Kein Platz für Selbstkritik
Weirichs Klare Kante
Kaum eine „staatstragende“ Rede zu einem der vielen historischen Anlässe in diesen Tagen kommt ohne ein Zitat von Karl Popper aus. Jenem Begründer des kritischen Rationalismus in der Philosophie, einem Kant und Einstein folgenden großen Denker. Er hielt „Selbstkritik für die beste Kritik“ und „Kritik durch andere für eine Notwendigkeit“.
Wie ist es aber um die Glaubwürdigkeit der Popper wie eine Monstranz vor sich hertragenden Würdenträger bestellt, wenn sie zwar wie – Bundespräsident Steinmeier – unaufhörlich die Vorzüge demokratischer Streitkultur betonen, Kritik aber an sich selbst nicht als Chance für einen Dialog, sondern als ungebührlich, ja sogar als Majestätsbeleidigung empfinden? Sie bestätigen damit das in der Öffentlichkeit weit verbreitete Bild einer abgehobenen Blase.
Wie dünnhäutig und durch die ständigen Ergebenheitsadressen seines „Hofstaates“ dem Alltag enteilt das deutsche Staatsoberhaupt ist, zeigte sich jüngst anlässlich einer Veranstaltung zur Erinnerung an 35 Jahre friedlicher Revolution, als der Publizist Marko Martin die Feierstunde im Bundespräsidialamt durch eine Attacke auf Steinmeier „entweihte“. Der Schriftsteller geißelte die Russlandpolitik der SPD, erinnerte an Egon Bahrs verweigerte Solidarität gegenüber der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarnocz, an die für Ex-Kanzler Schröder einträgliche Männerfreundschaft zu Putins und Steinmeiers Einsatz für das Nordstream 2- Gasprojekt.
Martins Breitseite gegen die deutsche Geschichtsvergessenheit und die Inflationierung des Friedensbegriffes ließ Steinmeier ausrasten. Wutentbrannt warf er dem Redner vor, keine Ahnung von den komplizierten Zusammenhängen seinerzeit zu haben. Die Domestiken am Hofe raunten, so könne man sich als Gast nicht verhalten. Haben sich die in einer Monarchie wähnenden Diener einmal vor Augen gehalten, dass Steinmeier auch nur Gast auf Zeit im Schloss Bellevue ist. Eingeladen von Steuerzahlern und Wählern.
Ob die in ihrer Sturheit Fehler nicht eingestehende Altkanzlerin Angela Merkel oder Steinmeier, es scheint für die herrschende politische Klasse unmöglich zu sein, von gesamtdeutschen Lebenslügen Abschied zu nehmen, von der sehenden Auges geschaffenen energiepolitischen Abhängigkeit von Putin oder von der den Schutz der Deutschen vernachlässigenden Wehrfähigkeit – für Selbstkritik gibt es keinen Platz.
Dieter Weirich (Jg. 1944), gelernter Journalist, kommentiert jede Woche mit spitzer Feder seine Sicht auf das aktuelle Geschehen in rantlos; mit freundlicher Genehmigung der “Zeitungsgruppe Ostfriesland (ZGO)”. Weirich war von 1989 bis 2001 Intendant des deutschen Auslandsrundfunks Deutsche Welle. Zuvor gehörte er eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Abgeordneter dem Hessischen Landtag und dem Deutschen Bundestag an, wo er sich als Mediensprecher seiner Partei und als Wegbereiter des Privatfernsehens einen Namen machte. Außerdem nahm er Führungspositionen in der PR-Branche in Hessen wahr. Weirich, der sich selbst als „liberalkonservativen Streiter” sieht, gilt als ebenso unabhängig wie konfliktfreudig.
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