Politik: Wenn zwei sich streiten …
Das deutsch-französische Führungsversagen ist ein Risiko für unsere Sicherheit. Der Schaden betrifft nicht nur die Verteidigungsfähigkeit Europas.
In den vergangenen Jahren ist mehr als deutlich geworden, dass das deutsch-französische Tandem – historisch gesehen ein zentraler Motor der europäischen Integration – auf der Ebene der politischen Führung einfach nicht zusammenfindet. Bei wirtschafts- und energiepolitischen Fragen – man denke an Atomenergie, Freihandelsabkommen oder Industriepolitik – sind die Positionen von Paris und Berlin oft gegensätzlich. Zwar hat eine deutsch-französische Expertengruppe Vorschläge zur institutionellen Weiterentwicklung der EU vorgelegt, doch eine gemeinsame politische Ambition für die Zukunft des europäischen Projekts haben Deutschland und Frankreich bisher nicht formuliert. Und krachend gescheitert sind Berlin und Paris daran, eine Führungsrolle beim Angehen der größten sicherheitspolitischen Herausforderung für die EU seit ihrer Gründung einzunehmen. Weder gelingt es Deutschland und Frankreich, bei der Unterstützung der Ukraine gemeinsam voranzugehen, noch haben sie einen gemeinsamen Fahrplan für die Stärkung der europäischen Verteidigung. Angesichts der Lage in der Ukraine, aber auch in Anbetracht der strukturellen geopolitischen Verschiebungen – wie beispielsweise des erwartbar abnehmenden Engagements der USA in der europäischen Verteidigung – sind Ambitionen und Visionen für die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik jedoch kein Selbstzweck. Sie sind eine strategische Notwendigkeit.
Die Konferenz zur Unterstützung der Ukraine, zu der Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Ende Februar eingeladen hatte, illustrierte die Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich noch einmal deutlich. Es handelte sich um kein offizielles Treffen im Rahmen der EU, sondern um ein Treffen zur Koordinierung der Positionen europäischer Staaten, der USA und Kanadas zur weiteren Unterstützung der Ukraine. Das Ziel dabei war unter anderem, eine klare Botschaft der Geschlossenheit zu senden. Erreicht haben Macron und Scholz mit ihren jeweiligen Medienauftritten jedoch das Gegenteil. Als Macron in der Pressekonferenz zum Abschluss der Konferenz erklärte, dass die Entsendung europäischer Truppen auf ukrainischen Boden nicht ausgeschlossen werde, ließ die deutsche Reaktion kaum auf sich warten. Scholz wiederholte, dass die bisherige Position – keine Entsendung von deutschen oder NATO-Truppen in den Konflikt – unverändert bleibe, und Wirtschaftsminister Habeck forderte Frankreich zur Lieferung von mehr Waffen auf. Diese öffentlichen Widersprüche sind keine strategische Ambiguität, sondern ein massiver Schaden für die Glaubwürdigkeit der Unterstützung Europas für die Ukraine. Die notwendige Nachricht der Geschlossenheit, die Europa mit der Konferenz demonstrieren wollte, haben Scholz und Macron damit schlichtweg untergraben.
Die signifikanten Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich in Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind nicht neu.
Die signifikanten Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich in Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind nicht neu. Während Frankreich traditionell auf ein starkes Europa und vor allem eine starke EU setzt, hat Deutschland schon immer eine stärkere transatlantische Orientierung, mit einem klareren Fokus auf der NATO als auf der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU. Besonders deutlich wurde dieser Gegensatz beim öffentlichen Schlagabtausch von Emmanuel Macron und der damaligen deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer vor den US-Wahlen 2020. Während der französische Präsident klar für eine europäische strategische Autonomie plädierte und die Europäer aufforderte, auch unabhängig von den USA mehr zu tun, veröffentlichte Kramp-Karrenbauer wenige Tage darauf einen Artikel mit dem Titel Europe Still Needs America („Europa braucht Amerika weiterhin“) – woraufhin Macron in einem Interview ausführlich sein Argument darlegte. Und auch abgesehen von ihren Präferenzen für eine europäische Verteidigung unterscheiden sich Deutschland und Frankreich in ihrer strategischen Kultur. In Deutschland herrschen Parlamentsvorbehalt und eine gesellschaftlich verankerte Skepsis gegenüber allem Militärischen vor. Demgegenüber steht eine Interventionsarmee auf der französischen Seite samt dem Willen, diese auch zur Sicherung eigener Sicherheitsinteressen einzusetzen.
Diese Differenzen müssen jedoch nicht zwangsläufig eine Paralyse auf der europäischen Ebene bedeuten. Geopolitische Notwendigkeit und Pragmatismus haben auch in der Vergangenheit zu Kompromissen zwischen Deutschland und Frankreich geführt, beispielsweise bei den verschiedenen Initiativen zur Stärkung der europäischen Verteidigung nach dem Brexit und der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. Der zentrale Unterschied zur heutigen Situation scheint jedoch der politische Wille zu sein: Während Deutschland und Frankreich auf das Brexit-Referendum umgehend mit dem Willen antworteten, das europäische Projekt voranzutreiben, fehlt diese Ambition heute – in einer Situation, die für die EU zwar ebenfalls ein geopolitischer Stresstest ist, aber ungleich bedrohlicher.
Strukturell gesehen haben deutsch-französische Vorhaben den großen Vorteil, dass, metaphorisch gesprochen, der Maschinenraum für deutsch-französische Zusammenarbeit weiterhin existiert und jederzeit anlaufen könnte. Wer die deutsch-französischen Beziehungen pauschal als „gebrochen“ bezeichnet, wird der Realität auf der Arbeitsebene nicht gerecht, wo nach wie vor die deutsch-französische Koordinierung nahezu ein Reflex ist. Allerdings kann das Potenzial des besten Maschinenraums nicht genutzt werden, wenn das gemeinsame Ziel fehlt. Mit ihren individuellen und teils entgegengesetzten Ansätzen verhindern Deutschland und Frankreich aktuell daher nicht nur die Nutzung von viel Potenzial für die EU, sondern sie verursachen auch einen europäischen Kollateralschaden.
Führung in der europäischen Verteidigung muss neu gedacht werden.
Aus dem Vakuum der deutsch-französischen Führung resultiert entsprechend, dass Führung in der europäischen Verteidigung neu gedacht werden muss. Bei der europäischen Unterstützung für die Ukraine haben andere Akteure in der EU bereits bewiesen, dass dies möglich ist: Die gemeinsame Beschaffung von Munition durch die EU geht auf eine Initiative Estlands zurück. Auch wenn die Lieferungen aktuell hinter den Ambitionen liegen, ist die Maßnahme wichtig zur konkreten Unterstützung der Ukraine und zur langfristigen Stärkung Europas als sicherheitspolitischer Akteur. Außerdem dürfte Polen auch in Zukunft eine wichtigere Rolle zukommen: Warschau ist nicht nur einer der resolutesten Unterstützer der Ukraine, sondern hat mit der neuen pro-europäischen Regierung großes Potenzial, auch in Brüssel eine Gestaltungsrolle einzunehmen. Möglicherweise könnte auch das Format des Weimarer Dreiecks, das die Außenministerinnen und Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens zuletzt mit viel Enthusiasmus wiederbelebt haben, eine Option zum Überbrücken der deutsch-französischen Differenzen sein, und zugleich für eine geografisch ausgeglichenere Führung.
Beim Managen des europäischen Kollateralschadens durch die deutsch-französische Führungsschwäche hat vor allem die EU-Kommission eine zentrale Rolle gespielt. Durch die Nutzung von EU-Instrumenten – wie der Europäischen Friedensfazilität zur Finanzierung der militärischen Unterstützung für die Ukraine oder der Förderung der gemeinsamen Beschaffung in der europäischen Verteidigungsindustrie (EDIRPA) – hat die EU-Kommission gezeigt, dass zentrale Initiativen nicht immer aus Paris oder Berlin kommen müssen, sondern dass auch Brüssel eine stärkere Rolle spielen kann. Auch die Möglichkeit, das EU-Budget für gemeinsame Verteidigung zu nutzen (wie auch bei der Beschaffung von Impfstoffen oder Gas), wie zuletzt von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erwähnt, wäre ein zentraler Schritt für mehr europäische Verteidigung „Made in Brussels“.
Langfristig allerdings bleibt ein deutsch-französischer Kompromiss alternativlos für die Zukunft der EU als sicherheitspolitische Akteurin, nicht zuletzt weil Entscheidungen über die GSVP oder potenzielle Änderungen der EU-Verträge Einstimmigkeit erfordern. Wenn es Deutschland und Frankreich nicht gelingt, sich auf gemeinsame Positionen bei zentralen Fragen zu einigen – etwa bei der nach der Finanzierung der militärischen Unterstützung der Ukraine, nach einer Strategie für die europäische Rüstungsindustrie oder nach einer geopolitischen Selbstversorgung der EU –, dann riskieren sie, dass es nicht beim Kollateralschaden für europäische Verteidigung bleibt.
Gesine Weber ist derzeit Visiting Scholar am Arnold A. Saltzman Institute for War and Peace Studies an der Columbia University. Als Research Fellow ist sie außerdem beim German Marshall Fund in Paris tätig, wo sie zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik forscht.
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