Politik: Tote leben länger
Es ist kein Wunder, dass Italiens rechte Regierung Silvio Berlusconi in den höchsten Tönen lobt. Sein Erbe wird das Land auf Jahre prägen.
Die Ansage lautet: „Wir befinden uns im Anflug auf den Silvio-Berlusconi-Flughafen in Mailand.“ Schon bald könnten Passagiere, die in die norditalienische Metropole wollen, an Bord diesen Satz hören. So wurde Berlusconi auf so gut wie allen TV-Sendern in den Tagen nach seinem Tod förmlich in den Rang der Heiligkeit gehoben. Das alles geschah unter Regie der Rechtsregierung Giorgia Melonis, die ihm Staatsbegräbnis und Staatstrauer im Doppelpack einräumte – eine Ehre, die zuvor keinem Regierungschef Italiens je widerfahren war. Und jetzt, so heißt es aus dem Verkehrsministerium, könnte eben auch einer der beiden Mailänder Flughäfen nach ihm benannt werden.
Ein Titan sei Berlusconi gewesen, ein Genie, ein Gigant, ein Kämpfer – in den italienischen Medien überschlugen sich die Nachrufe förmlich bei der Suche nach Superlativen. Doch nie wurde ernsthaft die Frage gestellt, die am Ende zählt: Was bleibt von Berlusconis politischem Wirken, welche Spuren wird er, der fast 30 Jahre lang die italienische Politik entscheidend mitprägte, am Ende hinterlassen, außer womöglich die Benennung eines Flughafens nach ihm?
„Wenn er nicht in die Politik gegangen wäre, würden wir heute unter Brücken schlafen oder im Gefängnis sitzen.“ Dieser Satz, dem Berlusconi-Intimus und Spitzenmanager in dessen Medienkonzern Fedele Confalonieri zugeschrieben, beschreibt einigermaßen präzise, was den Medienmagnaten im Jahr 1994 in die Politik führte. Die alten Parteien, die Berlusconi den Aufstieg erst als Bau-, dann als Medienunternehmer ermöglicht hatten – die Sozialisten unter Bettino Craxi sowie Giulio Andreottis Christdemokraten –, waren 1992 unter den Korruptionsermittlungen der Mailänder Staatsanwaltschaft implodiert. Und Berlusconi, der von einem Tag auf den anderen ohne politische Protektion dastand, griff zu dem Geniestreich, sein eigener politischer Pate zu werden.
Keine Ideologie leitete ihn dabei, keine tiefen politischen Überzeugungen – außer der einen, dass er schauen musste, wo er mitsamt seinem Konzern bleiben würde. So stampfte er seine Partei Forza Italia aus dem Boden, welche Italien angeblich eine „liberale Revolution“ bescheren sollte, und gewann mit ihr die Wahlen von 1994 aus dem Stand. Bis 2011 sollte er insgesamt neun Jahre lang Italiens Regierungschef sein, so lange wie niemand sonst seit 1945.
Doch Italien erinnert sich an keine einzige Reform, keinen einschneidenden politischen Akt, der das Land verändert und es vorangebracht hätte. Zur Modernisierung des Landes, zu Digitalisierung, zur Förderung von Industrie 4.0, zur Erneuerung der Energiepolitik oder zur Reform der öffentlichen Verwaltung leistete er keinen Beitrag. Spötter witzelten schon vor Jahren, einzig das im Jahr 2002 eingeführte Rauchverbot in Restaurants und Bars könne Berlusconi sich gutschreiben.
Keine Ideologie leitete ihn dabei, keine tiefen politischen Überzeugungen.
Zugleich aber hat er die politische Kultur des Landes radikal verändert und vorneweg den Populismus als politisches Erfolgsmodell etabliert. Seine eigene Forza Italia war und blieb ein dezidiert populistisches Geschöpf, das vom Kult um den Anführer – der, auch wenn er Milliardär war, die „einfachen Leute“ gegen die „Eliten“ verteidigte – genauso lebte wie von der Schmähung und Delegitimierung der politischen Gegner („Kommunisten!“), der Justiz, wann immer sie ihm in die Quere kam („rote Roben!“), ja selbst des angeblich „links“ dominierten Verfassungsgerichts.
Zugleich hatte Berlusconi von Anfang an, seit 1994, zwei politische Kräfte hoffähig gemacht, die ebenfalls einen populistischen beziehungsweise radikal rechten Background haben: die damalige Lega Nord, die seinerzeit noch im Namen eines norditalienischen Separatismus gegen die Republik kämpfte, und die Faschisten des Movimento Sociale Italiano, die 1994 flugs den Wandel zum Postfaschismus vollzogen und sich als Alleanza Nazionale neugründeten.
Es sind akkurat die Kräfte, die auch heute noch die Rechtsallianz unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni bilden: die Postfaschisten der Fratelli d’Italia, die Lega unter Matteo Salvini, die sich mittlerweile radikal nationalistisch gewendet hat, und Berlusconis Forza Italia. Insofern darf Berlusconi sich post-mortem wenigstens dies zugute schreiben: Er hinterlässt Italien eine radikal rechte Regierung, für die er selbst schon 1994 und in den folgenden Jahrzehnten die Blaupause geliefert hatte: Nicht umsonst wurde Giorgia Meloni im Jahr 2008 erstmals Ministerin für Jugend in einem Kabinett Berlusconi.
In einem entscheidenden Punkt jedoch hatte sich die Aufstellung der italienischen Rechten schon vor seinem Tod entscheidend geändert. Berlusconis Forza Italia, über Jahre hinweg die dominierende Kraft der Allianz, war abgestiegen zur drittstärksten Partei. Sie, die in früheren Urnengängen für 30 Prozent gut gewesen war, hatte in den Wahlen vom September 2022 nur noch acht Prozent geholt, während Melonis Fratelli d’Italia auf 26 Prozent kamen.
Schon dies zeigt, dass seine Partei ein Auslaufmodell war. Dies gilt erst recht nach Berlusconis Tod. Denn in den 30 Jahren ihrer Geschichte war Forza Italia nie etwas anderes als eine rein persönliche Partei, eine absolute Monarchie, die ohne Parteitage und Gremien auskam, weil König Silvio regierte. Entsprechend sicher gaben sich die meisten Kommentatoren, dass mit seinem Tod auch das Ende seiner Partei kommen werde, dass sie schnell von Diadochenkämpfen zerrissen werden würde, dass ihre Parlamentarierinnen und Parlamentarier bald ihr Heil in den Reihen Melonis oder Salvinis suchen würden. Und ein Ende droht der Partei auch aus einem zweiten Grund: Sie hat 100 Millionen Euro Schulden, gedeckt allein durch persönliche Bürgschaften Berlusconis.
Und ein Ende droht der Partei auch aus einem zweiten Grund: Sie hat 100 Millionen Euro Schulden.
Doch womöglich gilt in diesem Falle: Tote leben länger. Die Familie Berlusconi hat umgehend klargestellt, dass sie Forza Italia weiter am finanziellen Tropf halten wird. Und Giorgia Meloni gab ihrerseits die Garantie ab, sie werde keine Überläuferinnen und Überläufer von Forza Italia in die Reihen ihrer Partei aufnehmen. Schließlich braucht sie Forza Italia, auch wenn die Partei schon vor Berlusconis Tod elektoral auf dem absteigenden Ast war.
Dies nämlich war sein letzter politischer Geniestreich gewesen: Er hatte Forza Italia als „gemäßigte Kraft“ neu erfunden und das innerhalb der stramm rechten Koalition, als in der Europäischen Volkspartei verankerte Garantin eines proeuropäischen Kurses der von einer Postfaschistin angeführten Regierung, die dem Populismus von Fratelli d’Italia und Lega Grenzen setze. Wenigstens bis zur Europawahl im Mai 2024 setzt deshalb auch Meloni auf das Überleben der Forza Italia. Schließlich arbeitet sie darauf hin, ihre Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer im Europaparlament bündnisfähig mit der Europäischen Volkspartei zu machen und so endlich auch auf europäischer Bühne den Ruf des Schmuddelkindes loszuwerden.
Das Unmögliche soll jetzt Antonio Tajani vollbringen, Melonis Außenminister und bisher „Koordinator“ der Forza Italia unter dem Presidente Berlusconi. Tajani wird zum Interims-Präsidenten der Partei gewählt werden und soll dann, voraussichtlich erst nach den Europawahlen 2024, einen Parteitag ausrichten, auf dem eine komplette organisatorische Neuaufstellung erfolgen soll, diesmal geleitet vom Parteistatut – das 30 Jahre lang, dank des charismatischen Anführers, keine Rolle gespielt hatte.
Ob die Operation „Forza Italia muss weiterleben“ gelingt, bleibt allerdings offen. Italiens Wahlforscher behaupten, mindestens vier der acht Prozent, die die Partei zuletzt erreichte, seien Stimmen gewesen, die Berlusconi persönlich erobert habe.
Dr. Michael Braun studierte Politikwissenschaften und promovierte über die italienischen Gewerkschaften. Er ist Mitarbeiter der FES Rom und Korrespondent der TAZ in Italien.