Rezension von Dr. Aide Rehbaum
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Jörg Baberowski  –  Die letzte Fahrt des Zaren 

Jörg Baberowski 

Diverse Fragen drängen sich dem Leser nach der Lektüre auf: Was war denn da schief gelaufen in der letzten Romanow-Generation? Alle Männer ohne Führungsqualitäten, desinteressiert und ignorant gegenüber allem, was nicht mit ihrem Privatleben zu tun hatte, oder krank wie der Thronfolger. Hatten Nikolaus II. und sein Bruder die falschen Erzieher? Keine Vorbereitung aufs Amt? Ohne Durchblick und Weitsicht. Baberowski weiß es hervorragend darzustellen, wie sich 1917 von Tag zu Tag das Chaos – ausgehend von einer arrogant als harmlos eingeschätzten Nahrungsmittelkrise – steigerte.

Einzelne Protagonisten trieben die Revolution voran, betrogen sich gegenseitig und versorgten einander mit Falschinformationen oder Teilwahrheiten. Dem Zaren wurden schlechte Nachrichten von Höflingen und Politikern vorenthalten. Ergebnis eines Systems, das sich selbst von Gott gegeben glaubt. All das geschah in der Hauptstadt, während gleichzeitig im selben Land ein Weltkrieg tobte, bei dem Hunderttausende zugrunde gingen. Begünstigt wurde die Revolution durch die miserable Infrastruktur und fehlende Kommunikationsmöglichkeiten. Schon damals regierten Angst und Gewalt die Verschiebemasse Mensch mit Hilfe der Geheimdienste und der Straflager, woran sich bis heute kaum etwas geändert hat. Wie viele aus welchem Anlass auch immer draufgehen, hat schon beim Bau der Stadt Sankt Petersburg niemanden gekümmert.

Überrascht, wie der rollende Stein Fahrt aufnahm, konnte die Opposition mit der Macht nichts anfangen, als sie die Möglichkeit gehabt hätte. Die Revolutionäre hatten keinen führenden Kopf, der bereit war nach der Macht greifen. Sie waren es gewohnt, das Vorhandene zu kritisieren, hatten aber keine Fantasie, sich auch nur eine Regierung ohne Monarch vorzustellen. Dabei hätten sie doch längst auf so eine unfähige Galionsfigur verzichten können. Vorgewarnt waren sie seit 1905. Zu viele der alten Garde glaubten, dass allein das Vorhandensein so eines adligen Pappkameraden den Bürgerkrieg verhindern würde. Erst Lenin riss das Ruder an sich, unterstützt vom Ausland, und trieb den Terror auf die Spitze.

Der Autor hat Tagebücher der Zeitzeugen ausgewertet, z.B. der ausländischen Diplomaten, die mit eigenen Augen das Schauspiel in den Straßen der Hauptstadt verfolgten. Briefe und Dokumente stellt er gegenüber. Im Chaos entlud sich all der aufgestaute Hass der vorher Unterdrückten und Drangsalierten. Der Text nimmt den Leser mit an den Abgrund in nicht zu überbietender Eindringlichkeit. Was aus den einzelnen Politikern, Militärs, Romanows oder anderen Akteuren wurde, flicht Baberowski schließlich ein. Der Historiker endet mit der Hinrichtung der Familie ohne den folkloristischen Zusatz, dass die Leichen der Familie Romanow 1998 bzw. 2007 ausgegraben wurden. Im Jahr 2000 wurde der Zar als Märtyrer heiliggesprochen, als sei es eine Leistung, für den Glauben an die Rechtmäßigkeit der eigenen Privilegien zu sterben.

Jörg Baberowski ist Professor für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin und Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zur russischen und sowjetischen Geschichte. 2012 erhielt er für sein Werk „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“ den Preis der Leipziger Buchmesse.

Verlag C.H.Beck GmbH & Co. KG

978-3-406-83048-8
Erschienen am 17. März 2025
2. Auflage, 2025
380 S., mit 37 Abbildungen und 2 Karten
Hardcover
28,00 €

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