Rezension von Dr. Aide Rehbaum
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Dorothee Röhrig: Du wirst noch an mich denken

© Sebastian Fuchs

Dorothee Röhrig schreibt sich die Erinnerungen an die Großmütter, Mütter und Tanten von der Seele, in deren Dunstkreis sie selber stand und die ihr durch ihre Verhaltensregeln entscheidende Entwicklungsschritte erschwert haben. Es ist eine Fehlannahme zu glauben, dass eine großbürgerliche Familie mit besten Bildungschancen und ohne Fluchterfahrung einfacher den Krieg überstanden haben müsste. Über dieser Familie schwebte das Schicksal mehrerer Verwandter, die im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 verhaftet, gefoltert und schließlich hingerichtet wurden. Die damals entscheidenden Juristen arbeiteten unbehelligt in der Bundesrepublik weiter, da sie innerhalb des damaligen Rechts urteilten. Mit dieser Aussage wurde in den 1960er Jahren fast alles glattgebügelt, solange es nur zu seiner Zeit rechtens war. Die Widerstandskämpfer galten nach dem Krieg noch lange als Verräter, so dass sich die Nachfahren als Außenseiter im negativen Sinn fühlten. Aus diesem demütigenden Gefühl heraus kultivierte die Familie die Auffassung über der Masse zu stehen.

Die zeitgenössischen Frauen überstanden glimpflich die Schreckenszeit, weil sie das Grauenhafte entweder verdrängten, die Zähne zusammenbissen, eine Diskussion verweigerten oder was andere Strategien mehr sind. Da dieselben Muster nun auch aufs restliche Leben angewandt wurden, beeinflusste dies das Verhalten der Töchter bzw. Enkelinnen und minderte deren Fähigkeit sich auf Situationen einzulassen, angemessen zu reagieren oder sich von der Mutter abzunabeln. Verbunden war jeder Versuch zur Selbständigkeit mit Schuldgefühlen. Unterschwellig war immer das Gefühl da, die Mutter müsse geschont werden, die Gründe blieben im Dunkeln. Wäre offen darüber gesprochen worden, wäre es für alle Beteiligten leichter geworden.

Familienintern wurde den nachfolgenden Generationen gegenüber geschwiegen oder in Floskeln geantwortet, bis die gar nicht mehr fragten. Es brauchte also Abstand, eine Therapie und den Tod der Mutter, um intensiver, mitfühlend und feinfühlig entlang eines roten Fadens die Familiengeschichte zu beleuchten. Trotz des kritischen Blicks ist das Buch keine Abrechnung, vielmehr empfehlenswertes Beispiel für offene und ehrliche Auseinandersetzung mit den eigenen Verhaltensmustern und familiärer Überlieferung.

 

Dorothee Röhrig, 1952 in Tübingen geboren, ist Journalistin und Autorin. Sie war viele Jahre lang in gehobenen Positionen für verschiedene Frauen- und Publikumszeitschriften tätig. 2005 gehörte sie zum Gründungsteam der Zeitschrift ›Emotion‹ und war lange Chefredakteurin. Dorothee Röhrig ist Mutter einer Tochter und lebt mit ihrem Mann in Hamburg.

 

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

EUR 19,99 [DE]
ISBN: 978-3-423-44668-6
Erscheinungsdatum: 16.02.2023
1. Auflage
256 Seiten
Sprache: Deutsch
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