“…wird von der Polizei vorgeführt!” (I)
Ist die „Integration“ Heimatloser heute und nach dem Krieg in Deutschland vergleichbar?
Erinnerungen an die Vertreibung von Deutschen vor 75 Jahren
Von Gisbert Kuhn
Die Welt ist aus den Angeln. Erst hat nicht nur der von einem selbstverliebten, von Machthunger zerfressenen, sich selber und die Kriegsfreude seines Volkes wahrscheinlich überschätzenden Wladimir Putin entgegen einer mühsam austarierten Welt- und Friedensordnung vom Zaun gebrochene Krieg gegen die Ukraine Ströme von Flüchtlingen ausgelöst. Auch die schon vorher vor allem in Nahost und Afrika tobenden blutigen Konflikte sowie Hunger und Durst in vielen Teilen der Welt setzten eine Völkerwanderung mit Millionen Menschen in Bewegung. Und nun auch noch der Krieg in und um Israel – ausgelöst durch das mit unvorstellbarer Grausamkeit verübte Massaker der palästinensischen Terror-Organisation Hamas Europa mit rund 1 400 Toten und mehr als 200 Geiseln. Kein Mensch weiß, ob, wann und wie das Blutvergießen endet. Aber mit Gewissheit kann man von einer neuen Fluchtwelle ausgehen. Sicher in erster Linie nach Europa. Und dort wohl zumeist in dass scheinbar “verheißene Land” Deutschland. Allein aus der Ukraine kamen seit dem von Putin befohlenen Überfall rund eine Million Menschen hierher. Und die russischen Bomben und Raketen werden weitere Ströme in Gang setzen. Zugleich ist auch die so genannte Balkanroute wieder stark “bevölkert”. Ziel: Westeuropa. Es hat keinen Sinn, sich etwas vorzumachen – irgendwann (und das in vermutlich gar nicht allzu langer Zeit) wird die Aufnahmefähigkeit nicht nur Deutschlands erschöpft sein. Und nicht bloß in Deutschland, auch in den anderen “Aufnahmeländern”. Das kann man bezweifeln. Auch aus guten Gründen moralisch verurteilen. Trotzdem wird es so kommen. Auch weil die schieren Zahlen die Gastgeber-Bereitschaft der Gesellschaft überfordern und die Leistungsfähigkeit der Sozialsysteme überlasten werden. Man muss blind sein, um die Signale dieser Entwicklung zu übersehen, die sich im Wahlverhalten vieler Bürger in Richtung Rechtsaußenpartei manifestiert – einer Bewegung mit dem Kürzel AfD, die Protest aufsaugt, aber keine Antworten und schon gar keine Lösungen parat hält. Nach 2015/16 ist dies innerhalb ziemlich kurzer Zeit die zweite große, vor allem menschliche Herausforderung, vor der wir stehen. Als Gesellschaft, aber auch jeder Einzelne. Werden wir das schaffen?
Viele Menschen – und keineswegs nur unverbesserliche Rechtsextreme oder verquere “Reichsbürger” – sehen die Grenzen zur Überforderung unserer gesellschaftlichen Belastbarkeit schon jetzt erreicht. Andererseits wird in der öffentlichen Auseinandersetzung als Gegenbeweis oft die Nachkriegszeit herangezogen, als mehr als zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene im damals total zerstörten Deutschland erfolgreich eingegliedert werden konnten. Ist dieses Beispiel überzeugend? Nein, das ist es nicht. Es gibt nur eine einzige Vergleichbarkeit der Ereignisse von heute zu jenen seinerzeit: Und zwar die Ursache. In beiden Fällen heißt sie – Krieg! Krieg, mit all dem Entsetzlichen im Gefolge, zu dem Menschen eben auch imstande sind, Menschen anzutun: Gewalt, Töten, Zerstörung, Raub. Damals wie heute.
Kein Essen, kein Dach, keine Nachricht
Hier, freilich, endet die Vergleichbarkeit. Nach dem (man muss ebenfalls immer wieder daran erinnern) von Deutschland begonnenen, fürchterlichen Weltkrieg lag dieses Land in Trümmern. Selbst wer seine Heimat nicht verlassen musste, hatte – zumindest in den Städten – oft genug selbst kein Dach mehr überm Kopf. Wo und wie sollten da noch die Millionenheere der „fremden“ Landsleute untergebracht werden? „Willkommenskultur“ – auf dieses Wort wäre damals nicht einmal im Traum jemand gekommen! Quartiere für die Neuankömmlinge wie heute, immerhin in beheizten Hallen, Notunterkünften, Containern oder Zelten und wenigstens mit Matratzen und Decken ausgestattet? Woher hätte das denn genommen werden sollen! Dabei waren gerade die Winter von 1946 bis 1948 erbarmungslos kalt und forderten abertausende Erfrierungsopfer. Gesicherte, vom Roten Kreuz, vielen anderen Hilfsorganisationen und ungezählten Privatpersonen bereit gestellte, Verpflegung wie heute? Glücklich, wer in jenen Wochen, Monaten, ja sogar Jahren in den Trümmern ein paar Kartoffeln, Steckrüben oder ein Stück Brot „organisieren“ konnte. Tägliche Kommunikation mit noch „daheim“ gebliebenen Angehörigen, wie es jetzt mit den modernen Verständigungsmitteln Smartphone oder Skype selbst in der Not- und Ausnahmesituation normal und selbstverständlich ist? Gar nicht daran zu denken. “Normal” waren vor nahezu achteinhalb Dezennien und noch manche Jahrzehnte danach allenfalls die täglichen Radiosendungen, in denen mit monotoner Stimme stundenlang Namen von gesuchten und verschwundenen, im “Feld” gebliebenen, Angehörigen verlesen wurden.
Nein, von Vergleichbarkeit kann wirklich keine Rede sein. Wer Anderes behauptet, hat die Zeit damals nicht erlebt. Daraus kann niemandem ein Vorwurf erwachsen. Er (oder sie) besitzt dann aber auch kein geschichtliches Wissen. Das, freilich, müsste nicht sein. Sicher, viele Zeitzeugen sind inzwischen längst gestorben. Aber kein noch Lebender wird – bevor er oder sie mit dem Begriff „Willkommenskultur“ hausieren geht – daran gehindert, nachzulesen. Allein schon die Lektüre des Buchs „Kalte Heimat“ des Historikers Andreas Kossert könnte manche Wissenslücke schließen. Denn der noch relativ junge Geschichtskundler meinte mit dem Titel nicht etwa die sprichwörtliche „Kalte Heimat“ Ostpreußen, sondern beschrieb dokumentarisch die menschliche Kälte, die den meisten jener etwa zwölf oder auch mehr Millionen entwurzelten „Zuwanderer“ aus dem Osten in der „neuen“ Heimat vor mehr als 75 Jahren entgegen schlug. Dass ausgerechnet dieses (Originalzitat) „Lumpen- und Zigeunerpack“ dann entscheidend an der Aufbauleistung in Deutschland beteiligt war, ist allerdings auch richtig. Die Eingliederung dauerte jedoch Jahrzehnte, in denen Not und Entbehrung das Leben bestimmten. Begriffe wie “Unzumutbarkeit” hatten in diesem Zusammenhang die Qualität von Fremdworten.
17. Transport, Wagen Nr. 40
Der folgende Text basiert auf eigenen Erinnerungen. Es ist die Rückschau eines „Dabeigewesenen“ und das Ergebnis des Stöberns in alten Kartons und Fotoalben:
Erst auf Seite 81 der langen Liste tauchen die Namen auf: Kuhn Emilie, Hausfrau, 26 w(eiblich), und Kuhn Gisbert, Kind, 5 m(ännlich). Registriernummern 1180 und 1181, vorgesehen für den Waggon Nr. 40 im 17. Transport am 26. 09. 1946. Ziel: Bavaria. Es ist eine von insgesamt 179 Seiten, eng beschrieben mit mehreren tausend solcher Daten. Jeder einzelne Name steht für ein individuelles Leben, das allerdings mit dem Schicksal aller Anderen verknüpft war – diese Menschen mussten ihre Heimat, ihr Hab und Gut verlassen, wurden in Güterwagen verfrachtet und auf den Weg ins Unbekannte geschickt. Sie zahlten damit den Preis dafür, dass ein verbrecherisches deutsches Regime zuvor die halbe Welt mit Krieg überzogen hatte und bis dahin unvorstellbare Verbrechen von Deutschen begangen worden waren. Nun waren sie selbst „Vertriebene“. Wenigstens hatten die hier Beschriebenen mit der von den Siegermächten in Jalta und Potsdam beschlossenen, einigermaßen „geregelten“, Vertreibung immer noch ein besseres Los gezogen als jene vielen hunderttausende Flüchtlinge aus Ostpreußen, Pommern oder Schlesien, die sich im Winter 1944/45 durch Schnee und übers Eis der Ostsee vor der heranrückende Roten Armee zu retten versuchten.
Der Ort, von dem hier berichtet wird, hieß damals Graslitz. Eine kleine böhmische Kreisstadt, nur wenige Kilometer südlich vom vogtländischen Wintersportzentrum Klingenthal im nordwestlichen Egerland gelegen, aber unter Kennern weltbekannt wegen ihrer Musikindustrie. Seit Mai 1945 trägt sie den tschechischen Namen Kraslice. Der Katalogisierung der oben erwähnten Transportlisten war von den tschechischen Behörden ein weiterer Verwaltungsakt vorangestellt worden – der Ausweisungsbescheid mit genauen Verhaltensbefehlen. Darin hieß es unter der Überschrift
Aufmerksammachung
Personen, die für den Abtransport bestimmt sind, haben ihre Wohnung in vollster Ordnung zu verlassen.
Pro Person wird ein Gepäck von 50 kg bewilligt. Wer mehr als das vorgeschriebene Gepäck haben wird, dem werden die Sachen abgenommen, ohne Rücksicht, was für Sachen es sind.
Die übrigen Sachen sind in der Wohnung an Ort und Stelle zu lassen, z. B. Vorhänge, Teppiche, Tischlampen, Wandspiegel, Waschschüsseln, Teile der Einrichtung, Tischdecken, 2 Handtücher, in Betten Matratzen, Bettlaken und mindestens je ein Kopfkissen und Zudeckbett, alles frisch bezogen.
Das Gepäck darf nicht in Teppiche oder Überzüge gepackt werden. Wird bei der Kontrolle festgestellt, dass dies nicht beachtet wurde, wird die betreffende Person nicht in den Transport aufgenommen, sondern ins Inland auf Arbeit geschickt.
Wer sich nicht 24 Stunden nach Erhalt des Einberufungsscheines in der Sammelstelle melden wird, wird von der Polizei vorgeführt.
Kreis Verwaltungskommission, Graslitz
14 Personen pro Güterwagen
Ursprünglich war die Deportation der auf der Liste verzeichneten Emilie Kuhn und ihres Sohnes bereits ein Jahr zuvor verfügt worden – also im Sommer 1945. Dies hatte jedoch mein Großvater, Anton Pleyer, mit der mutigen Feststellung verhindert: „Entweder wir gehen alle zusammen, oder ich weigere mich, die Ernte einzubringen“. Opa besaß nämlich eine Landwirtschaft, und ihm war befohlen worden, die nach Kriegsende gereiften Feldfrüchte einzuholen und auch noch die nächste Aussaat vorzunehmen. Offensichtlich hatte die Standfestigkeit des damals 65-Jährigen Eindruck gemacht, so dass die Familie (mein Vater galt noch als vermisst) tatsächlich gemeinsam erst Ende September 1946 den Wagen Nr. 40 des 17. Transports bestieg.
Die in der „Aufmerksammachung“ erwähnte „Sammelstelle“ in Graslitz war bis zum Kriegsende ein Fremdarbeiterlager. Nun bekamen erstmals Deutsche einen Eindruck von den dortigen Zuständen. Denn die nun zum Abtransport vorgesehenen Menschen mussten nicht nur wegen der Gepäckkontrolle „ins Lager“ (wie es später in den Erzählungen stets hieß), sondern auch die Zeit bis zur Abfahrt dort verbringen. Meine Mutter berichtete noch Jahre danach, dass die tschechischen Wachsoldaten ihre Freude an dem kleinen Jungen mit dem Rucksack gehabt hätten, aus dem eine Puppe und ein Spielzeugschaf mit echtem Fell und einem “Mäh”-Mechanismus heraus schauten: „Wir hätten Reichtümer rausschmuggeln können, weil bei Dir keiner kontrollierte…“ Der endgültige Transportzug wurde schließlich in der alten Reichsstadt Eger (heute Cheb), unweit der Grenze zu Bayern, zusammengestellt und von dort in Marsch gesetzt. Nochmal – es handelte sich um Güterwagen, jeder besetzt mit mindestens 14 Personen und deren Habseligkeiten.
Entlausung und Armbinde
Am 28. September 1945 – also zwei Tage nach der Registrierung auf den Listen – langte der Transport im ostbayerischen Marktflecken Wiesau (Oberpfalz) an. Allerdings hatte der Zug bereits wenige Kilometer nach Erreichen bayerischen Gebiets einmal Halt gemacht. In der Erinnerung des damals kurz vor seinem 5. Geburtstag stehenden Buben verwandelte sich dort innerhalb weniger Minuten der Bahndamm in ein weißes, wie von Schnee bedecktes Feld. Der Grund: Die Menschen in den Güterwagen warfen ihre weißen Armbinden mit dem Buchstaben „N“ hinaus. „N“ stand für „nemec“, das heißt „Deutscher“. Diese mussten die Sudetendeutschen nach dem Krieg für jedermann sichtbar tragen – optisch vergleichbar dem Judenstern bei den Nazis. Jetzt wollten Alle dieses Kainsmal möglichst schnell los werden. Bayern war amerikanische Besatzungszone. Und in Wiesau hatten die US-Behörden „Entlausung“ befohlen. Gleichgültig ob Greis oder Kleinkind – jeder und jede musste durch die Desinfektions-Schleuse. Das dabei verwandte Puder gegen Kopfläuse und sonstiges Ungeziefer: DDT. Erst danach erhielt man einen „Gesundheitsschein“, ohne dessen Vorlage niemand Lebensmittel bekam. Tatsächlich hatte ich nie unter Kopfläusen zu leiden…
In Wiesau wurde der Transport getrennt, ohne dass die Betroffenen irgendeine Einflussmöglichkeit hinsichtlich des Ziels gehabt hätten. Die eine Hälfte blieb in Bayern und wurde dort verteilt, die andere gelangte vornehmlich ins heutige Baden-Württemberg und nach Hessen. Wir kamen nach Nordhessen. An die Oberweser. Genauer: In das nördlichste Dorf Hessens, mit Namen Vernawahlshausen. Der Ort war gerade noch amerikanische Zone. Der zum Dorf gehörende Bahnhof lag hingegen bereits in Niedersachsen und damit auf britischem Besatzungsgebiet. Um vom Ort zum Bahnhof zu gelangen, bedurfte es eines Passierscheins. Aber das wusste niemand von denen, die (war es der 29. September oder der 1. Oktober?) dort gegen Abend samt ihrer paar Gepäckstücke auf dem Dorfplatz vom Lkw geladen wurden. Den Ruf, freilich, werden Viele nie vergessen haben, der in diesem Moment durchs Dorf gellte: „Macht die Türen und Fenster zu, die Zigeuner kommen!“ Willkommenskultur?
Wird vorgesetzt.
Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.