender Kernkraftwerke dem Ziel der CO 2-Senkung entsprach. Nein: materielle Not kann es nicht sein, was die AfD nährt.

Charismatische Persönlichkeiten? Zweifellos ist der Trumpismus erfolgreich. Er ist so erfolgreich, dass am 20. Januar ein verurteilter Straftäter ins Weiße Haus einziehen darf, ein Immobilienhändler, der Grönland und Panama kaufen will, obwohl die Immobilien gar nicht am Markt sind. Glücklicherweise lässt sich ein Donald Trump nicht klonen; er ist ein Einzelphänomen. Bei den rechtspopulistischen Parteien in Europa ist Personal mit Strahlkraft freilich Mangelware. In Österreich wird demnächst wohl der FPÖ-Politiker Bundeskanzler sein. Und das obwohl er, anders als der verblichene Jörg Haider, gerade kein Charismatiker ist. Die AfD hat Alice Weidel und Tino Chrupalla zwei ausgesprochene Bleichgesichter als Führungsduo, die wohl nur ein globaler Schwadroneur wie Elon Musk für Deutschlands letzte Rettung halten kann.

Aber der AfD haben die vielen Skandale und internen Ringkämpfe nicht geschadet. Und so kann man davon ausgehen, dass, um den Genossen Erich Honnecker ein wenig abzuwandeln, die AfD in ihrem Lauf auch Ochs und Esel an der Führungsspitze nicht aufhalten werden. Auf die Rechtspopulisten finden offenbar bestimmte Gesetze des politischen Wettbewerbs keine Anwendung. Zwar dürfte ihr Stimmenanteil am 23. Februar nicht durch die Decke gehen. Aber auch wenn es dabei bleiben sollte, dass 80 Prozent der Wähler ein anderes Kästchen ankreuzen, dürfte es nicht einfach sein, um die Rechtspartei herum eine Mehrheit zu bilden. Markus Söder scheint der Einzige zu sein, der das noch nicht verstanden hat.

Ein anderes Abziehbild für die Krise der Demokratie ist der „Osten“. Es führt genauso in die Irre wie „Weimar“. Richard Schröder, langjähriger Vorsitzender der Deutschen Nationalstiftung und kluger Sozialdemokrat, hat kürzlich in der FAZ darauf hingewiesen, dass die AfD im Osten zwar besonders erfolgreich, deshalb ab er noch lange keine Ostpartei ist. Tatsächlich wurden die, die in der AfD das Sagen hatten und haben, in Westdeutschland sozialisier. Der Parteimentor Alexander Gauland ebenso wie Bjorn Höcke. Timo Chrupalla ist die große Ausnahme. Erinnert sei ferner daran, dass die AfD in Bayern zuletzt an die 15 Prozent holte. Im Bezirk Niederbayern waren es sogar 18, eine Marke, die die AfD auch in etlichen Ruhrgebietsstädten erreichen könnte.

Man muss tiefer graben, um herausfinden, woher der Rechtstrend in Deutschland wie in ganz Europa kommt. Denn es ist ja so, fast jedes Mitgliedsland der Union hat seine AfD. Da muss wohl etwas bei den Trägern der liberalen Demokratie gründlich schiefgelaufen sein. Erinnern wir uns an die Zeit nach der Implosion des Ostblocks. Da schien der Siegeszug der Demokratie unumkehrbar. Die, die noch nicht zum Vereinten Europa gehörten, standen Schlange. Im Zuge der Osterweiterung 2004 traten nicht weniger als acht ehemals kommunistische Staaten der Union bei. Schlange gestanden wird noch immer. Allerdings ist der Überschwang dahin.

Die Schuld daran lässt sich nicht auf die komplizierten Strukturen und die bürokratische Übergriffigkeit „Brüssels“ abwälzen. Die Spaltung der Gesellschaften, die Polarisierung, die allerorten beklagt wird, müssen tiefere Ursachen haben. Welche? Die Frage wäre zuerst an die politischen Eliten zu richten, die jahrzehntelang in den Demokratien staatstragend waren. Eine Rechtsbewegung wie die AfD fällt nicht vom Himmel. Sie ist, wo sie ist, auf einem Platz, den ihr die Partien des demokratischen Zentrums überlassen haben.

Die Einsicht ist nicht weit verbreitet. Nur in Teilen von CDU und CSU gibt man zu, dass ein Hauptfehler der Regierung von Angela Merkel darin bestand, eine Partei rechts von der Union aufkommen zu lassen. Im Übrigen ist die Grundhaltung so: Die AfD wird als etwas wesenhaft Fremdes dargestellt, etwas, mit dem man nichts zu tun hat. Auf diesem Standpunkt verharren besonders die Grünen. Ihr Weltbild, das gut und böse fein säuberlich voneinander unterscheidet, schließt eine Mitverantwortung für den Erfolg der AfD grundsätzlich aus.

Das aber ist falsch, noch schlimmer: Es ist töricht. Denn wer der Ursachen einer selbstverschuldeten Karambolage nicht richtig analysiert, wird die nächste kaum vermeiden. Viel ist in den letzten Jahren auf die Gesellschaften in Europa eingeprasselt. Stichworte sind Migration und Anpassungsstress. Die Menschen sind veränderungsmüde. Die Digitalisierung hat den Alltag umgepflügt. Vor allem Ältere werden damit nicht fertig. Verändert hat sich auch das Gewebe der Gesellschaft. Die Entchristlichung geht weiter, eine Entwicklung, die mit dem religiösen Bekennerstolz kontrastiert, der die muslimische Einwanderung in Teilen auszeichnet. Auch die Bindung an andere Institutionen lässt nach. Das Gefühl nimmt zu, fremd zu sein und von Politik und Medien übersehen zu werden. Die Wut, ständig bevormundet zu werden, wächst.

Identitätspolitik ist ein vager Begriff. Unter ihn fällt vieles, was den Zusammenhalt der Gesellschaft schwächt: Die pathologischen Gerechtigkeitsdiskussionen, die doch nur bezwecken, Opfergruppen zu kreieren und Ansprüche zu stellen; dann das Gendern, die Infragestellung der Geschlechterrollen u.s.w. Die demokratischen Parteien können nicht so tun, als seien sie an diesen Trends unbeteiligt. Vor allem die Grünen und ihr Anhang haben sie gefördert und damit Scharen von Menschen in die Arme der AfD getrieben. Wer das nicht sehen will, lügt sich in die Tasche und sollte über das Anschwellen der AfD nicht klagen. 

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.    

       

 

 

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