Europa steht am Scheideweg
Von Günter Müchler

Zum zweiten Jahrestag des russischen Überfalls auf sein Land sprach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Klartext. „Wir haben keine Alternative. Wenn wir verlieren, gibt es uns nicht mehr.“ Ums Ganze geht es auch für die übrigen Europäer. Gelingt es nicht, Putin in die Schranken zu weisen, kann Europa für Jahrzehnte machtpolitisch einpacken. Entscheidungen stehen an. Bevor sie getroffen werden, müssen allerdings Denkverbote geknackt werden. Diese Absicht steht hinter dem Vorstoß des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, Bodentruppen für die Ukraine in Erwägung zu ziehen. Dass Bundeskanzler Olaf Scholz Macron sogleich widersprochen hat, war zu erwarten, sollte aber nicht überbewertet werden. Scholz beurteilt die Herausforderung durch den russischen Aggressor ähnlich wie Macron. Bloß hat er weniger Mut.
Gute und schlechte Nachrichten hielten sich in den letzten Tagen die Waage. Ungarn, dessen Ministerpräsident aus purem Potenzgehabe gern „Einer gegen Alle“ spielt, hat seinen Widerstand gegen Schwedens NATO-Beitritt aufgegeben. Das ist gut für die Allianz und gut für die Ukraine. Zwar verfügt das skandinavische Land nicht über viele Soldaten; doch mit seinen hoch angesehenen Luft- und Seestreitkräften stärkt es die Position des Bündnisses im Ostseeraum erheblich. In dieser Hinsicht erwies sich Putins Überfall als Rohrkrepierer. Ohne ihn hätte weder Schweden noch Finnland mit der Tradition des Neutralismus gebrochen.
Verrechnet hat sich Putin auch in einem anderen Punkt. Erst seine Nachhilfe brachte die Mehrzahl der europäischen Staaten dazu, aus dem sicherheitspolitischen Schlafwagen auszusteigen. Mittlerweile stecken sie, darunter auch Deutschland, zwei Prozent ihres Bruttosozialprodukts in die Streitkräfte – eine weitere gute Nachricht der letzten Tage. Bei den zwei Prozent wird es nicht bleiben können, auch weil die militärische Lage der Ukraine hat sich verdüstert hat. Der Wechsel im Oberkommando, dazu Selenskyjs Äußerung, die Pläne der letztjährigen ukrainischen Offensive seien in Moskau bekannt gewesen, bevor die Offensive begonnen habe, lassen keine andere Deutung zu.
Verflogen ist der Optimismus, der sich nach der gewonnenen Schlacht um Kiew breit gemacht hatte, auch im Westen. Es bestätigt sich, was viele vorhergesagt hatten. Russlands Ressourcen sind unermesslich. Nicht, dass die Sanktionen nutzlos wären. Nur hält ein autokratisches System, dem die aktive Zustimmung der Menschen gleichgültig ist, eine Menge aus. Putin sitzt, nach dem Prigoschin-Intermezzo, immer noch fest im Sattel. Dank der grenzenlosen Leidensfähigkeit des russischen Volkes besitzt er im einem Abnutzungskrieg die besseren Karten.
So sehen es im Westen Geheimdienste und Militärs. Die Frage ist, welche Konsequenzen die Regierungen aus dieser Erkenntnis ziehen. Europa hat es bisher an Unterstützung für die Ukraine nicht fehlen lassen. Zwei Jahre erhebliche Transfers von Gütern und Geld, zwei Jahre Ausbildung von zehntausenden ukrainischer Soldaten, zwei Jahre Schutzraum für Millionen ukrainischer Flüchtlinge: Das sind Leistungen, für die Demokratien ihre Bürger erst einmal gewinnen müssen. Nun, da sich erste Ermüdungserscheinungen zeigen, den Einsatz noch einmal hochschrauben zu sollen, ist viel verlangt und dennoch zwingend. Die militärische Lage und das Schwanken des Stützpfeilers USA lassen keine andere Wahl.
Dass die Botschaft angekommen ist, zeigen politische Erörterungen, die aus dem Korridor des bislang Sagbaren austreten. Ganz vorsichtig hat die SPD-Europapolitikerin Katarina Barley eine deutsche Atombewaffnung ins Gespräch gebracht. CDU-Chef Friedrich Merz und die deutsche Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reden der Schaffung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft das Wort. Man mag das für Luftnummern halten, aber das wäre falsch. Veränderungen im politischen Vokabular sind Indikatoren einer sich verändernden Agenda.
Man übertreibt nicht, wenn man sagt, dass in Europa ein Umdenken von epochalem Ausmaß eingesetzt habe, auch in der Bundesrepublik. Ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister betont ein ums andere Mal, Deutschland müsse kriegsbereit sein. Grünen-Politiker setzen sich für Aufrüstung ein. „Si vis pacem para bellum“ („Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor“). Für eine ganze Generation war die Römer-Weisheit nicht mehr als eine lachhafte Sottise aus dem politischen Paläolithikum. Diese Generation, für die Krieg ein Fremdwort war, wollte lieber Schwerter zu Pflugscharen umschmieden. Daran möchte sie heute nicht mehr erinnert werden.
Natürlich sitzen noch viele im Bremserhäuschen. Ausgetretene Pfade zu verlassen, ist anstrengend. Aber Putin ist ein guter Mentor. Man muss die ausschweifenden Rechtfertigungen seines Tuns nachlesen, um zu begreifen, dass der Überfall auf die Ukraine nicht einfach ein spätimperialistischer Reflex ist. Putin führt Krieg gegen den Westen, gegen seine Werte, gegen die Demokratie. Er hält die Europäer für schlaff. Er verachtet die Demokratie. Gleichzeitig fürchtet er ihre Ansteckungsgefahr. Erst dann ging er auf die Ukrainer los, als diese, obschon keine gelernten Demokraten, sich für die westliche Regierungsform und Lebensweise entschieden.
Ob wir wollen oder nicht: Als Europäer und Demokraten sind wir in diesen Krieg involviert. Den Ukrainern zur Seite zu stehen, ist keine gute Tat, sondern Selbstverteidigung. Über die Form ist im Licht der politischen und militärischen Entwicklung immer neu zu verhandeln. Scholz‘ Zurückhaltung verdient Respekt. Falsch wäre sie in der Versteinerung. Es ist Putin, der ständig eskaliert. Die (mutmaßliche) Ermordung des Regimekritikers Nawalny unterstreicht, dass um sein Ansehen im Westen nur Leute vom Schlage Sahra Wagenknecht und die AfD besorgt sind. Ihm selbst ist es längst gleichgültig, wie im Westen über ihn gedacht wird.
Daher wäre es zutiefst unlogisch, ihm die Deutungshoheit über rote Linien und das, was für die Ukraine und für Europa notwendig ist, zu überlassen. Ob der Marschflugkörper Taurus, ob Bodentruppen in der Ukraine: Alle Optionen müssen auf den Tisch, keine darf ausgeschlossen sein. Das ist das Wesen der Abschreckung. Europa steht am Scheideweg. Als die FDP-Verteidigungspolitikerin Agnes Strack-Zimmermann dem Ampel-Antrag ihre Stimme versagte, weil er sich nicht ausdrücklich zur Lieferung des Taurus-Systems bekannte, und stattdessen dem Antrag der Union zustimmte, tat sie dies mit den Worten: „Ich möchte mir nicht eines Tages vorwerfen lassen, im richtigen Zeitpunkt nicht das Richtige getan zu haben.“
Man muss den Mut haben, die Dinge von ihrem möglichen Ende her zu betrachten. Ein Sieg Putins wäre eine Niederlage, von der sich Europa so bald nicht erholen würde.
Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.
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