Putin und die verschleppten Kinder
Von Wolfgang Bergsdorf
Seit 14 Monaten tobt der Krieg Russlands gegen die Ukraine, ohne dass sich ein Ende abzeichnet. In der vergangenen Woche wurde einmal mehr Hoffnung auf eine Beendigung dieses Konfliktes geweckt, als Chinas Staatschef Xi Jingping erstmals seit dem russischen Überfall zum Telefonhörer griff, um mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskij fast eine Stunde lang zu sprechen. Selenskij bewertete das Gespräch als „einen starken Impuls für die Entwicklung unserer bilateralen Beziehungen“. Xi sprach davon, dass „die gegenseitige Achtung der Souveränität und der territorialen Integrität Grundlage ist der Beziehungen zwischen China und der Ukraine ist“.
Xi sicherte Selenskij außerdem humanitäre Hilfe zu sowie die Entsendung eines Sondergesandten in die Ukraine, um die Chancen für ein Ende der Kämpfe auszuloten. Dieser Hoffnungsschimmer muss realistisch gesehen werden angesichts der bisherigen prorussischen Neutralität Chinas in diesem Konflikt. Die Chinesen haben den Angriffskrieg Putins bisher nicht verurteilt, wollen dem russischen Diktator – erklärtermaßen – allerdings keine Waffenhilfe zukommen lassen. Sie warnen vor einer nuklearen Eskalation des Konfliktes und unterlassen alles, um die gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen des Westens zu unterlaufen. Gleichwohl weiß Putin die chinesische Nicht-Verurteilung seiner Aggression zu würdigen, die es ihm ermöglicht, die finanziell einträglichen Energielieferungen nach China umzuleiten. Die Ruhe an der 4000 km langen gemeinsamen Grenze ist auch ein politischer Pluspunkt, der China wie Russlands zugutekommt.
Niemand sollte sich also allzu große Hoffnungen machen über die Aktivitäten des chinesischen Sonderbotschafters in der Ukraine. Kreml-Sprecher Peskow lässt zum chinesisch-ukrainischen Telefonat verlauten: „Wir sind bereit, alles zu begrüßen, was eine Beendigung des Konfliktes und das Erreichen aller von Russland gesetzten Ziele näherbringt.“ Dies klingt nicht so, als ob sich Moskau auf Verhandlungen einlassen würde, die nicht Diktate, sondern die Suche nach Kompromissen zum Inhalt haben müssten. Die Kriegsziele der Konfliktparteien liegen noch weit auseinander.
Vor allem Russlands Diktator Putin lässt keine Anzeichen erkennen, dass er auf die Unterjochung der Ukrainer verzichten und den Krieg so beenden wolle. Vielmehr scheint auch er den Verlust der Baltischen Staaten nach mehr als drei Jahrzehnten ihrer Souveränität immer noch als Phantomschmerz zu verspüren. Wie die Süddeutsche Zeitung in dieser Woche enthüllte, lässt Putin seine Denkfabriken im Kreml Papiere entwerfen, wie Estland, Lettland und Litauen wieder stärker für Russland, seine Wirtschaft und seine Kultur und Sprache geöffnet werden könnten. Dabei setzt Russland wie auch in Belarus und in Moldavien auf Doppelstaatler und Russischsprachige.
Vor allem aber sollen Russland-freundliche Parteien in den Baltischen Ländern dafür sorgen, dass dort möglichst keine militärischen Einrichtungen der NATO ausgebaut werden. Dabei soll auch die energiepolitische Abhängigkeit der Baltischen Länder von Russland ins Feld geführt werden. Übrigens spricht das neue Kreml-Papier davon, dass die Baltischen Länder 1939 in die Sowjetunion „inkorporiert“ worden seien „mit der Zustimmung der gewählten Behörden“. Dass es sich damals um eine mit militärischer Gewalt brutal durchgesetzte Annexion gehandelt hat, entspricht der historischen Deutung Russlands ebenso wenig wie die jüngsten Annexionen der Krim und im Donbass, die mit den gleichen gewaltsamen Methoden zustande gekommen sind.
Derweil geht der Krieg in der Ukraine weiter. Jeder Tag und jede Nacht bringen Hunderten von Menschen den Tod und noch mehr Verletzungen und Traumatisierungen. Die Zerstörung der Infrastruktur schreitet fort, obgleich es den ukrainischen Technikern immer wieder gelingt, Notreparaturen durchzuführen. Die Zerstörung der Städte und Gemeinden vor allem im Osten der Ukraine erreicht Ausmaße, die uns an das Deutschland von 1945 erinnern.
Beim Blick auf das Kriegsgeschehen darf dessen Asymmetrie nicht außer Acht gelassen werden. Zwar gibt es einzelne Angriffe von Drohnen und Raketen durch die Ukrainer auf russisches Gebiet, wie dies eine in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) unlängst veröffentlichte Karte zeigt. Aber mehr als 95 Prozent aller Angriffe finden auf dem Territorium der Ukraine statt. Das bedeutet, dass die ukrainische Zivilbevölkerung die Hauptleidtragende in diesem Konflikt ist.
Zivilisten kommen dort aber nicht nur durch Beschuss zu Tode, sondern werden auch gezielt von Okkupanten ermordet. Bis April 2023 sind etwa 9000 Todesopfer in der ukrainischen Zivilbevölkerung zu beklagen, darunter etwa 500 Kinder. Hinzu kommen 15.000 Verletzte, darunter 1000 Kinder. Das meldet das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte. Hinzu kommen 22.000 Kinder, die seit dem russischen Angriff verschwunden sind. Viele von ihnen wurden aus Waisenhäusern, aus Pflegeanstalten und Schulen nach Russland oder in die besetzten Gebiete verschleppt. Sie wurden in Umerziehungslager deportiert oder in Russland zur Adoption freigegeben. Die ukrainischen Kinder sollen einer Gehirnwäsche unterzogen und zu russischen Patrioten umerzogen werden. Menschenraub ist jedoch ein Kriegsverbrechen. Wladimir Putin will so die Identität der Ukrainer auslöschen und ihre Kultur vernichten. Mit dieser Strategie glaubt er, seinen Traum von einem neuen Russland verwirklichen zu können.
Im März hat der internationale Strafgerichtshof in Den Haag wegen dieses Kriegsverbrechens Haftbefehl gegen Putin und seine präsidiale Hauptkommissarin für Kinderrechte in Russland, Marie Lwowa-Belowa erlassen. Diese spricht selbst von 730.000 Kindern im Osten der Ukraine, die vor den Kriegswirren hätten gerettet werden müssen, indem sie in Feriencamps in Sicherheit gebracht wurden. Die Kommissarin ist von Beruf Dirigentin, mit einem orthodoxen Priester verheiratet und hat fünf eigene Kinder, dazu einige adoptiert – darunter Filip aus Mariupol, dessen Eltern beim russischen Sturmangriff getötet wurden. Er ist jetzt 16 Jahre alt, lebt in einer Moskauer Villa und bekam sein erstes Smartphone zum Geburtstag von seiner Adoptivmutter. Natürlich hat er mittlerweile die russische Staatsbürgerschaft erhalten und dient der Kommissarin als Aushängeschild für die humanitäre Intention ihrer Arbeit.
Obwohl mit internationalem Haftbefehl gesucht erschien die Kommissarin bei der jüngsten Sitzung des UN-Sicherheitsrates, in dem Russland in diesem Monat den Vorsitz hat, auf dem Videobildschirm, um russische Propagandafloskeln zu repetieren. Wie die FAZ vor kurzem berichtete, hat sich ein von Kiews Oberbürgermeister Wladimir Klitschko und anderen gegründetes Netzwerk gebildet, das sich die Aufgabe stelltet, möglichst viele dieser entführten ukrainischen Kinder zurückzuholen. Bisher ist es gelungen, 300 Kinder zurückzubringen, darunter waren auch Schüler, die unter vorgehaltener Waffe während des Unterrichts aus einer Schule in Charkiv entführt wurden. Die Russen kollaborieren in den eroberten Gebieten mit Lehrern, Direktoren und Verwaltungsangestellten, die sie bei ihrer Mission der Russifizierung unterstützen und Druck auf die Eltern ausübten, damit sie ihre Kinder in russische Ferienlager schicken.
In vielen dieser Umerziehungslager müssen die Kinder die russische Nationalhymne singen. Wer sich weigert, riskiert Prügel. In manchen Lagern gibt es Ratten und Kakerlaken, das Essen ist oft miserabel, Decken und Kissen fehlen. Wer sich der Gehirnwäsche widersetzt, wird in dunklen Räumen tagelang eingesperrt. Solche Maßnahmen eignen sich nicht für die russische Propaganda, die das Leben im neuen Russland in den hellsten Farben leuchten lassen will. Aber die Medien und die Wissenschaft, deren Freiheit in der Verfassung verankert ist, haben dafür zu sorgen, dass solche verabscheuenswürdigen Fakten nicht aus dem Gedächtnis geraten, damit die Verantwortlichen eines Tages vor Gericht gestellt werden können. Vor wenigen Tagen hat der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal bei einer Audienz Papst Franziskus um Hilfe bei der Rettung der nach Russland verschleppten ukrainischen Kinder gebeten und ihn auch nach Kiew eingeladen.
Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinet“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt. Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.