Politik: Atomare Anspannung

Während Russland den New-START-Vertrag mit den USA aussetzt, rüstet China weiter auf. Ist das Aus der nuklearen Rüstungskontrolle noch abwendbar?

2023 war kein gutes Jahr für die Bemühungen um nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung. Auch der Blick in die nähere Zukunft stimmt wenig optimistisch. Russland hat beschlossen, den 2010 geschlossenen Neuen Vertrag zur Reduzierung strategischer Waffen und Trägersysteme – kurz „New START“ – zu stoppen. Zwischen USA und Russland gibt es somit keinen Dialog mehr über die atomare Rüstungskontrolle oder den Abbau von Risiken. Gleichzeitig rüstet China nuklear auf. All das bereitet den Boden für ein nukleares Wettrüsten.
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Wie dieses Wettrüsten sich verhindern lässt, liegt auf der Hand: New START muss uneingeschränkt umgesetzt werden. Die USA und Russland müssen den Gesprächsfaden wiederaufnehmen und sich über eine ganze Reihe von Fragen der strategischen Stabilität austauschen. Zudem muss ein kontinuierlicher Dialog mit China über Atomwaffen und die damit zusammenhängenden Fragen aufgenommen werden. Leider machen die großen Atommächte derzeit wenig Anstalten, diese Schritte in die Wege zu leiten.

Im Februar hat Russland New START und damit das letzte aktive Rüstungskontrollabkommen zwischen den USA und Russland ausgesetzt. Moskau erklärte, es werde sich weiterhin an die im Vertrag vereinbarte zahlenmäßige Begrenzung halten, aber die für die Vertragsverifikation entscheidenden Vereinbarungen über Datenaustausch, Notifizierungen und Inspektionen werde es nicht umsetzen. Wenig später stellte auch Washington die Umsetzung der Verifikationsbestimmungen ein, sagte aber ebenfalls zu, die Obergrenzen einzuhalten.

New START beinhaltet drei zahlenmäßige Begrenzungen und reduziert die strategischen Nukleararsenale der USA und Russlands auf ein Niveau, das es seit den 1960er Jahren nicht mehr gegeben hatte. Zum einen wurde die Zahl der Trägersysteme für strategische Nuklearwaffen auf 800 begrenzt. Dazu zählen zum einen Trägersysteme für Interkontinentalraketen (intercontinental ballistic missiles, ICBMs), U-Boot-gestützte ballistische Raketen (submarine-launched ballistic missiles, SLBMs) und atomwaffenfähige Langstreckenbomber. Zweitens durfte keine der beiden Seiten über mehr als 700 einsatzbereite ICBMs, SLBMs und Langstreckenbomber verfügen (als einsatzbereit werden ICBMs und SLBMs bezeichnet, wenn sie auf Trägersystemen stationiert sind). Mit sogenannten „nationalen technischen Mitteln“ wie zum Beispiel Spionagesatelliten sollte jede Seite kontrollieren können, ob die Gegenseite sich zuverlässig oder einigermaßen zuverlässig an diese beiden Obergrenzen hält.

Moskau verwies auf die vor allem durch den Russland-Ukraine-Krieg verschlechterten bilateralen Beziehungen.

Die dritte und wohl wichtigste Begrenzung sah vor, dass auf keiner der beiden Seiten die Menge der strategischen Atomsprengköpfe auf stationierten ICBMs und SLBMs (plus einem Sprengkopf je einsatzfähigem strategischem Bomber) 1 550 überschreiten darf. Viele einsatzbereite ICBMs und SLBMs sowohl der USA als auch Russlands sind mit weniger Sprengköpfen bestückt, als aufgrund ihrer Kapazität möglich wäre. Einsatzbereite Raketen könnten also mit weiteren eingelagerten Sprengköpfen versehen werden. Dass die in New START vorgesehenen Notifizierungen und Inspektionen nicht stattfinden, schwächt sicherlich das Vertrauen, dass die Gegenseite keine zusätzlichen Sprengköpfe anbringt und die Obergrenze von 1 550 einhält.

New START wurde auf Eis gelegt zu einem Zeitpunkt, als es zwischen Washington und Moskau keinen kontinuierlichen Dialog über nukleare Rüstungskontrolle, strategische Stabilität oder Risikoreduzierung gab. Im Juni 2023 unternahmen die Vereinigten Staaten einen Versuch, den Gesprächsfaden wiederaufzunehmen, den sie – was ein Fehler war – nach Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 hatten abreißen lassen. Darauf ging die russische Seite allerdings nicht ein. Moskau verwies auf die vor allem durch den Russland-Ukraine-Krieg verschlechterten bilateralen Beziehungen.

Im Oktober folgte die nächste ungute Nachricht: Russland machte die Ratifizierung des Umfassenden Kernwaffenteststopp-Vertrags (Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty, CTBT) von 1996 rückgängig mit der Begründung, die USA habe diesen Vertrag nicht ratifiziert. Als Unterzeichnerstaaten sind sowohl Russland als auch die USA allerdings weiterhin verpflichtet, sich aller Handlungen zu enthalten, die Ziel und Zweck des Vertrags vereiteln würden. Dennoch geriet die internationale Rüstungskontrolle durch Moskaus Schritt noch etwas mehr ins Wanken.

Parallel blicken die USA zunehmend besorgt nach China. Seit Jahren verfügt Peking über 200 bis 300 nukleare Sprengköpfe und damit über ein Arsenal, das ungefähr mit den Atomwaffenbeständen Großbritanniens oder Frankreichs vergleichbar ist. Dies verändert sich derzeit. China baut gegenwärtig mehrere Hundert Silos für ballistische Interkontinentalraketen und könnte nach Schätzungen des US-Verteidigungsministeriums bis 2030 sein Arsenal auf 1 000 Atomsprengköpfe ausbauen. Pentagon-Vertreter bezeichnen China zunehmend als gleichrangigen nuklearen Konkurrenten. Manche leiten daraus die Forderung ab, das US-Militär brauche für die Zukunft mehr strategische Waffen, als nach dem New-START-Vertrag zulässig sind. Im Oktober forderte die vom Kongress eingerichtete Strategic Posture Commission in einem Bericht, die USA sollten unter anderem mehr Unterseeboote für den Abschuss von ballistischen Raketen, SLBMs, ICBMs und Langstreckenbomber anschaffen als geplant.

Auch über Raketenabwehr und konventionelle Langstreckensysteme sollte geredet werden.

Die internationale Rüstungskontrolle ist in schwierigem Fahrwasser, und ein Wettrüsten mit drei Beteiligten wird immer wahrscheinlicher. Diese Gefahr ließe sich abwenden und das nukleare Risiko begrenzen, wenn die Bemühungen um Rüstungskontrolle wieder intensiviert würden.

Erstens sollten die USA und Russland New START ab sofort wieder umsetzen. Dadurch könnten beide Seiten wieder darauf vertrauen, dass die Gegenseite die in dem Vertrag festgeschriebenen zahlenmäßigen Begrenzungen einhält (zumindest bis Februar 2026, denn dann läuft der Vertrag regulär aus), und die Grundlage für Verhandlungen über ein Nachfolgeabkommen legen.

Zweitens sollten die USA und Russland den Dialog über Fragen der strategischen Stabilität wiederaufnehmen und unter anderem darüber sprechen, welche Art von Rüstungskontrollabkommen auf New START folgen könnte und ob dieses Abkommen sich nur auf strategische Atomwaffen beziehen würde oder auf alle amerikanischen und russischen Nuklearwaffen – was die wünschenswertere Option wäre. Auch über Raketenabwehr und konventionelle Langstreckensysteme sollte geredet werden.

Drittens sollte Peking sich auf einen geordneten Dialog mit den Vereinigten Staaten einlassen, in dem Chinas wachsendes Nukleararsenal thematisiert werden kann, wobei die US-Vertreter die Bereitschaft mitbringen sollten, ernsthaft auf die chinesischen Besorgnisse angesichts der Raketenabwehr und der konventionellen Waffensysteme der USA einzugehen.

Viertens: So wie Washington China in die Pflicht nehmen will, möchte Moskau über die Atommächte Großbritannien und Frankreich reden. Die fünf ständigen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat – Großbritannien, China, Frankreich, Russland und die USA – stehen seit deutlich mehr als zehn Jahren im Dialog über Fragen der nuklearen Rüstung. Die fünf Beteiligten treffen sich auch weiterhin. Die Ergebnisse sind zwar dürftig, aber die fünf Staaten könnten dieses schon vorhandene Forum auch für Gespräche über multilaterale Schritte nutzen.

Da die Arsenale unterschiedlich groß sind und eine Verständigung auf zahlenmäßige Obergrenzen entsprechend schwierig wäre, könnten sie bei den qualitativen Begrenzungen ansetzen und zum Beispiel prüfen, ob sie sich darauf einigen könnten, dass landgestützte Mittelstreckenraketen nur mit konventionellen Sprengköpfen bestückt werden dürfen. Diese Schritte zur Abwendung eines atomaren Wettrüstens, das immer mehr in den Bereich des Möglichen rückt, liegen auf der Hand, aber derzeit gibt es wenig Anzeichen dafür, dass die drei wichtigsten Akteure – Moskau, Peking und Washington – diese Schritte in die Wege leiten werden.

Putin glaubt offenbar, er könnte durch die Schwächung der internationalen Rüstungskontrolle den Westen dafür „bestrafen“, dass er der Ukraine hilft.

Erstens ist Wladimir Putin nicht bereit, die Rüstungskontrolle „abzukoppeln“ – sprich: trotz der grundsätzlichen Schwierigkeiten im bilateralen Verhältnis an ihr festzuhalten. Russische Vertreter machen deutlich, dass sie in Sachen Rüstungskontrolle oder Risikoreduzierung mit den USA nichts unternehmen werden, solange Washington im Krieg zwischen Moskau und Kiew die Ukraine unterstützt. Putin glaubt offenbar, er könnte durch die Schwächung der internationalen Rüstungskontrolle den Westen dafür „bestrafen“, dass er der Ukraine hilft.

Zweitens gab es zwar im vergangenen November ein Treffen von Vertretern der amerikanischen und chinesischen Rüstungskontrollbehörden, aber Peking verspürt anscheinend wenig Neigung, sich auf regelmäßige Zusammenkünfte einzulassen. Dass China so wenig zum Reden bereit ist und es an Transparenz fehlen lässt, führt dazu, dass Washington eher von pessimistischen Annahmen über die tatsächliche Größenordnung des chinesischen Nukleararsenals ausgeht und sich bei Entscheidungen über seine künftige Nuklearstrategie von diesen pessimistischen Annahmen leiten lässt.

Drittens würde Washington lieber die Begrenzung von Atomwaffen in den Fokus stellen, müsste aber bereit sein, über Raketenabwehr und konventionelle Langstreckensysteme nicht nur zu sprechen, sondern vielleicht auch zu verhandeln, weil diese Themen für Russland und China ganz oben auf der Sorgenliste stehen.

Wenn die drei Staaten sich nicht bewegen, gehen sie einer Zeit wachsender Nukleararsenale, Ausgaben und nuklearer Risiken entgegen. Es ist zu hoffen, dass sie sich möglichst bald auf die Erkenntnis besinnen, zu der die USA und die Sowjetunion in den 1960er Jahren gelangten: Wenn eine Atommacht ihr nukleares Arsenal vergrößert und die Gegenseite dasselbe tut, bedeutet dies mehr Kosten und Risiken, aber nicht mehr Sicherheit. Diese Erkenntnis war für Washington und Moskau damals die Motivation für die ersten Gespräche über die Begrenzung strategischer Waffen.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Steven Pifer ist an der Brookings Institution und dem Center for International Security and Cooperation der Stanford University tätig. Der pensionierte US-Diplomat forscht vor allem zu den Themenbereichen Rüstungskontrolle, Ukraine, Russland und europäische Sicherheit.

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