Von Gisbert Kuhn

Spätestens seit Sonntag, dem 27. Februar 2022, weiß die deutsche Gesellschaft, dass auch ihr Land in einer neuen Wirklichkeit angekommen ist. Die Sondersitzung des Bundestages, die Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz, die Reden der Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und des FDP-Chefs Christian Lindner, nicht zuletzt aber auch die (weitestgehend) zustimmende Replik des neuen CDU-Vorsitzenden und Oppositionsführers Friedrich Merz – es war ein Abschied von jahrzehntelang gehegten und seit der deutschen Einheit sowie dem Ende des Ost/West-Konflikts liebevoll gepflegten Träumen und Illusionen.

Olaf Scholz in der Regierungserklaerung am 24.02.2022

 Ein Sonderbetrag von 100 Milliarden Euro zur Wiederbelebung der inzwischen fast dreißig Jahre lang scheintot gesparten Bundeswehr! Dies dazu auch noch verfassungsmäßig abgesichert! In Zukunft nicht nur Er-, sondern sogar Übererfüllung der uralten (aber immer trickreich umschifften) NATO-Forderung, zwei Prozent des Jahresbudgets für Verteidigung bereitzustellen! Aufgabe des geradezu „heiligen“ Prinzips deutscher Politik, keine Waffen in Spannungs- und schon gar nicht in Kriegsgebiete zu liefern! Wegen „der deutschen Vergangenheit“. Obwohl: Im Verhältnis zu Israel galt diese Export-Zurückhaltung nie. Auch „wegen der deutschen Vergangenheit“. Jetzt wird die Ukraine also Panzer- und Flugabwehrsysteme aus deutscher Produktion erhalten.

Nun ist es ja wirklich nicht so, als sei die „Ampel“-Regierung mit fliegenden Fahnen und Hurra-Geschrei ins kriegerische Lager übergelaufen. Kanzler Scholz und seine Koalitionäre versuchten noch sozusagen bis in letzter Minute wenigstens ein paar ihrer traditionellen Grundsatzpositionen zu halten. Das galt besonders für den Waffenexport, aber auch für den von nahezu sämtlichen EU- und NATO-Staaten wie auch den USA geforderten Rausschmiss Russlands aus dem weltweiten Zahlungssystem SWIFT. Offensichtlich war am Schluss der Druck der Partner zu groß. Aber die radikale Änderung von bislang als unumstößlich geltenden Grundsätzen ist gewiss nicht allein diesem Druck zuzurechnen. Da müssen sich auch bei den Verantwortlichen Überzeugungen merklich verändert haben. Auch hier steht Scholz als erkennbares Beispiel.

Während Annalena Baerbock, die zunächst mit deutlichem Kopfschütteln begleitete neue Außenministerin, bereits recht früh deutliche Worte zu Putin, dessen aggressivem Auftreten und im auch Zusammenhang mit der umstrittenen neuen Gasleitung durch die Ostsee fand, bewegte sich Scholz zunächst unsicher, tastend, ja widersprüchlich auf dem gefährlich glatten weltpolitischen Parkett – sozusagen die personalisierte Harmlosigkeit. Und nun plötzlich, welch ein Unterschied(!), dieser Auftritt im Parlament. Mit einer bis dahin noch nie bei ihm erlebten Tonalität. Hier trat jemand auf, der politische Führerschaft nicht nur beanspruchte, sondern eine solche auch ausstrahlte. Man traute seinen Augen und Ohren kaum – ausgerechnet ein Sozialdemokrat ließ die Welt wissen: Ihr fordert von Deutschland seit langem, es solle seiner internationalen Verantwortung endlich gerecht werden. Wenn es sein muss, auch militärisch! Bitte sehr, hier stehe ich dafür. Mit meiner bunten Koalition!

Keine Frage, mit seiner Regierungserklärung zu Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine hat Olaf Scholz einen atemberaubenden Salto vollzogen. Um diesen zu begreifen, bedarf es eines Blicks in die Geschichte. Besonders jene der Sozialdemokraten und der Grünen.  Die SPD ist die älteste Partei Deutschlands. Sie gründet auf dem erbärmlichen Schicksal des Proletariats im 19. Jahrhundert und träumte schon sehr früh von grenzübergreifender Verbrüderung: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets zum Hungern man noch zwingt… Völker, hört die Signale… Die Internationale erkämpft das Menschenrecht“.  Trotzdem stimmte die Partei August Bebels 1914 für die Kriegsanleihen. Die Genossen wollten nicht als „vaterlandslose Gesellen“ gelten. 1917 spaltete sich die marxistische „unabhängige“ (USPD) ab, der später zeitweilig auch der junge Willy Brandt beitrat. Dieser SPD-„Splitter“, aber auch erhebliche Teile der „Mutterpartei“, hatten Hochachtung vor der Revolution in Russland.

Willy Brandt

Diese, in der Sehnsucht nach einem funktionierenden, gerechten Sozialismus gründenden, gemeinsamen Wurzeln sind in der SPD nie wirklich abgestorben, Trotz aller Verfolgungen – nicht nur durch die Nazis, sondern auch in der späteren DDR. Auch der Glaube an (oder zumindest doch die Hoffnung auf) ein „Frieden schaffen ohne Waffen!“ war immer irgendwo präsent. Es sei nur erinnert, dass einer der prominentesten Redner bei den machtvollen Demonstrationen zu Beginn der 80-er Jahre gegen die so genannte NATO-Nachrüstung auf dem Bonner Hofgarten Willy Brandt war. Der ehemalige Bundeskanzler, SPD-Vorsitzende und Friedensnobelpreis-Träger an der Spitze einer Protestbewegung gegen eine der wichtigsten außen- und sicherheitspolitischen Forderungen seines Nachfolgers Helmut Schmidt… Tatsächlich war die Ablehnung dieser angeblich „kriegstreiberischen“ Politik durch die SPD eine der Kern-Ursachen für das Scheitern Schmidts.

Damals, wiederum, schlug die Geburtsstunde der Grünen. Es waren vor allem junge Menschen. Ihr Idol war Willy Brandt. Die Faszination der Blumenkinder in Kalifornien mit ihren Liedern und die Sehnsucht nach Freiheit, die Freude an der und die Sorge um die Natur – hier erwuchs aus altem Humus etwas völlig Neues. Man erlebte Krieg zwar nicht daheim, konnte seine Gräuel aber anhand der Bilder aus Vietnam verfolgen. Der Friede also galt das das oberste Maß aller Dinge. Wehrdienstverweigerung wurde nicht selten schon in den Schulen gelehrt. Inzwischen sind die Grünen als Nachfolger der damaligen buntgemischten Truppe längst im politischen und gesellschaftlichen Establishment angekommen. Und damit halt auch in einer Wirklichkeit, die sich leider nicht an den eigenen hohen moralischen und auf Frieden zielenden Werten ausrichtet, sondern an den Weltmacht-Vorstellungen eines Wladimir Putin oder den etwa in China geltenden Menschenrechts-Maximen.

Das einschneidendste Vorkommnis zumindest in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war, zweifellos, das Ende des nicht zuletzt von der Furcht vor Atomwaffen geprägten Ost/West-Konflikts mit dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts, der sozialistischen Wirtschaftsorganisation COMECON, der Kollaps des Sowjetreiches und schließlich sogar der deutschen Wiedervereinigung. Das hat, logisch, tiefe Spuren hinterlassen auch in der deutschen Gesellschaft. Denn schließlich: Muss sich nicht mit derart dramatischen Ereignissen praktisch automatisch der ewige Friede ankündigen? Müssen denn die Völker nicht die richtigen Lehren aus dem Beben der Geschichte gezogen haben? Lehren mit den Stichwörtern Frieden und Abrüstung!

Battaillon der Deutschen Bundeswehr

Ganz früh schon in den 90-er Jahren machte in Deutschland der Begriff „Friedensdividende“ die Runde. Ein wunderbares Wort. Sagt es doch genau das aus, was die Menschen sich am meisten erhofften. Nicht nur ein Ende der Angst vor Krieg, Gewalt und Zerstörung. Sondern es weist zugleich (gleichsam wie auf ein Morgenrot) auf den positiven Gegenpart der sinnlosen Verschwendung wertvoller Mittel in Panzer und Armeen hin. Dividende – darin steckt Sozialpolitik, Bildung, Gesundheit, Klima, Entwicklungshilfe. Rund 500 000 Mann umfasste damals die Bundeswehr. Es gab Abmachungen mit dem sowjetischen Hoffnungsträger Michail Gorbatschow, die Truppe deutlich zu verkleinern. Dadurch entstanden eklatante Ungerechtigkeiten bei der Einberufung junger Männer. Also weg mit der Wehrpflicht. Dies ausgerechnet unter CDU-Führung umgesetzt! Dass dadurch freilich auch der Zivildienst wegfiel und sich große Lücken im Pflegebereich oder bei der Feuerwehr auftaten, ging weitgehend unter.

Dasselbe galt und gilt noch immer für ein nicht unerhebliches gesellschaftliches Problem: Infolge der Wehrpflicht musste sich die Truppe früher zwangsläufig mit allen Vorgängen und Entwicklungen beschäftigen, die sich auch außerhalb der Kasernen vollzogen. Das bewahrte sie quasi automatisch vor der Gefahr, jemals zu einer Art Staat im Staate zu werden. Alles in Allem – die vergangenen drei Jahrzehnte waren für die Bundeswehr ein einziger Überlebenskampf. Es musste an allem gespart werden, nicht zuletzt an Material und Ausrüstung. Gleichzeitig, indes, wurden die Aufgaben der deutschen Streitkräfte immer mehr ausgeweitet: Zunächst auf dem Balkan mit anschließender friedenssichernder Mission im Kosovo, dann der Marschbefehl nach Afghanistan und zuletzt auch noch das Abenteuer in Mali. Aber die Soldaten blieben die Stiefkinder der Nation – man brauchte sie (und sei es auch nur als letzte Retter bei Überschwemmungs-Katastrophen), aber das war es dann auch.

Und jetzt? Putins Krieg hat plötzlich alles auf den Kopf gestellt. Selbst junge Menschen kommt mit einem Mal das Wort Krieg über die Lippen. Und während es vordem nicht selten sogar schwierig war, in Medien Kommentare zu platzieren, die sich kritisch mit dem Begriff „Friedensdividende“ beschäftigten, überschlugen sich momentan Redaktionen geradezu beim Lob für den Kanzler, die Regierung und die Opposition wegen der „neuen Politik“. Freilich muss man kein Hellseher sein, um baldige Ernüchterung vorauszusagen.

Krieg in der Ukraine

Dass der Überfall auf ein friedliches Land bestraft werden soll, ist (und bleibt) bestimmt weitgehend Konsens. Aber wie lange wird diese Haltung im Einzelnen halten? Wenn, zum Beispiel, die Preise für Energie in den Himmel schießen? Wenn bestimmte Konsumartikel und Industrieprodukte knapp werden? Wenn die versprochenen Maßnahmen zum Klimaschutz zumindest zeitlich nicht mehr zu halten sind? Und wie sieht es an der so genannten Basis bei SPD und Grünen aus? Kann es nicht sein, dass sich vor allem bei den einstigen Sonnenblumenfreunden ein Spalt auftut zwischen den „Realisten“ in den Parlamenten und den „Aktivisten“ im Lande? Wie lang wird bei den SPD-Genossen um den jungen, neuen Generalsekretär Kevin Kühnert der Putin- und Ukraine-Schock anhalten?

Eine kleine Erinnerung-Episode zum Schluss: Im Januar 2009 erhielt Wladimir Putin in der Dresdener Semperoper aus der Hand des damaligen sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich (CDU) den „Sächsischen Dankorden“ verliehen. Die wertvolle Auszeichnung aus 14-karätigem Gelb- und Weißgold für den einstigen KGB-Offizier (1985 – 1990 in Dresden) trägt das Bild des heiligen Georg, dem Symbol des Sieges des Guten über das Böse…

 

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.

 

 

 

 

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