Lily Braun: Im Schatten der Titanen
Rezension von Dr. Aide Rehbaum
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Geboren als Amelia Jenny Emilie Klothilde Johanna von Kretschmann (1865 – 1916) war Lily Braun eine schriftstellernde Frauenrechtlerin, die sich besonders für die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Berufstätigkeit einsetzte und die zeitgenössischen Wertbegriffe unter die Lupe nahm. Ihre Großnichte Marianne, geborene von Kretschmann, ist übrigens die Witwe des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker.
Die Autorin schrieb 1892 die unterhaltsame Biografie ihrer Großmutter Jenny von Pappenheim, verheiratete von Gustedt (1811-1890), anhand vieler Briefe, Tagebücher und Buchauszüge, mit deren Hilfe sie sich einfühlt. Erst nach dem Tod der Mutter, der ehemaligen Kammerfrau der Königin von Westfalen, erfuhr Jenny, dass sie die uneheliche Tochter des kurzzeitigen Königs von Westfalen Jerome Napoleon Bonaparte war. Das wäre ein zwiefaches Handycap gewesen, wenn die Mutter nicht verheiratet gewesen wäre und der Ehemann das Kind nicht als seines anerkannt hätte, denn uneheliche Geburt war an sich ein gesellschaftliches No-Go und dann erst recht Kind des Bruders von Napoleon, der einen sehr schlechten Ruf genoss.
Nach dem Sturz Napoleons und dem Tod des Gatten, der ursprünglich Hofbeamter in Weimar gewesen war, wurde Diana Rabe v. Pappenheim von der Großherzogin Maria Paulowna aufgenommen und Jenny wuchs zusammen mit der herzoglichen Tochter Augusta, der späteren deutschen Kaiserin, auf. Jenny war in der Zeit der Romantik eine außergewöhnliche Erscheinung, sowohl von ihrer Geburt als auch ihres weiteren Lebenswegs her. Bis zu ihrer Heirat gehörte sie der schwärmerischen Weimarer Gesellschaft an, betreute die Enkel von Goethe, zu dem sie zeitlebens voller Verehrung aufblickte. Sie kannte seine Gäste, nahm an den Treffen der gebildeten Schicht teil, war später Hofdame der Großherzogin.
Nach der Heirat mit Werner von Gustedt lebte sie auf einem Gut in Ostpreußen und ging in der Arbeit einer Gutsbesitzerin auf. Wo sie sich auch aufhielt, versuchte sie das Lebensniveau der Bevölkerung durch Arbeitsbeschaffung zu heben und die Bildung der Ärmsten zu verbessern. Die sozialen Probleme ihrer Zeit belasteten sie genauso wie die Standesallüren ihrer Schicht. Als der Mann gestorben war und die Kinder ihrer Wege gingen, lebte sie wieder in Weimar zurück und genoss den regen Gedankenaustausch. Hatte sie schon früher beobachtet, wie die Kinder und Enkel Goethes durch die überzogenen Qualitätsmaßstäbe des Dichters unter Minderwertigkeitsgefühlen litten, so setzte sich das nach dessen Tod durch die Erwartungen der Gesellschaft so fort, dass sie scheiterten. Die Oberflächlichkeit ihrer eigenen Kinder, die glaubten auf großem Fuß leben zu müssen ohne die Mittel dafür zu haben, gefährdete finanziell Jennys Alter dann wieder in Ostpreußen.
Bei einer Großmutter, die Reichstagsprotokolle las wie andere einen spannenden Roman, ist es kein Wunder, dass politisch engagierte Frauen aus dieser Familie hervorgingen.
Thalia Bücher GmbH
ISBN: 978-3-7523-1241-6
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