Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

Politische Zeitenwende in Deutschland? Erstmals seit 16 Jahren eine Bundestagswahl ohne Angela Merkel als Kandidatin. Am Ende: Schwere Schlappe für CDU/CSU und Armin Laschet. Sieger: Olaf Scholz und die SPD, dazu auch die Grünen und die Freien Demokraten. Aber gewonnen ist tatsächlich noch gar nichts. Oder vielleicht allerhöchstens ein bisschen.

Nun liegen die Zahlen und Namen auf dem Tisch. In vielen Kommentaren heißt es, eine „Zeitenwende“ habe stattgefunden. Ist das wirklich der Fall? Richtig ist, das Ergebnis stützt die These, dass in den vergangenen vier Legislaturperioden in allererster Linie Angela Merkel als Person für die Erfolge der CDU/CSU verantwortlich war. Jetzt ist die Partei mit Armin Laschet als neuem Spitzenmann dramatisch geschrumpft. Triumphieren konnte (wenn auch nur mit hauchdünnem Vorsprung) die SPD. Um genau zu sein – es war der bisherige Bundesfinanzminister Olaf Scholz und gewiss nicht die Partei, denen das, noch vor wenigen Wochen unvorstellbare, Ergebnis zu verdanken war.

Scholz also hat bei dieser Bundestagswahl gesiegt, wenn man nur die Zahlen gewichtet. Aber damit hat er lange noch nicht gewonnen. Denn, man spürt es schon, jetzt wird es erst richtig losgehen. Mit dem Zusammenschmieden der künftigen Regierung, nämlich. Die beiden Haupt-Konkurrenten, Olaf Scholz und Armin Laschet, trennen lediglich 1, 7 Prozentpunkte. Und das ermöglicht es dem Unterlegenen, theoretisch und rechnerisch ebenfalls eine Parlamentsmehrheit hinter sich zu scharen. Skurril an dieser Situation ist freilich, dass alle zwei Möchtegern-Regierungschefs um genau dieselben Majoritätsbeschaffer buhlen – um die Grünen und um die Freien Demokraten.

Allerdings steht Laschet, der bisher fraglos recht erfolgreiche Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen als größtem deutschen Bundesland, unter besonderem Druck. Sollte er es nicht schaffen, Scholz und die SPD beim Kampf um den Einzug in das Berliner Kanzleramt doch noch auszustechen, wäre damit eher über kurz als über lang das Ende seiner politischen Karriere eingeläutet.

Aber wäre das schon eine Zeitenwende? Diese Bundestagswahl vom 26. September 2021 bedeutet auf jeden Fall eine Niederlage in historischen Dimensionen für die Partei, die in Deutschland seit Kriegsende am längsten und häufigsten die Regierungen stellte – die CDU/CSU. Sie verlor am vergangenen Sonntag mehr als fünf Millionen Stimmen. Ein Vergleich mit dem Urnengang vor vier Jahren zeigt das Ausmaß des Fiaskos. Von den damals 15,3 Millionen „Merkel-Wählern“ blieb dieses Mal nur etwas mehr als die Hälfte (7,8 Millionen) den christdemokratischen und -sozialen Parteien treu. Unterm Strich verloren Armin Laschet und die Union rund drei Millionen Unterstützer vor allem an SPD, Grüne und FDP.

Wer vom Wahlvolk dermaßen gebeutelt wurde, muss schon ziemlich viel Mut und Trotz aufbringen, um dennoch den Anspruch auf das Regierungsamt zu erheben. Oder aber die Verzweiflung ist groß, weil im Falle eines Scheiterns nicht nur das Ende von Laschets politischer Karriere droht, sondern – deutlich schlimmer noch – ein möglicherweise zerstörerischer Zwist innerhalb der zwei konservativen Schwesterparteien. Im Gegensatz zu der ja immer noch aus den einstigen sozialistischen Wurzeln gespeisten Sozialdemokratie baut die CDU/CSU auf keinerlei Ideologie. Im Grunde ist sie zum Regieren gezwungen, um den Nachweis zu erbringen, dass sie gebraucht wird. Und das ist ihr in der deutschen Nachkriegsgeschichte im Großen und Ganzen gelungen – und dem Land auch gut bekommen.

Entsprechend groß sind dort auch stets das Ansehen und die innerparteiliche Unterstützung der jeweiligen Personen, die der Partei die Staatsführung garantieren. Oder besser: Solange sie dies schaffen. Das war bei Angela Merkel der Fall, auch bei Helmut Kohl und Konrad Adenauer. Laschets momentane verzweifelte „Operation Kanzleramt“ aus der Position des Zweiten heraus ist ja nichts Anrüchiges oder gar Verbotenes. Bedeutende Sozialdemokraten haben das schließlich schon vorgemacht. Und zwar mit Erfolg.

Willy Brandt, zum Beispiel, vereinbarte 1969 mit dem damaligen FDP-Vorsitzenden Walter Scheel noch in der Wahlnacht die später – nicht zuletzt wegen der Ostpolitik – berühmt gewordene „sozialliberale Koalition“, obwohl die Union mit ihrem Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger fast die absolute Mehrheit errungen hatte. Es war seinerzeit sehr fragil bestellt mit dem Bündnis, das jedoch vor allem deshalb so erfolgreich war, weil es sich strikt an dem trotzigen Spruch des SPD-„Zuchtmeisters“ Herbert Wehner orientierte: „Mehrheit ist Mehrheit“!

Ähnliches wiederfuhr Helmut Kohl später im Duell mit Helmut Schmidt. Auch hier eroberte der Hamburger aus der zweiten Reihe zunächst das Bonner Kanzleramt, obwohl der Pfälzer mit 48,8 Prozent fast die absolute Mehrheit geknackt hatte. Selbst der erste grüne Ministerpräsident, Wilfried Kretschmann in Stuttgart hatte 2011 mal gerade 24,2 Prozent (CDU: 39,9) auf die Waage gebracht und konnte trotzdem am Ende die Union zum Verlierer machen, weil die SPD damals mit 23,1 Prozent an seine Seite eilte. Noch einmal also: Es geht beim Zimmern von Koalitionen nicht um irgendwelche moralischen Kategorien, sondern ausschließlich um die Gesetze von Mathematik und politischen Inhalten.

Wer solche Ergebnisse einfährt, den kann man nicht als Verlierer in die Wüste schicken. Doch richtig ist eben auch: Am Ende dieses, aktuellen Urnengangs steht hinter CDU und CSU die mickrige Prozentzahl 24,1. Und nicht nur das. Zum ersten Mal überhaupt ist die Union unter die 30-Prozent-Marke gerutscht. Deswegen muss Armin Laschet jetzt „liefern“, komme was da wolle. Entweder er schafft es, die deutlich gestärkten Grünen und die ebenfalls wieder stark nachgefragten Liberalen zu einer Dreier-Koalition hinter sich zu bringen, oder die Partei wird ihm die Gefolgschaft aufkündigen. Mitleid mit dem Verlierer? In der Politik gibt es so etwas nicht.

Aber auch Olaf Scholz wird seinen Wahl-„Sieg“ kaum vollumfänglich  auskosten können. Auch er muss ja um dieselben Hilfskräfte buhlen. Schließlich ist mit dem überraschenden Abrutschen der „Linken“ ins politische Aus ein nicht unwichtiger Spielstein aus den Überlegungen herausgebrochen, die innerhalb der SPD im Vorfeld der Wahl angestellt und auch geäußert worden waren. Scholz selbst hat vermutlich keinen einzigen ernsthaften Gedanken an eine Koalition mit den SED-Nachfolgern verschwendet. Ganz anders etwa die schwäbische Ko-Parteivorsitzende Saskia Esken oder der junge Berliner Vize-SPD-Chef Kevin Kühnert. Allerdings hatte sich der linke Parteiflügel seit dem Frühsommer nahezu vollständig aus dem öffentlichen Geschehen verabschiedet und erst jetzt wieder zu Wort gemeldet.

Wer kommt wem entgegen?

 Es kann eigentlich kein Zweifel daran bestehen, dass sowohl die Grünen nach 40-jährigem Träumen davon als auch die Liberalen in eine Regierungsbeteiligung streben. Aber können mit einem Mal gegenseitige Abneigungen überwunden werden, die jahrzehntelang geradezu genüsslich gepflegt worden waren? Und wird das gemeinsame, grundsätzlich angestrebte Ziel einer klimaschutzgerechten Welt dabei helfen, tiefsitzende inhaltliche Unterschiede etwa bei der Wirtschafts-, Verkehrs- und Umweltpolitik zu überwinden? Grüne und Liberale werden von SPD wie von CDU/CSU als Mehrheitsbeschaffer benötigt. Also werden sie ihre Forderungen entsprechend nachhaltig einbringen. Es ist kein Geheimnis, dass die grüne Spitzenkandidatin Annalena Baerbock und ihr Kollege Robert Habeck Präferenzen in Richtung Scholz haben. Umgekehrt gilt das für FDP-Chef Christian Lindner und Armin Laschet. Auch solche Dinge entscheiden oft beim Spiel um Macht und Einfluss. Aber eben nicht nur.

Noch einmal – Zeitenwende. Eine ganze Generation in Deutschland ist herangewachsen mit einer Kanzlerin Merkel. Liegt es vieleicht daran, dass eine Mehrheit der Erstwähler ihr Kreuzchen bei CDU und CSU und FDP gesetzt haben und sich – verblüffend genug – die Wähler von 50 aufwärts hinter der SPD versammelten? Und wodurch erklären sich die Wahlergebnisse zum Beispiel in den ostdeutschen Ländern Sachsen und Thüringen? Beide gehören erkennbar zur den Einigungsgewinnern mit hoch erfreulichen wirtschaftlichen Ergebnissen. Was bringt also die Bürger dort dazu, mit der AfD eine Partei mit unverhohlen nationalsozialistischem und rechtsextremem Gedankengut zur stärksten Kraft zu wählen? Fragen wie diese trüben natürlich erheblich die Genugtuung darüber dass die am rechten Rand des deutschen Parteienspektrums agierende selbsternannte Alternative für Deutschland trotzdem bundesweit deutlich geschrumpft ist und die Linke an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte.

 Bleibt das Problem mit der Zukunft von CDU und CSU. Abgewählt zu werden ist, gar keine Frage, eigentlich eine Normalität in einer Demokratie. Allein schon deshalb, weil Personen und Programme sich in den Mühlen des Regierungsalltags ganz einfach mit der Zeit verbrauchen und neue, unverbrauchte Kräfte benötigt werden. Aber es braucht genauso Menschen, die den Wahlverlierer zusammenhalten und neue Ideen entwickeln in der Opposition. Noch ist in der Union der Aufstand gegen den Verlierer ausgeblieben. Er könnte es ja vielleicht doch noch schaffen. Und wenn nicht?

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.         

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