Lob der Nation

Weshalb wir den Nationalstaat nicht den Rechtspopulisten überlassen dürfen.

Werbeplakat für den Marshall Fund (1950) des niederländischen Künstlers Reijn Dirksen. ©George C. Marshall Foundation / IPG

Ein Lobgesang auf den Nationalstaat? Eine Verteidigungsrede für die Nation? Weshalb nicht gleich ein Hoch dem Chauvinismus oder ein pathetisches Bekenntnis zu Ausgrenzung und Hass? Diese Auffassung jedenfalls scheint derzeit weitgehend Konsens in der medialen Berichterstattung, im Kulturbetrieb, in der Ökonomie, den Sozialwissenschaften, auf Kirchentagen und Parteikonventen. Der Nationalstaat gilt als rückwärtsgewandt und impraktikabel, unsolidarisch und in Anbetracht globaler Herausforderungen als ineffektiv und überholt – von der Nation ganz zu schweigen.

Ließen nicht schon Karl Marx und Friedrich Engels keinen Zweifel daran, dass die Lösung der sozialen Frage durch die Arbeiterklasse „die Besonderheit der einzelnen Nationalitäten“ überwinden wird? Und verweisen nicht die Sozialwissenschaften mit Recht auf „imaginierte Gemeinschaften“? Da liegt es doch nahe, über die Dekonstruktion der Nation den Weg zu bahnen für eine friedliche menschliche Zukunft, in der, wie von John Lennon besungen, nicht länger Staaten und ihre Grenzen dem Traum weltweiter Brüderlichkeit im Wege stehen. Benötigt werden deshalb supranationale Zusammenschlüsse und dezentral kooperierende Regionen, wenn nicht als „Weltstaat“ dann zumindest als „Europäische Republik“. „It’s easy, if you try!“

Nur ein Umstand stört den vermeintlichen Konsens: Weshalb nur weigern sich die Menschen auf diesem Planeten, das sozial konstruierte, rückwärtsgewandte und dabei so impotente wie ideologisch gefährliche Konzept der Nation endlich dorthin zu befördern, wohin es praktisch und moralisch für progressive Beobachter zu gehören scheint: auf den Müllhaufen der Geschichte? Die Antwort lautet: Weil die Mehrheit der Menschen diese Auffassung ganz offensichtlich nicht teilt.

Progressive Akteure sollten sich daran erinnern, dass Demokratie, Partizipation, Gerechtigkeit sowie Solidarität und Integration in einer globalisierten Welt ohne den Nationalstaat als Forum progressiver Politik schlichtweg nicht realisierbar sind.

In der neuesten Erhebung des World Values Surveys von 2014 fragten die Forscher in fast 100 Ländern nach der Rolle des Staates: 86 Prozent der Befragten von Algerien bis Zaire zeigten sich „sehr“ oder „ziemlich stolz“ auf ihre Nation. Der Anteil derjenigen, die „überhaupt keinen Stolz“ auf ihre Nationalität empfinden, lag bei mageren 1,7 Prozent. Ganz ähnlich auch neuere Ergebnisse des Meinungsforschungsinstituts YouGov aus dem Sommer 2017: Hier untersuchten die Forscher das Verhältnis von nationaler zu europäischer Identität in sieben europäischen Ländern. Das Ergebnis: Lediglich zwischen ein und drei Prozent der Befragten verstanden sich ausschließlich als Europäer: etwa drei Prozent der Deutschen, zwei Prozent der Briten, ein Prozent der Franzosen und null Prozent der Finnen. Diese Zahlen zeigen: Das Bekenntnis zu Nation und Nationalstaat ist nach wie vor weit verbreitet und scheint einem tieferen Bedürfnis nach einer besonderen Art von kollektivem „Wir“ zu entsprechen.

Doch ist nicht die Absage an die Nation eine essenzielle Lehre aus der Katastrophe der deutschen Geschichte? In der Tat: Wer möchte nach der mörderischen Hybris des Dritten Reiches bei klarem Verstand an den Zutaten dieser Giftmischung festhalten? Nur: Gerade in dieser Diskussion existiert eine spezifisch deutsche Dimension, in der übersehen wird, dass die Sehnsucht nach nationaler Selbstüberwindung europaweit nicht selbstverständlich ist. Tatsächlich haben sich Nation und Nationalstaat aus dänischer, norwegischer, polnischer und niederländischer Perspektive ja eben nicht als Aggressionsmittel erwiesen, sondern als Schutzschild – und zwar nicht zuletzt gegen Angriffe aus Deutschland. Auch vor diesem Hintergrund erscheint der so verbreitete wie wohlmeinende Versuch des intellektuellen Nationalstaats-Exorzismus als geradezu bizarr, wenn er sich so dogmatisch wie apodiktisch von Berlin ausgehend an die Nationen richtet, die unter deutschem Chauvinismus am meisten gelitten haben.

Problematisch erscheint diese kritische Positionierung zum Nationalstaat aber auch und gerade aus politischen Notwendigkeiten. Angesichts der allzu verbreiteten Rede vom Sündenfall des Nationalstaats sollten sich progressive Akteure daran erinnern, dass Demokratie, Partizipation, Gerechtigkeit sowie Solidarität und Integration in einer globalisierten Welt ohne den Nationalstaat als Forum progressiver Politik schlichtweg nicht realisierbar sind.

Hyperglobalisierung vs. Nationalstaat

Schon ein oberflächlicher Blick auf aktuelle globale Herausforderungen bestätigt, dass heute nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Staatlichkeit das eigentliche Problem darstellt. Auf globaler Ebene hat sich bislang nur der Nationalstaat als demokratisch legitimierter und handlungsfähiger Akteur erwiesen, der sich daranmachen kann, die ökonomische Hyperglobalisierung politisch einzuhegen. Sicher, die Globalisierung hat hunderte Millionen Menschen aus der Armut geführt. Zugleich aber hat sie massive Einkommenseinbußen der Mittelschichten in entwickelten Staaten mit sich gebracht – eine Triebkraft für die anhaltende populistische Revolte. Branko Milanović hat diese Entwicklung eindrücklich in der sogenannten „Elefantenkurve“ dargestellt. Zentral ist die Einsicht: Die positiven Effekte der Globalisierung zeigten sich vor allem dort, wo sie in staatliche Entwicklungsstrategien und einen aktiven und starken, statt in einen schlanken und neoliberalen Nationalstaat eingebettet wurde.

Was daher benötigt wird, ist keine Abwicklung der Globalisierung mit dem Bulldozer des Protektionismus, sondern ein alternativer Weg, auf dem einerseits die Vorteile genutzt, andererseits die Nachteile für weite Teile der Mittelschichten in den Industrienationen eingedämmt werden. Politisch kann dies nur durch eine Form der Re-Regulierung geschehen – durch eine Stärkung staatlicher Optionen. Eine „vernünftige Globalisierung“ (Dani Rodrik), die in konstruktive Bahnen gelenkt wird, beruht deshalb nicht auf der Überwindung, sondern auf der Stärkung nationalstaatlicher Kompetenzen.

Das gilt im übrigen auch über das Feld der Ökonomie hinaus. Denn ehrgeizige Projekte wie die Sustainable Development Goals oder das Pariser Klimaabkommen werden ebenfalls nicht ohne die Nationalstaaten zu erreichen sein, sondern nur mit ihnen. Ein Mehr an Steuerung einer ungleichen Globalisierung, ein Mehr an globaler Sicherheit, aber auch ein Mehr an internationaler Kooperation und Entwicklung wird deshalb nicht durch ein Weniger an Nationalstaat zu haben sein.

Wenn die Demokratie scheitert, scheitert Europa

Doch wie steht es um Europa? Was ist dran an der so verbreiteten Hoffnung auf supranationale Kontrollgewinne durch europäische Integration? In der Theorie mag das richtig sein. Doch in der Praxis lautet die ernüchternde Wahrheit, dass zumindest bislang Institutionen wie die EU eher als Globalisierungsbeschleuniger in Erscheinung getreten sind denn als Korrektoren von Entwicklungen, die aus dem Ruder gelaufen scheinen. Das liegt – anders als von den Populisten behauptet – nicht unbedingt am fehlenden Willen der Beteiligten, sondern an der Komplexität supranationaler Entscheidungsfindungen. Diese nämlich laufen klaren regulatorischen Bemühungen der „positiven Integration“ oft zuwider, da ein Konsens zu zentralen Fragen eben nicht übers Knie gebrochen werden kann.

Von Progressiven zu entwerfen ist ein aufgeklärtes patriotisches „Wir“ als fortschrittliche Identität, das eben weder nach ethnischen Wagenburgen strebt noch im Gegensatz steht zu europäischer und globaler Kooperation.

Noch entscheidender aber ist auf europäischer Ebene die Frage der demokratischen Partizipation. Auf die bestehenden Defizite des real existierenden europäischen Projekts kann nicht lediglich mit Rufen nach „mehr Demokratie“ reagiert werden. Im Gegenteil: In einer Situation, in der die neoliberale Wirklichkeit der „Euro-Rettung“ sich immer mehr von den erhabenen Visionen eines sozialen Europas abhebt, ist es nicht der „One-Size-Fits-None“-Ansatz eines verordneten Brüssel-Konsenses, der einen Ausweg aus den multiplen Krisen bietet. Vielmehr geht es um eine vernünftige Europäisierung, die unterschiedliche Erfordernisse und politische Präferenzen der Mitgliedsstaaten akzeptiert. Der Versuch hingegen, einen europäischen Demos etwa durch weitreichende Kompetenzverlagerung auf das Europäische Parlament mit der Brechstange zu erzwingen, dürfte die Fliehkräfte der Union in dem Maße verstärken, in dem Vereinheitlichung auf die Agenda gesetzt wird. Wer auf europäischer Ebene tatsächlich „mehr Demokratie wagen“ will, muss auch wagen, mehr demokratische Nationalstaatlichkeit zuzulassen – etwa durch Stärkung der Kontrollfunktionen demokratisch gewählter nationaler Parlamente.

Ja, wir brauchen ein Mehr an Europa. Aber nicht undifferenziert und überall. Ein konföderiertes Europa, das auf Vertiefung in einigen Politikfeldern, aber zugleich auch die Stärkung nationaler Wahlmöglichkeiten in anderen Bereichen setzt, wäre zwar keine „Europäische Republik“ wie sie von besonders enthusiastischen pro-Europäern gerne eingefordert wird , aber deshalb noch lange kein Hort der Reaktion. Im Gegenteil: Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre ein solches Europa statt populistisch einfach populär.

Migration und Heimatland

Doch auch in Bezug auf das Megathema Migration braucht es den Nationalstaat. Solidarität ist ein Kernanliegen progressiver Politik. Praktizierte Solidarität aber ist nicht nur auf andere gerichtet, sie benötigt auch ein „Wir“, das sie trägt. Vor diesem Hintergrund stellt sich Migration auch als Herausforderung für den sozialen Wohlfahrtsstaat dar. Eine politische Linke, die sich um eine klare Aussage zur Begrenzung von Migration bei gleichzeitiger humanitärer Großzügigkeit herumdrückt oder diese Position dem politischen Gegner überlässt, erweist nicht nur der eigenen Handlungsfähigkeit einen Bärendienst. Sie gefährdet auch zwei traditionelle Kernanliegen: den solidarischen Wohlfahrtsstaat sowie das Bestreben, gesellschaftliche Integration tatsächlich möglich zu machen.

In seiner Rede anlässlich des Tags der deutschen Einheit 2017 plädierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für eine Rehabilitation des Begriffs Heimat. Es gehe darum, „die Sehnsucht nach Heimat nicht den Nationalisten zu überlassen“. „Heimat“, so der Bundespräsident, sei „der Ort, an dem das ‚Wir‘ Bedeutung bekommt“. Dass Heimat als Begriff von progressiven Kräften besetzt werden kann, hat auch Alexander Van der Bellen in seinem Präsidentschaftswahlkampf 2016 in Österreich unter Beweis gestellt. Doch dass gerade progressive Kräfte auf diesen Begriff setzen sollten, bleibt umstritten. Ist der Begriff nicht „ausgrenzend“ und in Anbetracht der Blut-und-Boden-Romantik der Nationalsozialisten ohnehin verbrannt? Zunächst scheint das einleuchtend. Doch diese Verweigerung hat zur Folge, dass der Begriff „Heimat“ auf genau der Ebene brachliegt, auf der er politisch am wirksamsten ist.

Sicher, wenn es um lokale Kiezromantik oder regionale Mundartpflege geht, scheint Heimat für Progressive zunehmend tragbar. Auch Marc Saxer warb auf diesen Seiten kürzlich für „eine progressive und lebenswerte Heimat“, verwurzelt in „lokalen Traditionen“. Diese Überlegung hat einiges für sich. Warum aber schreckt sie vor der tatsächlich am weitesten verbreiteten Bedeutung von Heimat zurück – nämlich eben vor dem Heimatland?

Denn gerade diese Leerstelle ist es doch, die sich als Integrationshypothek und als politisch blinder Fleck erweist. Es ist schließlich nicht der Kiez, der politische Emanzipation garantiert, sondern die Anerkennung als Bürger in der staatlichen Gemeinschaft. Deshalb sind „Heimat“ und eine weltoffen definierte „Nation“ auf staatlicher Ebene keine ausgrenzenden Begriffe, sondern Konzepte, die Aufnahme, Integration und Partizipation überhaupt erst ermöglichen – der „zivile Patriotismus“ etwa der schottischen SNP liefert hierfür ein anschauliches Beispiel.

Dem Plädoyer einer linken Rehabilitation des Nationalstaats liegt dabei die Überzeugung zugrunde, dass ein solches gerade kein Anbiedern an den vermeintlich nationalistischen Zeitgeist darstellt. Im Gegenteil – es handelt sich um eine Wiederentdeckung. Tatsächlich errang gerade die linke Mitte stets dann Mehrheiten, wenn sie Gerechtigkeit und das stolze Erbe des Internationalismus mit einem Bekenntnis zum starken Staat verknüpfte. Olof Palme hatte das im schwedischen „Volksheim“ ebenso erkannt wie Willy Brandt. Nicht von ungefähr zog dieser 1972 mit einer Losung ins Kanzleramt, der heute wahrscheinlich AfD-Nähe unterstellt würde: „Stolz sein auf unser Land“. Und 1987 verwies Brandt darauf, dass „die Sache der Nation – in friedlicher Gesinnung und im Bewusstsein europäischer Verantwortung – von Anfang an bei der demokratischen Linken besser aufgehoben ist als bei anderen“. Wie recht er damit hat, belegen derzeit wöchentlich die skandalösen Äußerungen der AfD. Denn das zentrale Problem ist doch gerade, dass ein positiver und weltoffener ziviler Patriotismus in dem Maße unwahrscheinlicher wird, in dem sich progressive Kräfte gegen ihn verwahren. Es wird deutlich, dass nicht nur die politische Linke den Nationalstaat benötigt, sondern auch und gerade der demokratische Nationalstaat die Linke.

Von Progressiven zu entwerfen ist daher ein aufgeklärtes patriotisches „Wir“ als fortschrittliche Identität, das eben weder nach ethnischen Wagenburgen strebt noch im Gegensatz steht zu europäischer und globaler Kooperation. Ein auf einer solchen Identität beruhender Nationalstaat wäre dem Alleinvertretungsanspruch der Extremisten entrissen und wäre ein wirksames Mittel gegen den immer stärker um sich greifenden politischen Tribalismus. Zugleich würde er progressiven Kräften die Handlungsebene zurückgeben, auf der sie stets ihre größten Erfolge feierten. Kurzum: Ein solcher Staat wäre ein würdiger Adressat für ein so offenes wie deutliches linkes Lob der Nation.

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Band Lob der Nation. Weshalb wir den Nationalstaat nicht den Rechtspopulisten überlassen dürfen, Dietz April 2018.

Dr. Michael Bröning leitet das Referat Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Zuvor war er Landesvertreter der FES in Ost-Jerusalem und in Jordanien sowie Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin.

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