Rezension: Im Luftreich der Träume
Von Harald Bergsdorf
Wladimir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine erschüttert weite Teile der Welt. Die Kriegführung seiner Armee in der Ukraine kennzeichnet, ähnlich wie seine früheren Vernichtungskriege in Tschtschenien, eine besondere Brutalität und Grausamkeit. So bombardiert die russische Armee im Auftrag Putins in der Ukraine auch zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser und Kindergärten. Russische Soldaten vergewaltigen Frauen, töten Journalisten und ermorden Mütter, Kinder und Greise, darunter Holocaust-Überlebende. Um von solchen Kriegsverbrechen abzulenken, präsentiert der lupenreine Nationalist und Imperialist Putin die Invasion, durch seine „Haltet-den-Dieb“-Rhetorik, als „antifaschistischen Kampf“ und als Reaktion auf einen angeblichen „Genozid“ an Russen durch die Ukraine, dessen Präsident aus einer jüdischen Familie stammt.
Als gelernter Leninist, Propagandist und Tschekist versteht es der Diktator eben, sowohl Halbwahrheiten und glatte Lügen zu verbreiten als auch Andersdenkende pauschal als „Faschisten“ zu diskreditieren. Hierbei unterstützt ihn der Moskauer Patriarch der russischen-orthodoxen Kirche, Kyrill I – ebenso wie Putin ein ehemaliger KGB-Offizier, frauenfeindlicher Vorkämpfer gegen angebliche Dekadenz, Verweichlichung und Libertinage aus dem Westen und Hassprediger bzw. Hetzer gegen Minderheiten, darunter Homosexuelle. Erst Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine zerstörte viele westliche Selbsttäuschungen. Jetzt hofft er offenbar, den aktuell, gerade wegen des russischen Angriffskrieges, weitgehend ge- und entschlossenen Westen erneut zu spalten, u.a. durch steigende Flüchtlingszahlen und sinkenden Wohlstand.
„Nüchterne Interessenpolitik betreiben“
Kurz vor Beginn des Krieges und damit vor der „Zeitenwende“ veröffentlichte Klaus von Dohnanyi sein aktuelles Buch. Der Autor, Jahrgang 1928, Absolvent des Benediktiner-Gymnasiums St. Ottilien, Jurist, einstiger Bundeswissenschaftsminister und später Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg (SPD),stammt mütter- und väterlicherseits aus einer Familie, die zum Widerstand gegen Hitler gehört. Mit seinem Anfang 2022 erschienenen Buch will er Orientierung liefern. Dabei fordert er in allgemein-abstrakter Art, Deutschland solle international eine nüchterne Interessenpolitik betreiben, u.a. gegenüber den USA und Russland. „Wünsche müssen wir von Interessen und Interessen von Möglichkeiten unterscheiden“. Dazu gehöre das Bemühen, auch die „Interessen anderer Nationen und ihrer Regierungen zu verstehen. Das gilt auch für Diktaturen und Diktatoren.“
Tatsächlich wäre es vollkommen unrealistisch, wollten rechtsstaatliche Demokratien international ausschließlich mit ihresgleichen kooperieren, d.h. mit einer Minderheit. Vielmehr bleibt bei der Suche nach Partnern oft lediglich die Wahl zwischen großen und kleinen „Schurken“. Bei aller Dialogbereitschaft scheint es erfahrungsgemäß wesentlich, die Zusammenarbeit mit solchen Regimen möglichst eng zu begrenzen und übermäßige Abhängigkeiten zu vermeiden. Vor allem eine Kombination aus „defense“, „deterrence“ und „dialogue“ bedeutet gemeinhin die beste Prävention („si vis pacem, para bellum“).
Gigantische Herausforderung
Konkret betont von Dohnanyi in seinem Buch mit guten Gründen die gigantische Herausforderung der Klima- und der Asylpolitik. Die EU-Außengrenzen konsequent zu schützen, gehöre zu einer realistischen Politik. Schwerpunktmäßig erörtert er die Rolle Russlands und der USA in der internationalen Politik. So unterstellt er den USA eine grundsätzlich „unversöhnliche Haltung gegenüber Russland“, kritisiert die „ständige Dämonisierung Putins“ und präsentiert nicht Russland, sondern die USA als imperialistische Macht, ohne auch nur ansatzweise Beispiele etwa für eine Invasion eines friedlichen Landes durch die freiheitliche Führungsmacht zu liefern. Vielmehr beklagen zum Beispiel osteuropäische Länder gerade heute, wegen Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine, keine zu hohe, sondern eher eine zu geringe Truppenpräsenz der USA auf ihrem Territorium.
Die militärische Zurückhaltung der USA in Osteuropa zielte indessen über Jahre darauf, Interessen Russlands zu berücksichtigen, das nach der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion aus der G8-Runde flog – also aus der Gruppe der acht wirtschaftlich stärksten Länder der Erde. Durch Putins Angriffskrieg streben nun freilich weitere Länder in die NATO. Kurz vor Invasion der Ukraine durch die russische Armee hatte von Dohnanyi militärische Stärke als belastbare Basis für wirksamen Dialog mit Autokraten und Diktatoren noch für nachrangig oder gar obsolet erklärt und rhetorisch gefragt, „warum beschwören die USA ständig die Angst vor gewaltsamen Aggressionen Russlands?“ Scharf bemängelt er eine angebliche „Politik der Konfrontation“ des Westens gegenüber Russland.
Ziel: Russland mit einbinden
Wie intensiv indessen die USA-geführte NATO nach dem Ende des Kalten Krieges bemüht war, mit Russland einen Dialog zu führen und russischen Interessen entgegenzukommen, übergeht von Dohnanyi konsequent. Zum Beispiel diente die Gründung des NATO-Russland-Rates – aufgrund der NATO-Russland-Grundakte von 1997 – dem zentralen Ziel, Russland einzubinden. Dass die NATO als friedlichstes Werte- und Militärbündnis der bekannten Weltgeschichte auf ihrem Gipfeltreffen 2008 in Bukarest eine Mitgliedschaft der Ukraine aus Rücksicht auf Russland ablehnte, ignoriert von Dohnanyi ebenfalls. Im Widerspruch zu seinen Darlegungen scheint auch der wirtschaftliche Austausch des Westens mit Russland, das wie ein Entwicklungsland seit Jahren fast ausschließlich Rohstoffe exportiert („Tankstelle mit Atomraketen“), aus heutiger Sicht eher zu intensiv als zu wenig intensiv.
Wandel durch Handel funktioniert eben nicht immer, wie das Beispiel Russlands ziemlich eindeutig zeigt. Zugleich übergeht das Buch die eklatanten Vertragsbrüche Russlands seit Ende des Kalten Krieges. So heißt es in der NATO-Russland-Grundakte von 1997, die Signatarstaaten, darunter Russland, verpflichteten sich, die „Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit aller Staaten sowie ihres naturgegebenen Rechtes, die Mittel zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit sowie die Unverletzlichkeit von Grenzen und des Selbstbestimmungsrechtes der Völker“ zu achten. Bereits 1994 hatte Russland zudem im Budapester Memorandum erklärt, auf die „Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit der Ukraine zu verzichten.“ Daher hatte die Ukraine die auf ihrem Gebiet lagernden atomaren Waffen sowjetischer Herkunft an Russland zurückgegeben, um die Nichtverbreitung von Atomwaffen zu fördern.
Die Rolle der Balten
Im Kontrast dazu behauptet von Dohnanyi, die USA hätten kurz nach Ende des Kalten Krieges mündlich zugesagt, die NATO gerade nicht nach Osten zu erweitern, d.h. östlich von Gesamtdeutschland. Faktisch berühren derzeit lediglich sechs Prozent der russischen Grenzen NATO-Gebiet und umgekehrt. Besonders wenig Verständnis zeigt der Autor für den NATO-Beitritt der baltischen Länder, wenn er erklärt, damit hätten Estland, Lettland und Litauen auf die Chance verzichtet, „ihre bedeutende Rolle als die Brücke Europas zu Russland wieder aufzunehmen“ – zu Beginn seines Buches hatte er noch Verständnis, Sensibilität und Empathie für die Geschichte gerade auch osteuropäischer Länder gefordert.
Vor allem aber übergeht von Dohnanyi in seiner NATO-Kritik den wohl wichtigsten Grund für den russischen Überfall bereits seit 2014: Putins Panik, die Ausbreitung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Wohlstand in der Ukraine könnte eines Tages auch Russland „infizieren“ und damit sein Regime beenden. Summa summarum betrachtet von Dohnanyi Putins Politik und seine bisherigen Kriege ziemlich unkritisch. Darin ähnelt er anderen Politiker des demokratischen Spektrums, die ebenfalls über Jahre und partiell bis heute als Putin-Apologeten auftraten und auftreten. Noch unkritischer bewerten bis heute lediglich Politiker an den Rändern der bundesdeutschen Parteienlandschaft das Putin-Regime. Dohnanyi, der erfahrene Politiker, hat gerade keine nüchterne, realitätsnahe und illusionsarme Analyse verfasst, sondern ein meinungsfreudiges Buch geschrieben, das auf einer stark selektiv-subjektiven Wahrnehmung der Wirklichkeit basiert.
Verniedlichung des Regimes
Dohnanyis Streitschrift verniedlicht das russische Regime, dämonisiert die USA, verbreitet viel wishful thinking und argumentiert oft stark unterkomplex, u.a. bei der Frage nach den jeweiligen Ursachen des 1. und 2. Weltkrieges und den Voraussetzungen der deutschen Wiedervereinigung 1990. Seine Irrungen und Wirrungen gipfeln in der geschichtsresistenten und weltfernen Forderung, Europa müsse „am Ende eine allianzneutrale Position“ einnehmen. Schon Heinrich Heine warnte in „Deutschland. Ein Wintermärchen“: „Franzosen und Russen gehört das Land, das Meer gehört den Briten. Wir aber besitzen im Luftreich der Träume die Herrschaft unbestritten.“
Harald Bergsdorf ist Politikwissenschaftler aus Bonn mit den Schwerpunkten Parteiendemokratie, Extremismus, Terrorismus und Zeitgeschichte.
Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und
europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche, München 2022.