Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

Kaum ein Bibelzitat ist bekannter als die Stelle aus dem Lukas-Evangelium (2/14) in der es heißt; „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden den Menschen, die guten Willens sind“. Es ist die Weihnachtsbotschaft, die jedes Jahr verkündet wird. Seit mehr als 2000 Jahren und seit langem auch rund um den Globus. Kaum etwas spricht mehr die doch – eigentlich – unstillbare Sehnsucht der Menschen an: Es soll Frieden sein! Auf der ganzen Erde! Für alle! Es ist der Wunsch aller Menschen – egal ob Christen, Muslims, Buddhisten oder auch Nicht-Gläubigen. Denn leiden tun sie alle gleich, wenn Bomben fallen, Terror, Zerstörung und Verfolgung herrschen. Kurz: Wenn Menschen vergessen, dass sie Menschen sind und die Unmenschlichkeit die Überhand hat. Wenn Krieg herrscht.

Man muss nicht die Geschichte bemühen, um nachzuweisen, dass die Zeiten des Krieges irgendwann und irgendwo in der Welt jene bei weitem überflügeln, an denen die Waffen schwiegen. Insofern ist es an sich müßig, wieder einmal die Frage aufzuwerfen, die schon seit Jahrtausenden die klügsten Denker zu ergründen versuchen: Warum Krieg? Worin liegt der Sinn, dass Menschen andere töten – einzelne oder zu abertausenden? Was ist denn der tatsächliche Nutzen von Landgewinn? Ist der Krieg, wie der griechische Philosoph Heraklit schon ein halbes Jahrtausend v. Chr. meinte, tatsächlich „der Vater aller Dinge“. Weshalb ist dass der Frieden nicht wenigstens die „Mutter aller Dinge“? Und warum haben Gewalttäter und Despoten keine Gewissensbisse wegen ihres Tuns? Vielleicht, weil sie sich Denkmäler setzen wollen? Dabei ist es doch für jedermann sichtbar: Jedem Feldherrn, König oder Kaiser, dem die Nachwelt ein Denkmal setzte oder der das noch zu seinen Lebzeiten und zu höherem Ruhm selber tat, haben bisher die Tauben ihre weiße Hinterlassenschaft auf den Köpfen hinterlassen.

Aber andere Fragen tun sich auf gerade in diesen Tagen, Wochen und Monaten seit dem 24. Februar 2022, an dem Wladimir Putin mir nichts dir nichts die Ukraine überfallen ließ, auf. Wenige Tage nach dem Einmarsch hat Bundeskanzler Olaf Scholz das Wort „Zeitenwende“ in die deutsche Politik und damit den öffentlichen Diskurs eingeführt. Dieser Begriff beinhaltet sehr viel. Und es ist ungewiss, ob er sich wirklich schon im Denken unserer Mitmenschen verfestigt hat. Wir haben in Deutschland und Mitteleuropa 77 Jahre ohne Krieg hinter uns. Das ist die längste Epoche in der Geschichte. Die Alten (selbst wenn sie ihn nur als Kinder erlebten) wissen noch, was Krieg ist, kennen mithin den Wert des Friedens. Für die Jungen aber sind Frieden und Wohlstand längst selbstverständlich geworden. Na und? Ist doch normal!

Und dennoch müssen sie sich auf die „Zeitenwende“ einstellen. Vielleicht sogar vor allem sie. Denn es wird nicht allein nur darum gehen, möglicherweise auf die eine oder andere Mallorca-Woche und andere gewohnte Annehmlichkeiten verzichten zu müssen. Viel wichtiger und nachhaltiger (und in der breiten Öffentlichkeit in seiner Dramatik offensichtlich noch gar nicht angekommen) ist die Tatsache, dass Putin durch seinen Einmarschbefehl in die Ukraine mit einem Wisch das gesamte Gebäude zum Einsturz gebracht hat, auf dem seit inzwischen mehr als 30 Jahren die Sicherheitsstruktur auf jeden Fall auf dem Alten Kontinent – also in unserem Europa – gründet. Das heißt: Die Unverletzlichkeit der Grenzen, der Verzicht auf Gewalt bei der Suche nach Problemlösungen, den Vorrang von wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit usw.

Man kann es auch anders sagen: Trotz des Zusammenbruchs von Kommunismus und Sowjetunion befinden wir uns im Prinzip jetzt wieder in einer Situation, die jener des Kalten Krieges entspricht. Das ist, ohne jede Frage, eine Zeitenwende. Eine Wende rückwärts, eine Wende zum Schlechten. Und das müsste eigentlich selbst den letzten Träumer aufgeweckt haben. Es waren sicherlich nicht allein die absolut Weltfremden, die nach dem Kollaps der östlichen Systeme und der deutschen Wiedervereinigung vor drei Jahrzehnten an den ewigen Frieden geglaubt haben mögen. Ein solcher wurde schließlich doch auch von der Politik verkündet. Von der „Friedensdividende“ sangen schon in den 90-er Jahren keineswegs nur Sozialdemokraten und Linke, sondern auch prominente Vertreter konservativer Denkrichtungen.

Zeitenwende! Heute stehen wir vor Trümmern der Bundeswehr. Mit 100 Milliarden Euro soll nun wenigstens einigermaßen wieder das repariert werden, was über Jahrzehnte kaputt gespart wurde – das Instrument zur Wahrung der äußeren Sicherheit. Dass sich Regierende und Opponierende im Deutschen Bundestag  jetzt gegenseitig mit Vorwürfen überhäufen, wirkt geradezu peinlich. Der Rückbau der Streitkräfte, die Vernachlässigung des Geräts bis hin zur faktischen Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht geht über eine lange, lange Zeit. Und, machen wir uns doch nichts vor, diese Entwicklung traf auf die weitgehende Zustimmung der Gesellschaft. Wozu brauchen wir noch Soldaten? Das Geld ist in soziale Wohltaten viel besser investiert.

Jetzt ist mit einem Mal das Entsetzen über den Zustand der Bundeswehr groß. Aber weil es ja nichts Schlechtes gibt, was nicht auch seine gute Seite hätte: Zum ersten Mal seit langem scheint sich in den Köpfen der Menschen ein Wissen um die Notwendigkeit von staatlicher Wehrhaftigkeit auch nach außen zu verfestigen. Vermutlich auch deshalb, weil aus gutem Grund die Zweifel wachsen, ob – wie in den sieben Jahrzehnten bislang – man sich auch fürderhin darauf verlassen kann, im Zweifelsfall von den USA verteidigt zu werden.

Es ist wirklich keine angenehme Vorstellung, dass sich die Welt wieder in Richtungen bewegt, die – bei allen weiter bestehenden Gegensätzen – überwunden zu sein schienen. Denn jeder auch nur am Rande politisch befasster Bürger müsste doch inzwischen begriffen haben, dass Putins Krieg gegen die Ukraine keineswegs nur auf die Gier nach Landgewinn zurückzuführen ist, sondern in Wirklichkeit eine grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Despotismus, geregeltem Interessenausgleich und dem Faustrecht des Stärkeren. Von den Römern kennen wir Anweisung an die staatlichen Autoritäten: Wenn Du Frieden willst, bereit den Krieg vor. Keine schöne Aussicht, wenn dies auch in unseren europäischen Gefilden wieder zu einer zentralen Handlungsanweisungen werden sollte.

„Und Frieden auf Erden…“. Nicht erst seit der Geburt Christi hat die Menschheit danach gerufen. Hat man das Flehen je gehört, oder – besser ­– erhört? Die ernüchternde Antwort heißt „Nein“. Und der zweite Teil Verkündung der Engel lautet ja auch (einschränkend?) „den Menschen, die guten Willens sind“. Friedrich Schiller hat das in seine Worte gekleidet: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“. Und die Engel hatten, laut dem Evangelisten Lukas, auf den Feldern vor Bethlehem für die Menschen noch etwas anderes Hoffnung Gebendes: „Fürchtet Euch nicht!“. So richtig es also ist, dass die Aussichten trübe sind – würde es auch nur einen einzigen vernünftigen  Sinn ergeben, der Engels-Botschaft vom Frieden nicht nachzustreben?

Auch deshalb allen Lesern von rantlos und darüber hinaus eine gute, friedvolle Weihnacht und ein, hoffentlich, besser verlaufendes Jahr 2023.

 

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.     

 

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