“…und wie man Freunde verliert”
Von Gisbert Kuhn
Eigentlich wäre jede Regierung gut beraten, eine Politik zu betreiben, die sich an dem Handbuch orientiert “Wie man Freunde gewinnt”. Was allerdings Polens regierende nationalkonservative Partei PiS (in deutscher Übersetzung “Recht und Gerechtigkeit”) schon seit geraumer Zeit praktiziert, entspricht eher dem Inhalt der zweiten Handlungsanweisung: “…und wie man sie wieder los wird”. Im Fokus der von Warschau ausgehenden “Nettigkeiten” steht (keine Überraschung mehr) wieder einmal Deutschland. Gespickt mit der Forderung nach Reparationen für die im Krieg erlittenen Leiden und Zerstörungen. Auf dem Wunschzettel steht die Summe von 840 bis 850 Milliarden Euro!
Das ist mehr als dreist. Ja, es ist wahr: Polen war das erste Land, das 1939 von der Wehrmacht überfallen wurde. Nirgendwo anders hat in der Folge der von den Nazis verordnete Terror derart erbarmungslos gewütet wie dort. Konzentrationslager wie Auschwitz und Sobibor mit kalt ausgeklügelten und geradezu industriell betriebenen Tötungsmaschinerien sind noch heute in Polen zu besichtigen und lassen die Besucher fassungslos erkennen, was Menschen ihren Mitmenschen anzutun in der Lage sind. Mehr als 6 Millionen Personen wurden allein dort umgebracht. Auf Befehl eines gottlosen Regimes, das sich anmaßte, über “lebenswert” und “-unwert” zu entscheiden. Kein vernünftiger Mensch hierzulande, der sich nicht der historischen Schuld bewusst sein sollte. Einer Schuld, die unauslöschlich mit dem Namen Deutschland verbunden ist. Und die deshalb auch eine bleibende Verpflichtung für jede Generation darstellt, den Nachgeborenen ein “Nie wieder!” einzuimpfen.
Ja, die Polen haben das Recht, sehr genau darüber zu wachen, dass ihre Nachbarn im Westen nie wieder auch nur andeutungsweise nationalistisch übersteigerten Ideologien frönen. Aber bedeutet das nicht zugleich auch eine Verantwortung an sich selbst? Also aufzupassen, dass man selbst – Staat, Regierung und Gesellschaft – den Werten verpflichtet bleibt, die man (nach Überwindung der kommunistischen Diktatur) doch schließlich ersehnt und denen man sich mit dem EU-Beitritt auch verschrieben hat. Natürlich ist Dank im politischen Geschehen keine einklagbare Kategorie. Aber es ist trotzdem nicht nur für das friedvolle Zusammenleben der Menschen als Individuen, Nachbarn oder Gruppen von Vorteil, wenn Solidaritätsaktionen und Hilfeleistungen von außen wenigstens zur Kenntnis genommen würden. Das wäre, ohne Frage, auch förderlich für das internationale Geschäft, für die Interessenbalance zwischen Staaten und die Freundschaft unter Völkern.
Spätestens seit der von Willy Brandt Ende der 60-er Jahre eingeleiteten Ostpolitik wurde von (zunächst west-) deutscher Seite dem Ziel eine besondere Bedeutung beigemessen, zu einem Ausgleich mit Polen zu kommen. Und zwar möglichst nach dem Vorbild der Aussöhnung zwischen Deutschland und dem angeblichen Erbfeind Frankreich. Obwohl Polen beim so genannten Londoner Schuldenabkommen mit den Weltkriegs-II-Siegern auf spezielle deutsche Reparations-Zahlungen verzichtet hatte, spielten in späteren Jahren doch immer Fragen von Wiedergutmachung eine gewichtige Rolle. Tatsächlich überwies die damalige “Bonner Republik” bis 1991 rund 1 Milliarde Euro zur Begleichung von Rentenansprüchen einstiger Zwangsarbeiter nach Warschau. Darüber hinaus erfolgte noch die Zahlung von gut einer halben Milliarde Euro für einstige KZ-Häftlinge und Opfer von medizinischen Versuchen an Menschen. Dazu, nicht zu vergessen, bekam das “neue” Polen nach der deutschen Wiedervereinigung große Mengen an teuren Waffen und Geräten – z. B. hochmoderne Panzer und neueste Mig-29-Kampfflugzeuge – aus den Beständen der früheren Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR. Geschenkt!
Wohlgemerkt: Diese Aufzählung dient ganz gewiss nicht dazu, etwa die von den Nazis, der SS und der Wehrmacht begangenen Verbrechen an und Zerstörungen in Polen in irgendeiner Weise mit finanziellen oder wirtschaftlichen Leistungen auf- oder gegenzurechnen. Abgesehen davon ist ein ökonomisch, politisch und militärisch starkes Polen als verlässliches Mitglied von NATO und EU absolut auch im eigenen, deutschen Interesse. Aber auch das gehört zur historischen Wahrheit: Als sich Polen, nach der Befreiung von der kommunistischen Diktatur, zu Beginn der 90-er Jahre um die Aufnahme in die Europäische Union bewarb, war es keineswegs so, als hätten sämtliche damaligen Mitgliedländer sehnsüchtig auf diesen neuen Partner gewartet.
Für die Südländer (Spanien, Griechenland, Portugal, Italien und in gewissem Maße auch Frankreich) spielte nach dem Kollaps der Sowjetunion die seinerzeitige politische Situation im Nordosten Europas bei weitem nicht mehr die beherrschende Rolle. Sie beobachteten vielmehr mit wachsender Unruhe das sich zuspitzende Geschehen auf der anderen Seite des Mittelmeers in Nordafrika. Mit Recht – wie sich bald zeigen sollte in Libyen, Tunesien, Algerien und anderswo.
Nein, Polen hatte in jener spannenden Zeit mit Deutschland und Österreich genau zwei (!) Partner und Freunde, die selbst dann noch fest hinter der Regierung in Warschau standen, als die für Aufnahmekandidaten alle halben Jahre in Brüssel angelegten “Fortschrittsberichte” unübersehbare Negativergebnisse auswiesen. Und zwar nicht zuletzt bei den geforderten Reformen in Sachen Rechtstaatlichkeit, Demokratie, Anti-Korruption, Justiz usw. Auch nach der Erweiterung der Gemeinschaft 2004 (die ja bis heute noch nicht bewältigt ist) wurde Polen eine privilegierte Stellung eingeräumt. Erneut nicht zuletzt auf nachhaltiges Drängen Deutschlands. Noch einmal deshalb – Dank ist keine politische Kategorie. Aber dass wenigstens bestimmte Tatsachen anerkannt werden, sollte auch im politischen Betrieb möglich sein.
Umso ärgerlicher ist es, fast 70 Jahre nach Ende des Krieges und innerhalb zweier für alle Beteiligten überlebenswichtigen Allianzen (EU und NATO), erleben zu müssen, dass – wie zuvor schon in der Tschechischen Republik – auch in Polen den regierenden rechtskonservativen Populisten mit Strippenzieher Jaroslaw Kaczyniski im Hintergrund wirklich nichts Dümmeres einfällt, als bei nahezu jeder Gelegenheit antideutsche Stimmungen wecken zu wollen. Das jüngste Bubenstück war zum Beispiel (die vom Warschauer Kultusministerium sogar noch geförderte) Plakataktion anlässlich der Besuche des neuen Bundeskanzlers, Olaf Scholz, und der ebenfalls neuen Außenministerin, Annalena Baerbock, in Warschau mit Bildern von Angela Merkel und Frank Walter Steinmeier im Verein mit Adolf Hitler und Josef Goebbels. Natürlich, wieder versehen mit der Forderung, man müsse sich endlich seiner Verantwortung an den deutschen Untaten stellen. Und zahlen!
Was soll mit solchem Unsinn eigentlich erreicht werden? Ja, ja und nochmal ja – in Deutschland (aber keineswegs nur hier) muss der Schwur “Nie wieder!” unverbrüchlich gelten. Aber glauben die nationalistischen Eiferer in Warschau wirklich, den Nach- und Nachnachkommen die Verpflichtung aufbürden zu können, immer noch für die Untaten der Urgroßväter zu zahlen? Olaf Scholz, Deutschlands neuer Kanzler, hat vor wenigen Tagen bei seinem Antrittsbesuch in Warschau nicht nur geschickt, sondern auch inhaltlich richtig auf die von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki erneut vorgetragene Reparations-Zumutung reagiert. Mit dem Hinweis nämlich auf die hohen deutschen Zahlungen in die Gemeinschaftskasse der EU, aus der wiederum Polen mit Abstand der größte Netto-Empfänger ist.
Wenn die übrigen 25 Mitglieder der Gemeinschaft das weiterhin so akzeptieren, ist dagegen nicht viel zu sagen. Wohl aber gegen eine Politik, die nahezu allein darauf ausgerichtet scheint, dem nationalen Heil zu dienen. Ja, die Europäische Union ist auch eine Solidargemeinschaft, sie hat sich jedoch zugleich bestimmten Werten verpflichtet. Es mag ja tatsächlich so sein, dass vieles von dem, was bei der Gründung der Gemeinschaft im Zentrum stand, von den Menschen heute als selbstverständlich und daher nicht mehr so wichtig betrachtet wird: Die EU als Garant des Friedens in einem zuvor von Kriegen dominierten Europa, als Grundlage des ökonomischen Wohlstands, als – im Sinne des Wortes – endlich grenzenloses politisches Gebilde, als wirtschafts- und sicherheitspolitisches Gegengewicht zu den alten und neuen Machtblöcken auf dem Globus.
Vor diesem Hintergrund müsste eigentlich gerade ein Land wie Polen zu den eifrigsten Verfechtern einer immer engeren grenzüberschreitenden Verflechtung der alten Nationalstaaten sein. Die Geschichte unseres Nachbarn im Osten, die wiederholten Teilungen, die Fremdherrschaften – das alles und noch mehr ist doch praktisch ein Musterbeispiel für die Notwendigkeit des Einigungsprozesses. Eine EU als bloße Wirtschaftsgemeinschaft wäre nicht viel mehr als ein Spielball auf der Weltbühne. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts herrschte im organisierten Europa tatsächlich eine richtige Aufbruchstimmung. Zu einer solchen zurückzukehren wäre, mit Blick auf die Gestaltung der Zukunft, ganz gewiss viel nötiger als mit dem ständigen Ruf nach Reparationen Ärger, Unmut und neue Zwietracht zu stiften.
Ist es denn wirklich so schwer zu verstehen, was für ein einmalig großes Werk es ist, friedlich, ohne auch nur einen Schuss und allein durch ausgleichende Verhandlungen diesen alten Erdteil zu einen, auf dem sich die Menschen bislang über viele hundert Jahre die Köpfe einschlugen? Völlig sinnlos!
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