Politik: Basta!
Die westlichen Verbündeten drängen die Ukraine, Präsidentschaftswahlen abzuhalten. Doch Staatschef Selenskyj lehnt dies ab – aus guten Gründen.
Am Montagabend zog der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vorerst einen Schlussstrich in einer Debatte, die in den vergangenen Wochen ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte. Nachdem die politischen Gegner aus dem Lager seines Vorgängers Petro Poroschenko verkündeten, ihren Informationen zufolge hätte das Präsidentenbüro mit der Vorbereitung der regulären Durchführung der Präsidentschaftswahlen im März 2024 begonnen, erteilte Selenskyj nun höchstpersönlich den Wahlen eine deutliche Absage. Die Begründung: das Kriegsrecht. Für Wahlen sei es aktuell nicht der richtige Zeitpunkt und Spekulationen darüber seien gefährlich, so der ukrainische Präsident in seiner täglichen Abendansprache.
In der Ukraine ist die Durchführung von Wahlen während des Krieges extrem unbeliebt. Laut der jüngsten Umfrage des Kiewer Internationalen Soziologie-Instituts sind 81 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer dagegen. Zwar gibt es auch Umfragen, in denen diese Zahl etwas kleiner ausfällt, grundsätzlich besteht jedoch kein Zweifel daran, dass zu dieser Frage eine klare Meinung herrscht. Trotzdem gibt es Gründe, warum Selenskyj die Abhaltung von Wahlen in Erwägung gezogen hat.
Einer davon ist der internationale Druck. Offiziell haben sich lediglich vereinzelte Länder wie Österreich, das die Ukraine militärisch nicht unterstützt, für die Wahlaustragung ausgesprochen; die meisten Unterstützerstaaten betonen, dass es sich dabei um eine innere Angelegenheit Kiews handelt, in die man sich nicht direkt einmischen darf. Inoffiziell war das Thema jedoch sehr wohl präsent, etwa Anfang Oktober, während des Treffens der EU-Außenminister in der ukrainischen Hauptstadt. Dort wurde die Befürchtung angedeutet, dass die Ukraine als demokratisches Land im Fall einer Wahlabsage schlecht dastehen würde im Vergleich zum russischen Präsidenten Wladimir Putin, der sich im März kommenden Jahres im Rahmen einer höchst fragwürdigen Wahlprozedur für die fünfte Amtszeit wiederwählen lässt. Die Frage, ob Selenskyj sowie die Abgeordneten im Parlament ohne Wahlen an Legitimität einbüßen, beschäftigte einige EU-Hauptstädte ebenfalls.
Obwohl das Vertrauen der Ukrainer in Selenskyj etwas zurückging, wäre sein Sieg reine Formsache gewesen.
Aber auch die innenpolitische Perspektive spielte bei den Überlegungen in Kiew eine Rolle. In den vergangenen Monaten hat Selenskyj zwar klar angekündigt, nach dem Krieg nicht mehr für das Präsidentenamt kandidieren zu wollen. Im Krieg hätte er aber als Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee keine andere Wahl gehabt, als erneut anzutreten. Obwohl das Vertrauen der Ukrainer in Selenskyj seit Beginn der vollumfänglichen russischen Invasion im Februar 2022 etwas zurückging, wäre sein Sieg reine Formsache gewesen. Für einige Mitglieder der Regierung wäre es daher eine lukrative Vorstellung, jetzt ein Mandat für weitere fünf Jahre zu bekommen – Aussichten auf eine politische Zukunft in der Zeit nach Selenskyj haben sie kaum.
Rechtlich betrachtet ist die Situation kompliziert. Die Wahlrechtsgesetzgebung verbietet die Durchführung jeglicher Wahlen während des Kriegsrechts. Die Verfassung – die im Krieg nicht verändert werden darf – ist allerdings nicht so eindeutig. Aus ihr geht lediglich hervor, dass die Legislatur des Parlaments im Kriegsfall automatisch verlängert wird. Es steht dort also de facto ein indirektes Verbot der Parlamentswahlen, die planmäßig im Oktober 2023 hätten stattfinden sollen. Allerdings wird der Präsident in dieser Hinsicht nicht erwähnt, so dass einige Juristen argumentieren, das Parlament könnte die Wahlrechtsgesetzgebung ändern und so Präsidentschaftswahlen ermöglichen – Selenskyjs Partei hält dort die Mehrheit der Sitze. Kritiker weisen das zurück, ein solches Vorgehen würde auf jeden Fall zu einem Gang vor das Verfassungsgericht führen.
Eine schwierige Frage wäre, wie in einem Land, in dem rund ein Fünftel des Territoriums besetzt ist, ein Urnengang organisiert werden könnte.
Eine schwierige Frage wäre, wie in einem Land, in dem rund ein Fünftel des Territoriums besetzt ist, in dem etwa eine Million Menschen im Militär dienen und Krieg führen, und in dem es Millionen von Flüchtlingen und Binnenflüchtlingen gibt, ein Urnengang organisiert werden könnte. Möglichkeiten gäbe es eventuell: Ein Wahlgang über mehrere Tage könnte die Möglichkeit einer Stimmabgabe für Soldaten zumindest erhöhen. Die Sicherheits- und Flüchtlingsfragen könnten mit einer elektronischen Abstimmung gelöst werden. Mit der erfolgreichen App für Staatsdienstleistungen „Dija“ hat die Ukraine eine halbwegs datenschutzsichere digitale Infrastruktur, die auch für Wahlen in Frage käme. Unmöglich wäre allerdings die Stimmabgabe der Menschen in den besetzten Gebieten.
Letztlich sind es aber weder rechtliche noch technische Schwierigkeiten, weshalb die Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer gegen Wahlen ist und warum sich nun auch Präsident Selenskyj dagegen entschieden hat. Denn jeglicher Urnengang unter den derzeitigen Umständen wäre im Kern nicht viel mehr als eine Wahlimitation gewesen, die darüber hinaus wohl sogar größtenteils freiwillig von der Opposition ignoriert worden wäre, weil der Antritt gegen den aktuellen Oberbefehlshaber im Krieg gegen Russland selbst von großen Selenskyj-Skeptikern negativ wahrgenommen worden wäre. Dazu kommt, dass ein richtiger, von Konkurrenz getriebener Wahlkampf kaum möglich gewesen wäre – und trotzdem hätte der Wahlkampf im Krieg zusätzliches Potenzial zur Spaltung der Gesellschaft geliefert. Die muss sich nach 20 schwierigen Monaten des großen Krieges ohnehin damit abfinden, dass die aktiven Kampfhandlungen wohl noch einmal mindestens genauso lange andauern werden.
In der ukrainischen Politik werden die Karten nach dem Krieg vollkommen neu gemischt.
Die aktuelle Entscheidung gegen die Wahlen ist daher richtig und prinzipiell alternativlos. Sie bedeutet allerdings nicht, dass es für die absehbare und auch fernere Zukunft dabei bleibt. Sollte sich die Lage an der Front verfestigen und zu Kämpfen mit geringer Intensität entwickeln, wie in den letzten Jahren des Donbass-Krieges vor Februar 2022, könnte es durchaus sein, dass sich die öffentliche Meinung selbst ohne einen Waffenstillstand in die andere Richtung dreht und die Entscheidung überdacht wird.
Grundsätzlich wären Wahlen allerdings tatsächlich erst nach der kompletten Auflösung der Kampfhandlungen wünschenswert. Es ist davon auszugehen, dass weder die heutige Präsidentenpartei, zumindest in ihrer aktuellen Form, noch der absolute Großteil der heutigen Parlamentsopposition bis dahin politisch überleben werden. Es wird eine neue politische Elite geben, die zum Teil aus Figuren bestehen wird, die aktuell direkt mit dem Krieg beschäftigt sind und die deshalb derzeit für Wahlen gar nicht in Frage kämen: Aus einigen Generälen, aber auch Gouverneuren oder zivilen Aktivisten und Spendensammlern. In der ukrainischen Politik werden die Karten dann vollkommen neu gemischt.
Denis Trubetskoy ist freier Journalist für deutschsprachige Medien in Kiew. Er berichtet über Politik und Sport aus der Ukraine, Russland und Belarus.