Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

Na ja, auch in den Kaufhäusern und auf den Weihnachtsmärkten scheint sich (wenigstens hie und da) herumgesprochen zu haben, dass die Epoche der weltweiten Klima-Erwärmung nach neuen Liedern verlangt. Gerade zur Weihnachtszeit. Von wegen „Leise rieselt der Schnee“.   Zum Glück gibt es – wieder einmal – die Amerikaner. Weniger wegen der sprachlichen Inhalte der christmas songs, sondern wegen der flotteren Musik und (allem voran) der englischen Sprache, weil die hierzulande eben nicht von Allen verstanden wird. An sich ist das schade. Denn es gibt wirklich schöne, deutschsprachige Lieder zur Adventszeit und zum Christfest. Aber wenn sie gespielt werden, ist das mehr eine Dudelei, die da in Dauerschleife auf den Straßen, Plätzen und in den Geschäften erklingt. Man muss wirklich kein Zyniker sein, um sich dabei von vielen Fragwürdigkeiten bedrängt zu fühlen.

Denn was stimmt denn tatsächlich noch von der Botschaft der Lieder, die einen im Grunde von Kindesbeinen an jedes Jahr wieder freudig und wohlig eingestimmt hatten auf das große Fest mit seiner Friedensbekundung an die Welt? Was ist aus der Botschaft der Lieder geworden? Friede auf Erden? Wladimir Putin im Moskauer Kreml lacht wahrscheinlich nur über diese Worte, während es im Süden – auf beiden Seiten der ukrainisch-russischen Grenze – Bomben und Granaten hagelt und Menschen sterben. Praktisch jede Minute, nur um den Machtrausch eines Despoten zu befriedigen.

Und in Israel, im „Heiligen Land“, von wo aus die biblische Heilsbotschaft in und um die Welt ging, lebt eine islamistische palästinensische Terror-Organisation namens Hamas ihren grenzenlosen Hass auf Juden und den Judenstaat aus und nimmt – offensichtlich bedenkenlos – in Kauf, dass in der Folge des grauenvollen Massakers vom 7. Oktober tausende Unschuldige durch die Vergeltungsschläge ums Leben kommen. Von wegen „Stille Nacht, heilige Nacht“, von wegen „Süßer die Glocken nie klingen als zu der Weihnachtszeit“. Von wegen „Freuet euch, ihr Christen alle“ – wenn Krieg und Gewalt dem Frieden vorgezogen werden! Was muss in den Köpfen derer eigentlich vorgehen, in denen die Detonation todbringender Sprengkörper so viel lieblicher klingt als der Wunsch eines Liedes mit dem ‚Titel „Peace, Frieden, Schalom, Salam“?

Fragwürdig geworden sind keineswegs allein die in bekannte Melodien gegossenen religiösen Texte zu Lob und Ehre der Christgeburt. Weihnacht ist ja nicht zuletzt das Fest der Kinder. In Sonderheit in unsren Breiten weiße Weihnacht – so, wie sie halt früher gang und gäbe, kurz: normal war. „Schneeflöckchen, Weißröckchen, woher kommst Du geschneit?“ Heutzutage wäre es wohl durchaus angebracht, das „woher“ durch „wann“ zu ersetzen. Wer sich tatsächlich noch an „weiße Weihnacht“ mit Rodeln und Schneeballschlachten erinnern kann, muss über ein gutes Gedächtnis verfügen und wird möglicherweise bereits seit geraumer Zeit seinen Ruhestand im Rentner-Ohrensessel sitzen. Wenn jetzt (und das natürlich schon seit Jahren) überhaupt etwas rieselt, dann ist es kaum die im entsprechenden Lied erwähnte weiße Pracht, sondern Regen oder vielleicht sogar rötlicher Sahara-Sand. Fraglich daher, ob die Aussicht darauf so recht anregt, zu singen „Morgen, Kinder wird´s was geben, morgen werdet ihr euch freu`n…“

Soeben ist in Kuwait – wieder einmal – eine (zumindest zahlenmäßig) gewaltige Konferenz zu Ende gegangen, auf der für alle Welt bindende, wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der globalen Erwärmung hätten beschlossen werden sollen. Natürlich konnten nur weltfremde Utopisten Entscheidungen in der eigentlich notwendigen Radikalität erwarten, weil die wirtschaftlichen, entwicklungs-technischen und sozialen Unterschiede auf der Erde viel zu groß sind. Klar also, dass das Ergebnis von Kuwait nicht dazu animiert, begeistert das „Wunder der Weihnacht“ zu besingen. Zumal auch die Bilder von den katastrophalen Flammenmeeren und brennenden Wäldern auf allen Kontinenten jeden Gedanken an die „grünen Blätter“ des weihnachtlichen Tannenbaumes absurd erscheinen lassen. Oder fühlt sich, unter solchen Umständen, jemand angeregt, aus vollem Mund zu schmettern „Es ist für uns eine Zeit angekommen, die bringt uns eine große Freud. Übers schneebedeckte Feld, wandern wir durch die weite, weiße Welt“?

Der in diesem Jahr oft gebrauchte Begriff „Zeitenwende“ deckt gewiss keineswegs nur den politischen Bereich ab. Offensichtlich hat nicht zuletzt die Natur – unser aller, und vor allem einziger, Lebensraum – begonnen, sich gegen die rücksichtslosen Eingriffe der Menschen zu wehren. Das Abschmelzen der Alpengletscher und des Polar-Eises, die bedrohliche Häufung von Überschwemmungen und Sturmkatastrophen zu praktisch allen Jahreszeiten, das Ausbleiben des früher üblichen Winterschnees und die inzwischen zahlreichen sommerlichen Dürreperioden sogar im normalerweise wasserreichen Europa – natürlich müsste das jedermann als Fanal deuten. Als untrügliches Zeichen, dass es nicht erst fünf vor zwölf ist, um in vielfacher Weise das Steuer herumzureißen zugunsten des Planeten und der Menschheit. Also unserer selbst willen.

Das sagt zwar die Vernunft, der so genannte gesunde Menschenverstand. Die harten Fakten aber heißen Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten, heißen Aufrufe zu Hass und blutigen Anschlägen in den (un)sozialen Netzen. Und trotzdem – es gibt, zum Glück, auch die andere Seite: Menschen, die Tag und Nacht bereit sind, für andere einzustehen. Die Kranken helfen und Verunglückte retten, die Flüchtlinge aufnehmen und Hungernde speisen. Und die an ungezählten anderen Stellen als Samariter und Nothelfer tätig sind. Die nur selten für ihre mitmenschliche Tapferkeit ausgezeichnet werden. Aber vielleicht klänge es umso überzeugender, wenn gerade aus deren Kreis heraus in diesen Tagen das Lied ertönte „O, du fröhliche…“

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

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