Von Günter Müchler

Günter Müchler

Zwei Bilder aus den vergangenen Tagen werden in Erinnerung bleiben – die Wiedereröffnung von Notre Dame in Paris und das Dreiertreffen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sowie des amerikanischen President Elect Donald Trump. Beide Bilder haben, obwohl es nicht so aussieht, einen Zusammenhang. Sie betreffen Europa, seine Vergangenheit, seinen gegenwärtigen Zustand und die Frage, was Europa mit sich selbst vorhat: Weichen oder sich behaupten?

Als vor fünf Jahren aus Ursachen, die noch immer ungeklärt sind, die Kathedrale auf der Isle de la Cité in Brand geriet, als der Vierungsturm stürzte, hielt die Welt den Atem an. Die Feuerzeichen an der Wand waren eine Botschaft in Großbuchstaben. Sie kündeten von der Möglichkeit, dass der Untergang von Notre Dame de Paris, eines europäischen Wahrzeichens, bloß der erste Akt des großen Trauerspiels sein könne, des Abtretens Europas von der Weltbühne.

Glücklicherweise konnte Notre Dame gerettet werden. In nur fünfjähriger Bauzeit wurden die Schäden beseitigt, die Sünden früherer Vernachlässigung getilgt und Wiederholungsrisiken gemindert. Hilfen aus dem Ausland, auch aus Deutschland, waren willkommen. Letztlich aber bleibt die Rettung eine Leistung der Franzosen und Frankreichs, die man umso höher bewerten muss, als es sich bei unserem Nachbarland ja um einen entschieden laizistischen Staat handelt. Bei der Eröffnungszeremonie und der nachfolgenden grandiosen „Renaissance“-Show konnten sich Abermillionen Fernsehzuschauer davon überzeugen, dass Notre Dame heute noch heller und strahlender ist als je zuvor.

Für Präsident Macron war die fristgerechte Instandsetzung ein Erfolg, der zur rechten Zeit kam. Ein paar Tage vor der Eröffnungsfeier fand die von ihm gestützte Regierung Barnier ein ruhmloses Ende. Nach wie vor besitzt Macron keine Mehrheit im Parlament. Wie es weitergehen soll mit dem „Macronismus“ in den nächsten zwei Jahren, bis dann der Mietvertrag des Präsidenten im Élysée-Palast ausläuft, steht in den Sternen. Die Mehrheit der Franzosen möchte den noch immer jungen, aber längst nicht mehr jugendlich wirkenden Nachfolger de Gaulles in den Ruhestand schicken. In der Bilanz seiner bisherigen Amtszeit wechseln Licht und Schatten einander ab. Die Staatsverschuldung ist weiter gestiegen, Reformen sind steckengeblieben.

Frankreich ist eben ein strukturkonservatives Land. Wer dort den Status quo verändern will, tut sich damit noch schwerer als es bei Politikern in Deutschland der Fall ist Immerhin hat sich Macron an Reformen herangetraut, die Wirtschaftsleistung ist im Nachbarland nicht auf Schrumpfkurs wie bei uns, Investoren fühlen sich eingeladen. Und dann war im Sommer ja noch in Paris das Fest der Olympischen Spiele, bei dem Frankreich der ganzen Welt gezeigt hat, wie man Modernität verwebt mit lebendig gehaltener Geschichte.

Frankreich hat, aller Widrigkeiten zum Trotz, viel zu bieten und ist gewillt, seine politische Stellung zu verteidigen, auch wenn diese schon lange keine weltpolitische mehr ist und nur im europäischen Rahmen zur Geltung gebracht werden kann. Macron unterstrich diesen Willen dadurch, dass er die „Renaissance“ von Notre Dame für ein Vorzeigetreffen mit Trump und Selenskyj nutzte. Leider fehlte einer auf dem Erinnerungsfoto, der deutsche Bundeskanzler. Olaf Scholz hielt es nicht für nötig, nach Paris zu fahren. Sein Unverständnis für Frankreich und seine Gleichgültigkeit in Sachen Europa kennen keine Brüche.

Darüber, wie Trump, wenn er im Januar die Amtsgeschäfte übernimmt, seine Ukraine-Politik justieren wird, lässt sich viel spekulieren. In jedem Fall wird sie MAGA sein, Make America Great Again. Selenskyj hat das begriffen. Er erwartet mehr Egoismus und weniger Solidarität von Washington. In Brüssel und in den Hauptstädten der EU-Mitgliedsstaaten sieht man das ähnlich, zieht es einstweilen aber vor, wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren, statt zu handeln. Trump wird mehr Eigenleistung von den Europäern verlangen. Dass er damit im Recht ist, stellen in Deutschland nur drei Kräfte in Abrede: die AfD, das Ehepaar Wagenknecht/Lafontaine aus dem Saarland sowie die Mützenich-SPD, der jetzt, da die Regierung passé ist und die Neuwahl näher rückt, wieder der Kamm schwillt.

War der wahlkampfbedingte Rückfall der SPD hinter die „Zeitenwende“ der Grund, weshalb Scholz das Treffen in Paris schwänzte? Ein schwerer Fehler war es allemal. Trump respektiert nichts außer Stärke. Das hat er in seiner ersten Amtszeit bewiesen, und an diesem Reflex wird er festhalten. Ein Signal der Stärke wäre gewesen, wenn bei dem symbolhaften Anlass in Paris Deutschland und Frankreich Seite an Seite aufgetreten wären. Sie sind die beiden Staaten, auf die es in Europa ankommt. Aber die Gelegenheit wurde verpasst. Trump wird sich in seiner Einschätzung der Europäer als Leichtgewichte bestätigt fühlen.

In dieser Tristesse spendet Trost, dass Scholz ein Mann von gestern ist. Außer ihm gibt es nur wenige, die daran zweifeln, und nicht viele, die es bedauern. Scholz hatte eine große Stunde. Das war nach dem Überfall Putins. Es blieb die einzige. Seine Auffassung von Politik erschöpfte sich in Verwaltung. An dieser Mangelerscheinung krankte schon die Kanzlerschaft Angela Merkels. Europa brachten beide nicht voran. Merkel war nicht europäisch sozialisiert, Scholz blieb europapolitisch desinteressiert. Seiner Ampel-Regierung wird keiner, dem die Stärkung der Gemeinschaft am Herzen liegt, nachtrauern. 

Die künftige – unionsgeführte – Bundesregierung wird vor Herausforderungen stehen, die nur eine Mannschaft bewältigen kann, die neben Handlungswillen Mut und intellektuelle Beweglichkeit mitbringt. Vorrangig ist, das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen. Bürger wollen, dass regiert wird. Und sie wollen bestimmen, wer regiert. Die Ampelkoalition hat das erste nicht geschafft und das zweite unterminiert. Von der handstreichartigen Veränderung des Wahlrechts wurde die Hälfte bereits vom Bundesverfassungsgericht kassiert. Die andere Hälfte, die geblieben ist, ist schlimm genug. Es darf nicht sein, dass ein Lotteriespiel darüber entscheidet, ob ein von den Bürgern mit Mehrheit gewählter Direktkandidat in den Bundestag einzieht oder nicht. Richtigerweise hat Friedrich Merz die Bereitschaft, die Wahlrechtsreform komplett rückabzuwickeln, zum sine qua non der Koalitionsbildung erklärt. Also praktisch zur Nagelprobe.

Aus welchen Bausteinen die künftige Regierung zusammengesetzt sein wird, entscheiden die Zahlen. Da das BSW und die AfD ausscheiden und die absolute Mehrheit von CDU und CSU eine Wunschvorstellung ist, wird die Kunst des Möglichen auf das Entweder Oder von GroKo oder Jamaika beschränkt sein. Eine Wiederauflage der Großen Koalition kommt, bei Lichte besehen, nicht infrage. Sie wäre nicht nur das Dementi des Neuanfangs, den die Bürger zweifellos wollen, sondern auch ein Konjunkturprogramm für die politischen Rechts- und Linksausleger, die auf so etwas nur warten. Die SPD ist eine verbrauchte Partei, was man in Würdigung der bedeutenden Rolle, die sie in der Vergangenheit oft gespielt hat, bedauern muss. Aber wem nichts mehr einfällt als die jährliche Anhebung des Mindestlohns und wer sich die Gesellschaft nur noch vorstellen kann wie eine große Tafel, an der alle miteinander steuerlich subventionierte Lebensmittel verzehren, meldet sich selbst von der Regierungsbank ab.

Die Logik spricht für Jamaika. Das Dreierbündnis wäre schon 2017 zustande gekommen, hätte Merkel die FDP nicht weggemobbt. Dass Merz, anders als Merkel, schwarz-gelb will, daran zweifelt niemand. Fraglich ist allerdings, ob die Liberalen die von der SPD betriebene Verratskampagne überstehen und wieder in den Bundestag einziehen. Die Grünen? Die Zahl ihrer Freunde im konservativen Lager ist überschaubar. Aber sie wie Marcus Söder als No-Go gleich der AfD zu klassifizieren, ist unanständig und schlimmer noch: Es ist töricht. Denn natürlich weiß auch der CSU-Chef, dass Handlungsfähigkeit eine stabile Mehrheit voraussetzt. Der Meister der Pirouette wird schließlich dem Notwendigen seinen Zehnten entrichten, allerdings erst dann, wenn er genug getönt hat und die Stimmen ausgezählt sind.

Die Grünen wollen weiter mitregieren. Daraus machen sie kein Geheimnis. Dass ihr Kanzlerkandidat so wenig Kanzler werden wird wie der amtierende Kanzler Kanzler bleiben, ist ihnen klar. In den drei Ampeljahren haben sie verstörende Erfahrungen gemacht. In der Wählergunst sind sie auf ihr Stammklientel zurückgeworfen worden. Mit ihren Themen und ihren Methoden bestimmen sie den Ton nicht mehr so wie gewohnt.

Sie haben Kröten geschluckt und unter Habecks Führung gelernt, dass eine Partei, die etwas erreichen will, mehr sein muss als der Dachverband einer Legion von NGO’s, die munter ihren Spezialinteressen frönen. Noch immer verweigern viele Grüne die Einsicht, dass nicht jeder Migrant ein edler Wilder ist und dass unkontrollierte Einwanderung die Zustimmung untergräbt. Noch immer praktizieren viele eine dichotomische Weltsicht, natürlich mit sich selbst auf der Seite der Guten.

Andererseits bleibt festzuhalten: Die Grünen waren nie Förderer von Nord Stream 2, und nie sind sie von ihrer Überzeugung, dass die Ukraine alle Mittel haben müsse, um einen Sieg Putins zu verhindern, auch nur ein Jota abgewichen. Friedrich Merz wird diese Einstellung zu nutzen wissen. Die Grünen werden auch mitmachen, wenn es um Europa geht, um dessen Platz in der Weltpolitik.

Dieses Europa befindet sich in einem Vielfrontenkrieg. Das mag abgedroschen und alarmistisch klingen, ist aber die Wirklichkeit. Der bevorstehende Einzug des Egomanen Donald Trump ins Weiße Haus lockert die transatlantische Bindung, auf die sich Europa bisher verlassen konnte. Gelingt es Putin, die Ukraine zu versklaven, stehen die russischen Armeen an der Ostgrenze der Europäischen Union. China entwickelt sich mehr und mehr zu einer aggressiven Macht, die ihre langen Tentakel nach allen Himmelsrichtungen ausfährt.

Bedroht wird Europa jedoch auch von innen. Durch einen neuen Nationalismus und von all jenen, die Autokraten wie Putin bewundern und ihm in seinem Kreuzzug gegen die Demokratie innerlich verbunden sind. Aber damit nicht genug: Eine international aufgestellte Linke, die mit dem Scheitern des Kommunismus ihren Topos verloren hat, versucht, Europa auf die Sünden der Kolonialzeit zu reduzieren und himmelt einen diffusen „Globalen Süden“ an, in dem freilich Glaubens- und Stammeskriege an der Tagesordnung und die Menschenrechte wahrlich nicht zu Hause sind.

Wenn es sich nicht preisgeben will, muss Europa etwas tun. Es muss die nötigen Mittel für die Verteidigung aufbringen. Die zwei Prozent, die gerade mühsam erreicht sind, nachdem sie vor zehn Jahren versprochen wurden, genügen nicht. Im Kalten Krieg schaffte die Bundesrepublik das Doppelte und wurde trotzdem um ihr Wohlstandsniveau beneidet. Europa muss dringend seinen Aufbau reorganisieren und ein Aktionszentrum schaffen, dem nicht alle 27 Mitglieder angehören dürfen. Geht es um die Stärkung des Selbstbewusstseins, kann der Blick in die Geschichte helfen. Europa hat der Welt viel gegeben: Das Christentum, den Humanismus, Menschenrechte und technischen Fortschritt. Europa hilft, wo Hungersnot herrscht, es baut auf, wo zerstört wurde. Und es hat so wunderbare Bauwerke geschaffen wie Notre Dame de Paris. 

 Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.    

       

 

 

 

 

 

 

 

 

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