von Günter Müchler

Günter Müchler

Mit welcher Absicht das Gutachten des Verfassungsschutzes noch zu Lebzeiten der alten Koalition an die Öffentlichkeit gelangte, darüber kann man nur spekulieren. Man hätte durchaus die paar Tage warten können, bis die neue Regierung im Amt war, zumal das Gutachten in seiner Essenz nur die allgemeine Erwartung bestätigte. Die AfD darf jetzt als „gesichert rechtsextremistisch“ bezeichnet werden und zwar in toto. In Teilen konnte man das schon vorher. Erwartbar war auch das zwiespältige Echo, das die Mitteilung des Verfassungsschutzes bisher gefunden hat. Diejenigen, die schon immer glaubten, man solle die AfD mit dem Zauberstab der Rechtsprechung aus dem Verkehr zu ziehen, haben nun ein starkes Argument. Andere bleiben bei ihrer Skepsis. Wieder andere empfehlen, gleichsam im Tausch gegen die Keule des Parteiverbots, Mitglieder der selbsternannten Alternative aus Amtsstuben und Schulen zu verbannen. Die AfD selbst hat Klage eingereicht. Sie fühlt sich als Opfer eine Hexenjagd.

Die frisch einsetzende Debatte um den richtigen Umgang mit der AfD war das erste von zwei üblen Taufgeschenken, die den Neuen in Berlin den Start kräftig verhagelten. Für das andere sorgten jene 18 Damen und Herren aus dem eigenen Stall, die unter Schutz und Schirm der geheimen Stimmabgabe ihr Mütchen kühlten und Merz in einen zweiten Wahlgang zwangen. Unserem Land, das in schwerer See um Stabilität ringt, leisteten sie damit einen Bärendienst. Nebenbei störten sie ein Fest der Demokratie. Der friedliche Machtwechsel ist ja etwas, das nur der Demokratie gelingt. Für ihn stellt das an sich spröde, auf Symbole und Zurschaustellung weitgehend verzichtende bundesrepublikanische Protokoll ein würdiges Zeremoniell bereit, das mit dem Großen Zapfenstreich für den ausscheidenden Amtsinhaber beginnt und mit der Eidesleistung des neuen Kanzlers endet. Merz war bei der Verabschiedung des Vorgängers im Hof des Bendlerblocks dabei; Scholz war der erste, der nach erfolgter Wahl dem neuen Kanzler gratulierte. Die Abweichler verdarben mutwillig diese Feier der Demokratie, deren Sinn zu erfassen ihr Horizont offenbar nicht ausreicht.

Zurück zur AfD: Das Gutachten des Bundesamtes für Verfassungsschutz verfestigt den Verdacht, dass von der AfD Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung ausgehen. Ihn hatte schon das nordrheinwestfälische Oberverwaltungsgericht in einem Urteil von 2024 geäußert. Im Visier ist vor allem das Volksverständnis der Partei, das nicht staatsbürgerlich, sondern ethnisch geprägt ist. „Konkret betrachtet die AfD zum Beispiel deutsche Staatsangehörige mit Migrationsgeschichte aus muslimisch geprägten Ländern nicht als gleichwertige Angehörige des durch die Partei ethnisch definierten deutschen Volkes“, heißt es in der Zusammenfassung der Prüfung.

Wer Zeitung liest, wird diese Beobachtung für ziemlich plausibel halten. Für die AfD gibt es unterschiedliche Klassen von Deutschen. Die mit dunkler Hautfarbe rangieren weit unten. Das Beste wäre, man würde sie los. Zur DNA der Bewegung gehört ferner die Verharmlosung der Nazi-Vergangenheit. Nicht dass man den Holocaust leugnen würde, das ginge denn doch zu weit und wäre strafrechtlich wohl auch zu riskant. Aber tief blicken lässt, wenn Alexander Gauland, einer der nicht eben zahlreichen intellektuellen Köpfe der Bewegung, das Dritte Reich mit seinen Verbrechen als „Vogelschiss“ bezeichnet, der neben tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte nicht ins Gewicht falle. Oder wenn, ins selbe geschichtsrevisionistische Horn stoßend, der eingewanderte Thüringer Björn Höcke eine „Schuldkult“ beklagt und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordert. Das Berliner Holocaust-Mahnmal hat Höcke eine Schande genannt.

Festzustellen, dass die AfD geographisch vom Kern des Grundgesetzes weit entfernt ist, ist eine Sache. Ein mögliches Verbotsverfahren hätte eine ganz andere Qualität. Nicht umsonst sind antragsberechtigt für ein Verfahren in Karlsruhe nur der Bundestag, der Bundesrat und die Bundesregierung. Wer den Fall vor das Bundesverfassungsgericht bringen will, nimmt das Risiko des Scheiterns auf sich. „Bedenke das Ende!“ steht in Großbuchstaben über der Abwägung, ob der Weg einer juristischen Klärung eingeschlagen werden soll oder nicht.

Schon einmal ist man in Karlsruhe vor die Wand gelaufen. Das Verbotsverfahren gegen die NPD endete in einem Fiasko, das nur deshalb keine weiteren Kreise zog, weil die NPD zum Zeitpunkt der Entscheidung nur eine Nummer unter ferner liefen war. Im Fall der AfD wäre der Scherbenhaufen unendlich größer. Die AfD ist im Bundestag die erste Oppositionsfraktion, das heißt nach den Regeln des Parlamentarismus die oberste Kontrollinstanz der Regierung.

In der Geschichte der Bundesrepublik wurden zweimal Parteien verboten, 1952 die Sozialistische Reichspartei (SRP), ein Sammelbecken von Alt-Nazis, 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), ein politischer Arm Moskaus. Das geschah in den Kinderjahren der Bundesrepublik, die noch ungefestigt war und nicht wusste, ob sie auf die eigene Kraft vertrauen konnte. Viel bewirkt hat der juristische Exorzismus nicht. Entscheidend dafür, dass der junge Staat zu einem Muster an Stabilität wurde, war kluges Regierungshandeln, das Wohlstand und Zufriedenheit herbeiführte.

Das Konzept der wehrhaften Demokratie, in dessen Namen ein Verbot der AfD erwogen wird, fußt auf den Erfahrungen der Weimarer Republik. Es soll den Feinden der Demokratie nicht noch einmal gestattet sein, unter Ausnutzung demokratischer Mittel die Demokratie zu zerstören. Die gute Absicht bringt die Demokratie allerdings in einen Zielkonflikt. Eine Partei verbieten, heißt, den Wählerwillen außer Kraft zu setzen. Wählern wird am Zeug geflickt, die nach dem Katechismus der Demokratie in ihrer Entscheidung ja frei sein sollen. Darf der demokratische Staat Gesinnungen zensurieren?

1972 wurde vom damaligen Bundeskanzler Willy Brandt und den Ministerpräsidenten der Länder der Extremisten-Erlass verfügt, besser bekannt unter dem Namen Radikalenerlass. Den Hintergrund bildeten der RAF-Terrorismus und die Unruhen an den Hochschulen. Zahllose Linksgruppen unterschiedlicher Provenienz übten den Barrikadenkampf und hielten mit lautstarken Parolen die Republik in Atem. Die meisten dieser Gruppen zogen einen Trennungsstrich zum mörderischen Ansatz der RAF. Sie wollten das „System“ ohne Gewalt aushebeln, von außen, als Außerparlamentarische Opposition (APO). Aber die Taktik des Anfangs änderte sich. Irgendwann blies Rudi Dutschke, charismatischer Sprecher der APO, zum „Marsch durch die Institutionen“. Infiltration war angesagt, und wie infiltriert man besten? Indem man in den Behördenapparat einsickert.

Genau da setzte der Radikalenerlass an. Darf man Extremisten als Lehrer auf Kinder loslassen und auch noch mit „Staatsknete“ belohnen? Weil die bloße Mitgliedschaft in einer zweifelhaften Partei – inzwischen war die verbotene KP als Deutsche Kommunistische Partei (DKP) wiederauferstanden – auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht für den Nachweis einer verfassungsfeindlichen Einstellung ausreichte, wurde eine gigantische Prüfungswelle eingeleitet. Mit Hilfe einer Regelanfrage wurden in den folgenden Jahren an die 3,5 Millionen Kandidaten für den öffentlichen Dienst durchleuchtet, überwiegend Kandidaten mit vermuteten linksextremen Neigungen. Der Ertrag war mit insgesamt 1250 abgewiesenen Bewerbern und 260 entlassenen Personen ziemlich dürftig, so dass sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Aufwands ganz von selbst stellte.

Zu beachten war allerdings, dass das Beamtengesetz schon immer und losgelöst vom Radikalenerlass von allen Öffentlich-Bediensteten verlangte, dass sie sich durch ihr Verhalten für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einsetzten. Das Konzept der wehrhaften Demokratie ließ also wenig Spielraum. In der Praxis des Erlasses erwies es sich als Falle. Denn es lieferte den Betroffenen die Munition, die sie brauchten, um das „System“ unter Dauerbeschuss zu nehmen. Hämisch setzte man die Ordnung des Grundgesetzes als “FDGO“ (freiheitlich-demokratische Grundordnung) herab. An den Pranger gestellt wurde der „Schnüffelstaat“. Bekämpft wurde der Verfassungsschutz als eine Art polit-kriminelle Vereinigung. Kampagnen gegen „Berufsverbote“ machten auch liberale Mitte mürbe, so dass die Regelanfrage, die so viel Wirbel verursachte, schließlich eingestellt wurde, zuletzt in Bayern 1991. Zurück blieb die Erkenntnis, dass der vernünftigen Sache mit dem Einsatz unvernünftiger Mittel kein Dienst erwiesen wird.

Die Erinnerung an den Radikalenerlass entbehrt nicht der ironischen Aspekte. Wenn man so will, gelang der Marsch durch die Institutionen. Aber die Infiltration verwandelte die Infiltranten. Manch einer von denen, die das „System“ mit Pflastersteinen bekämpften hatten, die „Gesinnungsschnüffelei“ skandierten und über die „FDGO“ höhnten fand sich bald auf den Abgeordnetenbänken des Deutschen Bundestags wieder. Aus Joschka Fischer wurde Joseph Fischer, als Minister Teil des Establishments, vor dem ihn immer gegraut hatte.

Nirgendwo wird die Ironie des Zeitverlaufs deutlicher als im Verhältnis der einstigen „FDGO“-Verächter zum Verfassungsschutz. Bis in die letzten Jahre hinein war das Kölner Bundesamt mitsamt den entsprechenden Länderbehörden für die politische Linke ein Ort des Misstrauens. Das änderte sich, als der Geheimdienst anfing, sich intensiv mit dem Rechtsradikalismus zu beschäftigen. Aus einem Gottseibeiuns wurde der Verfassungsschutz für Grüne und Linke zur Referenzstelle im „Kampf gegen rechts“.

Stimmen für ein Verbot der AfD kommen aus allen demokratischen Parteien. Auch die Gewerkschaft v.erdi hat sich dem Ruf angeschlossen. Die Antragsberechtigten – Bundesregierung, Bundesrat, Bundestag – sollten ihm Stimmen nicht folgen. Sicher ist die AfD eine Gefahr. Sie ist ein immerwährendes Ärgernis. Aber ein Verbot würde die Einstellungen und Ideen, die sie gefährlich machen, nicht aus der Welt schaffen. Eher ist zu befürchten, dass der Eigenschaden für die Demokratie bei einem Verbot größer wäre als der Fremdschaden. Die AfD hat bei der Bundestagswahl zwanzig Prozent der Stimmen eingeheimst, mancherorts gab jeder zweite Wähler seine Stimme für die Partei ab. Eine solche Partei zu verbieten, würde die Gefahr einer Staatskrise heraufbeschwören.

Man könne und solle die AfD nicht wegverbieten. Vielmehr müsse man sie wegregieren. Der Satz stammt vom neuen Bundesinnenminister Alexander Dobrindt und hat eine Menge für sich. Eine Regierung, die selbstbewusst ans Werk geht, Probleme beherzt anpackt, mit Überzeugungskraft zumutet und die Tonart des Verhandelns ganz allgemein von moll auf dur verlegt – eine solche Regierung könnte wohl mit Geduld der AfD das Wasser abgraben. Es wäre die richtige Aufgabe für eine Koalition der Arbeit.

 

- ANZEIGE -