Rezension von Dr. Aide Rehbaum

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Jakob Hein: Die Orient-Mission des Leutnant Stern

Jakob Hein © Susanne Schleyer

Lawrence von Arabien oder Gertrude Bell, die beide gegen Ende des Osmanischen Reiches entscheidenden Einfluss im Nahen Osten hatten, sind bekannte Personen der Geschichte. Niemand wird jedoch wissen, was mit Hilfe eines Deutschen versucht wurde und kläglich scheiterte.

Der Roman des Psychiaters Hein ist aus mehreren Gründen eine vergnügliche Lektüre. Zum einen dreht er sich um tatsächlich existierende Personen, besonders um die wahre Geschichte des Leutnants Edgar Stern. Die Story an sich klingt fast zu unwahrscheinlich, um wahr zu sein. Leider führt Hein nicht auf, in welchen Archiven er recherchiert hat. Es klingt aber so, als habe er außer den Lebenserinnerungen von Edgar Stern und den Memoiren von Karl Emil Schabinger auch die Akten des Reichskolonialamts ausgeschöpft.

Ein weiteres positives Merkmal ist die abwechselnde Sicht unterschiedlich gebildeter Personen, denen Hein eine jeweils eigene Stimme verleiht. Außer dem Journalisten Stern, der vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs in einem belgischen Badeort überrascht wird, sind das seine Kollegen im Heer, Mitglieder des diplomatischen Dienstes, aber auch in die französische Armee zwangsverpflichtete, muslimische Nordafrikaner, die zu deutschen Kriegsgefangenen wurden, und jede Menge Bürokraten verschiedenster Nationalitäten.

Stern macht sich Gedanken, wie der Gegner wirksam überwältigt werden könnte und legt seine Idee höheren Orts vor. Dadurch qualifiziert er sich für einen heiklen Auftrag, der an Naivität nicht zu überbieten ist. Er soll in geheimer Mission mit einer Gruppe Muselmanen nach Konstantinopel reisen und den Sultan zum Heiligen Krieg überreden. Da der Orientexpress eine Reihe Länder durchquert, die sich noch nicht entschieden haben, auf welcher Seite sie sich am Krieg beteiligen, ist die Gruppe mit gefälschten Pässen als Zirkusartisten verkleidet. Medienwirksam sollen die Gefangenen am Ziel ihre Freiheit erhalten. Mit organisiertem Jubel werden sie empfangen. Den Preußen ist weder bekannt, dass die arabische Welt unter sich zerstritten ist noch welche religiösen und ethnischen Voraussetzungen dem zugrunde liegen. Kurzerhand werden alle (ehemaligen) Osmanen über einen Kamm geschoren, egal ob Berber, Tuareg, Abkömmling afrikanischer Sklaven, Sunnit und Schiit. Nachdem die Marokkaner ihren Propagandazweck erfüllt haben, kümmert sich niemand um ihre Heimkehr.

Hein versucht eine Antwort zu finden, warum sowohl im Generalstab der türkischen Armee, wo deutsche Generale kommandierten, als auch der Botschafter ihren Einfluss nicht geltend machten und keinerlei Loyalität gegenüber den christlichen Glaubensbrüdern zeigten, als sich der Völkermord an den Armeniern abzeichnete. Während des Aufenthalts der Delegation eskalieren die Angriffe auf armenischen Besitz in der Stadt.

Standpunkt der adligen Kreise war wohl damals: unsere Interessen gehen vor, ansonsten sei jedem Volk sein Sündenbock gegönnt, mit dem es halt verfährt, wie es dort Tradition ist. Der Autor erhebt nicht den moralischen Zeigefinger, sondern verarbeitet das Material mit erfrischend ironischem Unterton, Witz und Humor.

 

Jakob Hein arbeitet als Psychiater. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter Mein erstes T-Shirt (2001), Herr Jensen steigt aus (2006), Wurst und Wahn (2011), Kaltes Wasser (2016) und Die Orient-Mission des Leutnant Stern (2018). Sein Buch Hypochonder leben länger und andere gute Nachrichten aus meiner psychiatrischen Praxis (2020) stand nach Erscheinen wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Zuletzt erschien sein Roman Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken im Frühjahr 2022.

 

  • Verlag: KiWi-Taschenbuch
  • Erscheinungstermin: 10.10.2019
  • Lieferstatus: Verfügbar
  • 256 Seiten
  • ISBN: 978-3-462-05338-8
  • Autor: Jakob Hein
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