Das Fräulein am Meere und deutsche Wirklichkeit
Von Günter Müchler
„Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.
Mein Fräulein! sein Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.“

Auf den ersten Blick scheint das Kurzgedicht Heinrich Heines, entstanden 1832, recht wenig mit unseren Zeitläuften zu tun zu haben. Es charmiert mit seiner feinen Ironie und lässt uns schmunzeln. Doch ist die Ironie, wie stets bei Heine, nur das Mittel zum Zweck. In diesem Fall soll sie, und zwar durch den simplen Aufruf des Altbekannten, Fehleinschätzungen erden, die auf einem Überschuss des Emotionalen beruhen. Die Sonne geht auf, sie geht unter. Für Panik gibt es ebenso wenig einen Grund wie für Euphorie.
Gegenwärtig versammelt sich der emotionale Überschuss der Deutschen im breiten Cantus des Niedergangs. Der Empfang ist auf moll gestellt. Man sieht schwarz, weil alle schwarz sehen und weil man dazugehören will. Schwarzsehen ist momentan der Vereinigungspunkt einer Gesellschaft, die sonst nicht mehr viel Gemeinsames zu bieten hat.
Dieser pathologische Befund redet die vielen Scheußlichkeiten, denen wir begegnen, nicht klein. Da ist der anhaltende Vernichtungskrieg, den Russland, gegen die Ukraine führt. Da ist der Schrecken in Nahost, ist der Sturz Assads in Syrien, der womöglich nur einen Wechsel der Kulisse bedeutet. Der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg hat ein mieses Jahr beendet. Der Eindruck, in einer multiplen Krise zu leben, kommt nicht von ungefähr.
Neu ist, dass die Krisen nicht irgendwo im Phantasialand der Erdkugel spielen. Im „Faust“ ließ Goethe einen Bürger sagen: „Nichts Bessres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen/Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, /Wenn hinten, weit, in der Türkei,/Die Völker aufeinander schlagen……“ Die Krisen, derer wir Zeugen sind, liegen nicht „weit hinten“, sondern nahe bei. Sie machen den Pelz nass. Den Preis der Globalisierung muss man das wohl nennen. Andererseits: Auch früher haben wir schlimme Zeiten erlebt. Dank der gnädigen Eigenschaft unseres Gedächtnisses, das Unerfreuliche so weit möglich herauszufiltern, haben wir das nur vergessen. Bei Licht betrachtet war der Saldo des Guten und des weniger Guten wohl immer ausgeglichen.
Überhaupt ist Wehklagen unproduktiv. Gefährlich wird es, wenn es uns die Augen dafür verschließt, dass ein Gutteil des Niedergangs-Hypes von der Realität keinesfalls gedeckt ist, vielmehr erzeugt und geschürt wird von Kräften, die alles sind, nur keine Demokraten. Von jeher war es extremen Parteien wesenhaft, auf Baisse zu setzen. Gut ist, wenn es schlecht ist – nach diesem Bewertungsmuster operiert die Propaganda der von einem Ehepaar aus dem Saarland gesteuerten Kaderpartei BSW und die der AfD.
Wenn AfD und BSW an der Regierungspolitik kein gutes Haar lassen, ist das kein normales Oppositionsverhalten. Wenn die Populisten „Lügenpresse“ rufen, zielen sie nicht auf mediale Fehlleistungen, die vorkommen. Kampfbegriffe wie „Altparteien“ offenbaren, wo es wirklich langgeht. Das „System“ soll ausgehebelt werden. Tatsachen, die das Feindbild stören könnten, werden verdreht. Der Magdeburg-Attentäter rief nicht Allahu akbar, als er mit seinem Wagen eine blutige Schneise durch den Weihnachtsmarkt zog. Folgt man seinen Selbstzeugnissen, die auch der AfD zugänglich sind, dann verstand er sich in seinem wirren Kopf als Anti-Muslim und zeigte viele Profilmerkmale, die wir von der AfD kennen. Allein, die alternative Parteiführung hatte nichts Eiligeres zu tun, als sich von ihrem Bruder im Geiste zu distanzieren und ihn auf sein Ausländersein zu reduzieren, das ihn unabwaschbar wie die Erbsünde an das Lager des Bösen kettet.
Mit ihrer Demagogie und ihrem fortgesetzten Schlechtreden Deutschlands hat es die AfD weit gebracht. Von Weimarer Verhältnissen sind wir glücklicherweise noch reichlich entfernt, jedoch hat die Republik von ihrer Stabilität, für die sie jahrzehntelang gelobt wurde, ein Gutteil eingebüßt. Das dokumentieren Regierungsbildungen, die, wie zuletzt in Brandenburg, Thüringen und Sachsen, nur dadurch zustande kamen, dass CDU und SPD bereit waren, große Kröten zu schlucken. Das Eliten-bashing der Extremisten zeigt Wirkung; es kommt allmählich in der politischen Mitte an.
Mitverantwortlich dafür ist eine Art der Medienberichterstattung, die es als artfremd darstellt, dass Politiker aus Überzeugung handeln könnten und nicht nur aus taktischem Kalkül. Dabei lässt sich den meisten Abgeordneten nicht absprechen, dass sie das Wohl des Landes im Auge haben, dass sie für vergleichsweise überschaubaren Lohn mehr arbeiten als Normalbürger, während sie, was Tugend und Talent angeht, dem Durchschnitt entsprechen dürften. Die AfD wird auch in dieser Hinsicht ihrem Anspruch, anders zu sein, gerecht. So viele zweifelhafte Biographien wie sie weist keine andere Partei auf, was ihre Anhänger, die wie Lemminge dahintrotten, allerdings kaum zu beeindrucken scheint.
An der Misere sind die Parteien des demokratischen Zentrums nicht vollkommen schuldlos. Jede Wirkung hat ihre Ursache. So kann niemand bestreiten, dass die Flüchtlingspolitik der Großen Koalition unter Frau Merkel den Aufwuchs der AfD begünstigt hat. Auch der ungeheure Nachholbedarf in fast allen Bereichen der Infrastruktur fiel nicht vom Himmel, vielmehr weist er ein Fehlermuster auf, das die letzten zwanzig Jahre durchzog: Mangelhafte Umsicht und Vorsorge. Ungeachtet der gebetsmühlenartigen Verwendung des Wortes „Nachhaltigkeit“ war Nachhaltigkeit genau das, was der Politik in diesem Zeitraum abging. Die Bundeswehr ließ man ebenso sehr verkommen wie Bahn und Brücken, Sicherheit der Energieversorgung dito. Bevorzugt wurden politische Einmalspritzen, wie beispielsweise in der Corona-Episode. Als man erkannte, dass die Entlohnung von Pflegekräften bestenfalls mittelprächtig war, jazzte man sie in einer Weise hoch, dass niemand sich heute wundern darf, wenn Pflege- und Krankenversicherung die Notrufnummer wählen.
Missachtet wurde der altrömische Grundsatz „Bedenke das Ende“ in mehr als einer Hinsicht. Individualisierung ist ein gesellschaftlicher Grundzug der Moderne. Dagegen ist so lange nichts einzuwenden, so lange die Balance mit dem Gemeinwohl beachtet wird. Das ist schon eine Weile nicht mehr der Fall. Hauptsächlich von den Grünen gefördert, drängen sich kleine und kleinste Minderheiten mit dem Passepartout der Gleichheitsforderung in den Mittelpunkt. Bei der Beförderung der Gendersprache wird in Behörden und an Universitäten kalt lächelnd gegen geltendes Recht verstoßen. Für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung haben die hochmütig-unduldsamen Aktivisten nur Hohn und Spott übrig. Selbstverwirklichung erobert auch die Arbeitswelt. Wer Erwerbstätigkeit für lästig hält, kann auf gesellschaftliches Schulterklopfen hoffen. Die Folge: In Deutschland wird weniger gearbeitet als in den meisten Nachbarstaaten, TZ (für Teilzeit) ist à la mode, Krankschreibung auch. Aufs Jahr bezogen brachten es deutsche Arbeitnehmer zuletzt auf 17 Krankentage, ein Höchststand.
Was bedeutet das für die Zukunft? Zunächst: kein Trend ist unumkehrbar. Die Umkehr setzt freilich einen starken Willen, stabile Mehrheiten und die Bereitschaft voraus, geduldig gegen den Strich zu bürsten. FDP-Chef Christian Lindner schoss ein Selbsttor, als er Trump und Milei zu Vorbildern erkor. Richtig ist allerdings, dass die Wachablösung, die aller Voraussicht nach am 23. Februar stattfindet, mehr sein muss als ein Personentausch. Dicke Bretter müssen gebohrt, haushalterische Gewohnheiten wie die, dass der Etat für Soziales als eine Art „Demokratie-Etat“ für unantastbar erklärt wird, was gerade die SPD tut, müssen aufgegeben werden.
Damit das Fräulein am Meere sich irgendwann wieder am Sonnenaufgang wärmen kann.
Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.
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