Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

„Aber 83 Millionen sind daheim geblieben“. Was hätte Timo Chrupalla, der Vorsitzende der über viele Monate von Erfolgsmeldungen verwöhnten nationalkonservativen Rechtsausleger AfD denn anderes auf die Frage nach den vielen hunderttausend Demonstranten antworten sollen? Ja, es stimmt – es müssen immer noch viel mehr Menschen auf die Straßen und Plätze unseres Landes, um auch den letzten Wirrköpfen zu zeigen, dass man sich nicht all die teuer erkämpften Errungenschaften wie Freiheit, Selbstverantwortlichkeit, Demokratie, Weltoffenheit, Frieden, Wehrhaftigkeit, Mitmenschlichkeit, Wohlstand und noch Vieles mehr an politische Hasardeure abzutreten gewillt ist. Ziele und Werte, für die unsere Vorfahren nicht selten Leib und Leben riskierten und zu deren Verteidigung mehr als nur ein Volk Kriege gegen Diktatoren führten. Mit hohen Blutzöllen.

Es braucht also noch deutlich mehr solcher Ereignisse, wie sie in den vergangenen Tagen zu erleben waren. Aber gleichzeitig – was war es für eine Freude zu sehen, dass offensichtlich ein Funke übergesprungen zu sein scheint in jene gesellschaftliche „Mitte“, die nun einmal traditionell für die innere Stabilität eines Volkes sorgt. Zwar ist diese „Mitte“ auch in der jüngeren Vergangenheit immer gern als Demokratiegarantin beschworen worden. Aber die Wahlergebnisse in Bund, Ländern und Kommunen deuteten eher auf eine Besorgnis erregende Verschiebung der Stimmungen und Kräfteverhältnisse hin. Und nicht nur das. Nur wer ideologisch verklemmt Augen und Ohren gegenüber dem immer schlechter werdenden Miteinander zwischen „den“ Menschen und „der“ Politik verschloss, konnte von der sich zuspitzenden Dramatik im Staat wirklich überrascht sein.

Die politischen Leistungen, die noch miserableren Erklärungsversuche, zudem die schlecht bis gar nicht vorbereiteten Entscheidungen vor allem der Berliner Ampel-Koalition, deren mehr Gegen- als Miteinander – das alles ist nicht besser geworden. Auch in jüngster Zeit nicht. Und trotzdem mit einem Mal dieser Aufstand von unten! Nicht gegen „die da oben in Berlin“. Sondern eindeutig gegen jene immer dreister und unverhüllter auftretenden Kräfte, die überhaupt kein Hehl mehr aus ihrer Absicht machen, diesen Staat und vor allem dieses „System“ zerstören zu wollen. Es scheint so (zumindest ist es zu hoffen), dass fast blitzartig in der so oft berufenen gesellschaftlichen „Mitte“ die Gefahr bewusst wurde, welch kostbares Gut aufs Spiel gesetzt würde, wenn man aus – ja, mitunter auch berechtigter – Verärgerung den Lockrufen der Verführer folgte, deren erklärte Vorbilder Deutschland schon einmal in die Katastrophe geführt haben.

„Nie wieder“, hatte man beim Aufbau des demokratischen Deutschland geschworen, dürfe hierzulande solches auch nur gedacht werden. Mit „Nie wieder“ wurden Generationen von Schülern und Jugendlichen geimpft. Und mit einem Mal stellt sich – vielleicht sogar historisch und schicksalshaft – heraus, dass dieses „nie wieder“ tatsächlich genau „jetzt“ (und nicht erst morgen) eingelöst werden muss. So gesehen kann die jüngst auf den deutschen Straßen und Plätzen erfolgte hunderttausendfache Antwort auf die Attacken der neuen Nationalsozialisten um Björn Höcke und seinesgleichen auch nur der Anfang einer anhaltenden – hoffentlich sogar anschwellenden – Bewegung gewesen sein. Jetzt gilt es, dranzubleiben, den Nachweis zu erbringen, dass die Mehrheit wirklich auf dieser Seite steht. Und das bedeutet, nicht zuletzt, an den bevorstehenden Wahlen teilzunehmen und Flagge zu zeigen. Flagge für Freiheit und Demokratie.

Das ist allerdings nur die eine Seite der Medaille. Der andere, mindestens genauso schwerwiegende Part liegt bei den Regierenden. Wer sich hat wählen lassen, wer sich zum Regierenden berufen fühlt (und das ist nun wirklich kein Zuckerschlecken), der leistet einen Amtseid, der ihn verpflichtet, Schaden vom deutschen Volk abzuwehren und seinem Nutzen zu mehren. Jene, die dies Land und sein politisches System einst aufbauten, wussten um die Bürde. Viele von ihnen hatten Diktatur, Unfreiheit, Folter und Krieg am eigenen Leib verspüren müssen. Diese Erfahrungen sind jenen Heutigen erspart geblieben, deren Lebens- und Politikkarriere im Wesentlichen von den drei Sälen (Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal) bestimmt wurde. Dadurch aber wiegt deren Bürde nicht weniger.

Wer mit offenen Augen und Ohren durch den Tag geht, wer zuhört, was die Menschen bewegt und ihr Gerechtigkeitsgefühl in Bewegung bringt – wer sich also der Realität nicht einfach verweigert, der weiß seit Monaten, dass vor allem das Thema der praktisch unkontrollierten Massenzuwanderung und deren sozialen Auswüchsen an vorderster Stelle steht. Mitmenschlichkeit ist ein hohes Gut. Aber ein Staat ist keine Diakonie und kein Sozialverein. Wenn der Staat überfordert wird, hilft das niemandem mehr. Und es sind eben keineswegs nur die so gern zitierten „Einzelfälle“, wenn wieder einmal geradezu hanebüchene Beispiele von Sozialmissbrauch die Gemüter erhitzen. Es bedeutet überhaupt kein Entgegenkommen an die Rechtsausleger, wenn gesagt wird, dass in deren Fundamentalkritik an diesem „System“ auch Manches enthalten ist, was den Nerv der „normalen“ Bürger trifft.

Deshalb müssen Korrekturen an der aktuellen Berliner Politik vorgenommen werden. Und zwar je schneller (und überzeugender), desto besser. Fehler zu korrigieren, ist wahrhaftig keine Schande. Sie weiter zu begehen, kann dagegen in der Katastrophe enden. Doch erneut andererseits: Erich Käster, der große deutsche Lyriker, sagte einmal, die Nazis hätten 1928 von den Demokraten bekämpft werden müssen. 1933, nachdem die Macht erst einmal ergriffen war, sei es zu spät gewesen. Auch wenn die Geschichte sich nie in exakt derselben Weise wiederholt, so gibt es doch fast immer bedenkliche Parallelen. So auch jetzt. Die neuen Nazis müssen jetzt bekämpft werden, bevor es (wieder einmal?) zu spät sein könnte. Deshalb muss auch jeder Sympathisant der Rechtsaußen immer wieder gesagt bekommen, dass er wisse, worauf er sich einlasse. Ein „das-habe-ich-nicht-gewusst/gewollt“ wird es nicht geben und nicht akzeptiert. Und schon gar kein trotziges “Jetzt gerade einen Schuss vor den Bug“. Auch 1945 wollte keiner dabei gewesen sein…

 

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

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