Moskaus Mann in Belgrad

Serbiens Präsident Vučić versteht sich darauf, den Kosovo-Konflikt eskalieren zu lassen. Im Tandem mit Russland stößt er in die offene Flanke der EU.

Kommt es zu einem neuen Krieg auf dem Balkan, einem weiteren Krieg in Europa? Am Sonntagabend war zumindest Twitter-Deutschland in heller Aufregung: Es war von bewaffneten Zusammenstößen zu lesen und der serbische Präsident Aleksandar Vučić wurde mit den Worten zitiert, dass die Lage noch nie so angespannt gewesen sei und dass Belgrad alles dafür tun werde, den Frieden zu wahren.

© David Peterson auf Pixabay.com

Was ist passiert? Im Juni hatte die kosovarische Regierung beschlossen, dass ab Montag, den 1. August, zusätzliche Einreisebestimmungen in Kraft treten sollten. Die angekündigte, neue Regelung sieht für serbische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger vor, bei Einreise in den Kosovo temporäre Ausweisdokumente zu erhalten. Dies sind die gleichen Regelungen, wie sie für kosovarische Staatsbürgerinnen gelten, wenn sie nach Serbien einreisen wollen. Jedoch kam es nicht so weit: Am Wochenende errichteten Teile der serbischen Minderheit Straßensperren an zwei Grenzübergängen, die kosovarische Regierung entsandte daraufhin Spezialpolizei, die schließlich zwei Grenzübergänge vorübergehend schloss.

Meldungen in serbischen Medien, dass es zu bewaffneten Zusammenstößen mit Verletzten auf beiden Seiten gekommen sei, stellten sich als unwahr heraus.

Internationale Aufmerksamkeit erregten jedoch Meldungen in serbischen Medien am Sonntagabend, dass es zu bewaffneten Zusammenstößen mit Verletzten auf beiden Seiten gekommen sei – dies stellte sich später als unwahr heraus –, und die bereits erwähnte Kommentierung durch Präsident Vučić. Weiter gab es Gerüchte, dass Waffen an die lokale serbischstämmige Bevölkerung verteilt worden wären. Es half sicherlich auch nicht, dass ein Abgeordneter der serbischen Fortschrittspartei – Vučićs Partei – öffentlich darüber sinnierte, dass Serbien womöglich dazu gezwungen sei, den Balkan zu denazifizieren – Moskaus Rhetorik lässt grüßen. Russische Nachrichtenagenturen berichteten in Live-Schalten von vor Ort und verbreiteten die Gerüchte aus den serbischen Medien weiter.

Trotz medialen Aufruhrs kann jedoch zunächst Entwarnung gegeben werden: Die serbischen Medienberichte stellten sich als unwahr heraus; die Kosovo-Truppe KFOR unter Leitung der NATO veröffentlichte noch in der Nacht ein Statement, in dem sie ihr Mandat bekräftigte, für Stabilität und Sicherheit im Kosovo zu sorgen. Die von der US-Botschaft vorgeschlagene, und von der kosovarischen Regierung nun umgesetzte, Kompromisslösung sieht vor, die Maßnahmen um einen weiteren Monat (ab 1. September) zu verschieben, „um allen Parteien Zeit zu geben, sich auf die neuen Bestimmungen einzustellen“. Damit erhält der kosovarische Premierminister Albin Kurti auch offiziell Rückendeckung für die Maßnahmen seitens der USA.

Die Unruhen entstanden nicht spontan, sondern waren anlassbezogen. Bei den, von der kosovarischen Regierung im Juni beschlossenen, neuen Einreisebestimmungen handelt es sich um sogenannte Reziprozitätsmaßnahmen. Hintergrund ist, dass kosovarische Staatsbürger bei Einreise nach Serbien am Grenzübergang sowohl ihre Kennzeichen überkleben müssen als auch temporäre Ausweisdokumente erhalten, da kosovarische Identifikationsdokumente von serbischen Behörden nicht anerkannt werden.

Schon im September 2021 hatte die Kurti-Regierung erste Reziprozitätsmaßnahmen eingeführt, konkret das Überkleben von Hoheitsabzeichen von serbischen Nummernschildern bei Einreise. Auch damals gab es Spannungen; Spezialeinheiten beider Seiten fuhren auf, der russische Botschafter besuchte zusammen mit dem serbischen Verteidigungsminister Truppen an der Grenze, und serbische Militärflugzeuge stiegen auf. Nach den anfänglichen Unruhen wurden die Regelungen jedoch still und leise implementiert.

Auch nach diesem Wochenende ist klar, der zweite Teil von Reziprozitätsmaßnahmen wird kommen. Diesmal sogar mit indirekter Zustimmung durch die USA. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass diese sich bisher – mit Verweis auf den Kosovo-Serbien Dialog – immer gegen Reziprozitätsmaßnahmen ausgesprochen hatte. 

Auch wenn die Vorfälle am Wochenende nicht über das dargestellte Niveau hinaus eskalierten, veranschaulichen diese sehr gut, wie erfolgreich Belgrad die Temperatur erhöhen kann, um den fragilen Status quo vis-à-vis Pristina aufrechtzuerhalten. Diese weiterhin „kontrollierte Eskalation“ beherrscht kaum jemand so gut in Europa wie die serbische Führung. 

Vučić ist ein Meister der eskalierenden De-Eskalationsrhetorik.

Es gab Gerüchte, dass Waffen an die lokale serbischstämmige Bevölkerung verteilt worden wären© MikeGunner auf Pixabay.com

Wenn man der deutschen Berichterstattung hingegen folgt, könnte man dem Eindruck erliegen, dass mit Vučić ein besonnener Staatschef zur Mäßigung aufruft. Und man kann es niemandem verdenken, denn Vučić, noch unter Slobodan Milošević Informationsminister, ist ein Meister der eskalierenden De-Eskalationsrhetorik. Wenn er allerdings davon spricht, dass er alles dafür tun würde, den Frieden zu wahren und Serben im Kosovo sich nicht provozieren lassen sollen, muss man fragen: „Wer stellt den Frieden infrage?“ und „Wer provoziert hier wen?“. Dem bisherigen Muster folgend, gab es auch am Wochenende vermehrt Anzeichen, dass die Straßensperren nicht Produkt spontaner Zusammenkünfte einiger Wutbürgerinnen und Wutbürger waren, sondern zumindest von Belgrad gebilligt, wenn nicht gar operativ ermuntert wurden. Serbien übt eine indirekte, operative Kontrolle über die serbische Minderheit im Kosovo aus. So reagiert das Vučić Regime nicht bloß passiv auf Entwicklungen im Norden Kosovos, sondern ist Protagonist der Entwicklung. Dies geschieht vor allem durch Srpska, der Liste der Partei der serbischen Minderheit im Kosovo, und durch das Verbreiten von Desinformationen durch serbische und russische Medien.

Die Parallelen der serbischen zur russischen Außen- und Sicherheitspolitik sind frappierend. Erstens teilt Serbien mit Russland eine revanchistische Agenda, wobei man sagen könnte, dass Moskau eher von Belgrad gelernt hat, als andersherum: Eine in eigener Wahrnehmung gedemütigte, ehemalige Zentralmacht schürt in der Peripherie ihres einst bestandenen Staates Instabilität – in diesem Modus lassen sich Konflikte am ehesten aufrechterhalten. Zweitens verfolgen beide Staaten das Ziel, den Kosovo-Serbien-Konflikt möglichst lange im Status quo verharren zu lassen. Dass es dazu geringen Mitteleinsatz benötigt, zeigen die Unruhen vom Wochenende. Drittens arbeiten beide Staaten mit vergleichbaren Instrumenten, wenn auch im Falle Serbiens mit geringerer Intensität. So sahen wir am 31. Juli mediale Rückendeckung aus Moskau für Zusammenstöße, die von Belgrad ausgingen. Auch verurteilte die Sprecherin des russischen Außenministeriums die kosovarische Regierung scharf und kritisierte sie für unilaterale Eskalation. Eine klassische Täter-Opfer-Umkehr.

Dass Serbien im Kosovokonflikt immer auf russische Unterstützung zählen kann, spiegelt sich im Gegenzug darin wider, dass Serbien nicht die gemeinsame europäische Sanktionspolitik gegenüber Russland mitträgt.  

Nun, es wäre zu kurzgefasst, die serbische Politik nur als verlängerten Arm der russischen Föderation zu sehen. Vučićs Politik ist geprägt von einer sehr erfolgreichen Vektorenpolitik – einer Politik, die versucht zu vielen Großmächten gute Beziehungen zu erhalten und diese gegen- und miteinander auszutarieren. In der Kosovofrage verfolgen Russland und Serbien jedoch die gleiche Agenda und Ziele. Dass Serbien im Kosovokonflikt immer auf russische Unterstützung zählen kann, spiegelt sich im Gegenzug darin wider, dass Serbien nicht die gemeinsame europäische Sanktionspolitik gegenüber Russland mitträgt.

Diese Kongruenz findet sich nicht nur in der Politik, sondern auch in der Mittelwahl. Am Wochenende konnte man das Konzept von medialer Aufstachelung eines Konflikts beobachten – eskalierende Sprache gepaart mit logistischer Unterstützung von „irregulären Elementen“. Russland hat durch seine Nachrichtenagenturen dabei zwar auch eine aktive Rolle eingenommen, aber lediglich opportunistisch verstärkt, was von Belgrad ausging. 

Somit bleiben die Region und insbesondere der Kosovo-Serbien-Konflikt aufgrund direktem und indirektem Einfluss Russlands eine „offene Flanke“ für die Europäische Union und die NATO im Konflikt mit Russland. Der aktuelle Vorfall zeigt, wie wenig es braucht (am Ende des Tages handelt es sich um eine rein administrative Einreiseregelung), um Spannungen zu erzeugen und diese zu eskalieren. Diese Verwundbarkeit bleibt so lange bestehen, bis Kosovo und die anderen Staaten des westlichen Balkans fest in die europäische Union und das transatlantische Bündnissystem integriert sind.

Die Unruhen vom Wochenende zeigen, mit welch geringem Mitteleinsatz sich Konflikte schüren lassen, die die politischen – wie auch im Zweifelsfall militärischen – Kräfte der EU und/oder NATO binden würden. Auch wenn keine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Serbien und Kosovo in Sichtweite ist, unterstreichen die Vorfälle vom Wochenende die Bedeutung des KFOR-Mandats und den strategischen Wert des Kosovos – im Sinne einer Verwundbarkeit – im Konflikt mit Russland. Die politische Lösung dieser „offenen Flanke“ ist in der EU-Erweiterungspolitik zu suchen.

René Schlee leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Nordmazedonien und im Kosovo.

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