Von Wolfgang Bergsdorf  

Autor Wolfgang Bergsdorf

Im Corona-geprägten Jahr 2021 bereiten sich die deutschen Museen mit diversen Ausstellungen darauf vor, den „deutschesten aller deutschen Künstler“ (FAZ, 14. 2. 2021)  anlässlich seines  100. Geburtstag zu würdigen: Joseph Beuys. Dieser Name lässt sich kaum nennen, ohne in Gedanken das Attribut „umstritten“ hinzuzufügen. Wenn man als Aufgabe der Kunst die Irritation  versteht, das Gewöhnliche und Übliche aus überraschenden, grenzüberschreitenden, also neuen Perspektiven zu betrachten, dann wird das Umstrittene tatsächlich zum Markenzeichen jedes künstlerischen Anspruchs.

Häufig mit christlichen Themen

Joseph Beuys verstand es wie kein anderer Künstler, seine Zeitgenossen zu irritieren. Das gilt besonders für die Schaffensperiode, in der er sich als Aktionskünstler einen Namen machte. In den filigranen Zeichnungen seiner Frühzeit, die sich sehr häufig mit christlichen Themen beschäftigten, hatte er die traditionelle Betrachtungsweise ausprobiert. Gegen Ende der 1950-er Jahre erkannte er, dass diese seinen Ansprüchen auf eine radikal neue Sicht der Lebenszusammenhänge nicht gerecht werden konnte. In seinen Fluxus-Aktionen und Rauminstallationen während der 60- und 70-er Jahre erwies sich Beuys als begnadeter Kommunikator. Seine Arbeiten gewannen ihre Bedeutung durch die ungeheure Beredsamkeit ihres Urhebers. Ohne Kommunikation blieben sie hingegen erklärungsbedürftig.

Die nachhaltende Wirkung des Kommunikators Joseph Beuys zeigt sich auch daran, dass es in den vergangenen Jahrzehnten keinem anderen Künstler gelungen ist, unsere Alltagssprache mit Spuren seiner Begrifflichkeit so sehr zu bereichern. „Jeder Mensch ist ein Künstler“, der „erweiterte Kunstbegriff“ und auch „soziale Plastik“ sind von ihm geprägte Formulierungen, die sich leicht ironisieren lassen. Gleichwohl steht dahinter ein ganzheitlicher, universeller Anspruch, der auf das christliche Grundmotiv seiner Kunst- und Weltanschauung verweist.

In einem Wanderzirkus

Joseph Beuys wurde am 12. Mai 1921 in Krefeld als Sohn des Kaufmanns und Düngemittehändlers Josef Jakob Beuys und seiner Frau Johanna Maria Margarete geboren. Von 1927 bis 1932 besuchte er die katholische Volksschule und danach das staatliche Gymnasium Cleve, heute Freiherr-von-Stein-Gymnasium. Er lernte Klavier und Cello und suchte mehrmals das Atelier des in Kleve ansässigen flämischen Malers und Bildhauers Achilles Moortgat auf, der das zeichnerische Talent des Jungen förderte. Seine Lehrer lenkten sein Interesse auf nordische Geschichte und Mythologie sowie auf Naturwissenschaft und Technik. Ein Katalog mit Plastiken Wilhelm Lehmbrucks, der ihm 1938 in die Hände fiel, erzeugte in Beuys erstmalig den Berufswunsch Bildhauer.

Ein Jahr vor dem Abitur brannte er allerdings durch und schloss sich einem Wanderzirkus an, um dort Tiere zu pflegen und Plakate zu kleben. 1940 fanden seine Eltern den jungen Ausreißer am Oberrhein wieder und konnten ihn zur Rückkehr überreden. Sie hatten ihn für eine Lehrstelle in der Margarinefabrik Kleve angemeldet. Das Lehrerkollegium seines Gymnasiums nahm ihn jedoch wieder auf, so dass er die Schule im Frühjahr 1941 mit dem „Reifevermerk“ (sogenanntes Notabitur) verlassen. Anschließend meldete sich Beuys freiwillig zur Luftwaffe und verpflichtete sich für 12 Jahre. Er wollte sich zum Piloten ausbilden lassen. Diese Hoffnung scheiterte jedoch an seiner Rot-Grün-Blindheit. Stattdessen absolvierte er eine Ausbildung als Bordfunker und -schütze.

Als Bordfunker im Stuka

In der Luftnachrichten-Schule Posen traf Joseph Beuys auf den späteren Tierdokumentar-Filmer Heinz Sielmann, der sein Interesse an Zoologie, Botanik und Geologie weckte. Als Gasthörer belegte er Vorlesungen an der Reichsuniversität Posen zu Kosmologie und Anthropologie von Paracelsus bis Rudolf Steiner. Ab 1942 war der Unteroffizier Beuys in Königgrätz stationiert und wurde in einer Ju-87-„Stuka“ (Sturzkampfbomber) als Bordfunker eingesetzt. Im Sommer 1943 schrieb er an seine Eltern, dass er nach dem Krieg Künstler werden wollte.

Lange davor freilich stand eine Versetzung zum Luftwaffenstab nach Kroatien an. Zahlreiche Skizzen und Zeichnungen stammen aus dieser Zeit. Am 10. März 1944 stürzte seine Maschine in der Ukraine bei Schneefall und schlechter Sicht ab. Der Pilot starb. Joseph Beuys wurde unter dem Wrack eingeklemmt, schwer verletzt und am 17. März 1944 in das Militärlazarett Kurman-Kemeltschi auf der Krim eingeliefert. Im dortigen Krankenbuch findet sich zu Beuys die Diagnose „Gehirnerschütterung und Platzwunde über dem Auge“. Der Absturz hatte ihn allerdings schwer traumatisiert. Später erzählte er immer wieder die Geschichte seiner Rettung durch Tartaren, die ihn gepflegt, mit Filz gewärmt und seine Wunden mit Fett behandelt hätten. Diese Selbstmythologisierung erklärt denn auch die Verwendung von Fett und Filz als wichtige Materialien seiner Kunst. Dazu sollten Hut, Jeans und Anglerweste für sein unverwechselbares Äußeres sorgen.

Der „Klever Künstlerkreis“

Die militärische Karriere des Unteroffiziers Beuys wurde mit dem Kriegsende abgeschlossen, das er in Cuxhaven in britischer Kriegsgefangenschaft erlebte. Nach seiner Entlassung im August 1945 kehrte er zu seinen Eltern nach Neu-Rindern bei Kleve zurück. Dort gründete er mit Hanns Lamers und Walther Brüx den „Klever Künstlerkreis“ und bereitete sich mit Hilfe dieser beiden auf das Kunststudium vor, das er im Sommer 1946 an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf begann.  Zuerst bei dem Monumentalskulpteur Joseph Bernhard Herbert Euseling. Im nächsten Sommersemester wechselte er in die Klasse des Bildhauers, Medallieurs und Malers Ewald Mataré (1882-1965), dessen Spezialgebiet die Tierskulptur war.

 Mataré wie auch Wilhelm Lehmbruck waren von den Nazis verfemte Künstler und sollten auf Beuys einen prägenden Einfluss ausüben. Frauendarstellungen, religiöse Motive wie Kreuze und Tierabbildungen und auch frühe Holzschnitte und Flächenreliefs verraten den Einfluss seines Lehrers Mataré. Dieser ernannte Beuys 1951 zu seinem Meisterschüler, der an den Aufträgen seines Lehrers mitarbeiten durfte. So wirkte er mit an den Türen des Südportals des Kölner Doms oder am Fenster im Westwerk des Aachener Doms oder an der Gedenkstätte in Alt St.Alban Köln.  Eigenständige Arbeiten erzielten erste Erfolge. Mit dem Eisenguss „Pietà“ gewann Beuys 1952 eine Auszeichnung im Rahmen eines Wettbewerbs, ausgeschrieben vom Verband der Eisenhüttenwerke Düsseldorf. Die Plastiken „Bienenkönigin I-III“ (1952)  ließen eine höchst persönliche Handschrift erkennen, Hierfür benutzte er Wachs, Fett und Schokolade und bereicherte so die Materialauswahl der Bildhauerei.

Drang zur Selbstverwirklichung

Das persönliche Verhältnis von Joseph Beuys zu seinem Lehrer Mataré wurde trotz der gegenseitigen Wertschätzung schwierig, weil der Schüler immer stärker auf seine Selbstverwirklichung setzte. Hierbei kam ihm die Freundschaft mit dem Brüderpaar Hans (1929-2002) und Franz (1933-2020) van der Grinten zugute. Beide erkannten schon sehr früh seine Genialität, ermutigten ihn zur künstlerischen Produktion, begannen seine Werke zu sammeln und halfen ihm bei finanziellen Engpässen. Sie kauften Druckgrafiken und Zeichnungen und verschafften ihm die erste Einzelausstellung im Wuppertaler von-der-Heydt-Museum (Joseph Beuys, Plastik. Grafik 22.2.-15.3. 1953). Die Freundschaft mit den Brüdern van der Grinten pflegte Beuys sein Leben lang. Sie sammelten alles von und über Beuys.

Manchmal fuhr wöchentlich ein VW-Bus voller Papiere und Materialien von Beuys´ Atelier in Düsseldorf-Heerdt zum Bauernhof der Familie van der Grinten in Kranenburg am Niederrhein. Der Ort ist seit 700 Jahren bekannt für seine Wallfahrt zum „Wundertätigen Heiligen Kreuz“. Der Bittgang begann mit einem Hostienfrevel. Eine geweihte Oblate wurde aus Unachtsamkeit in einem Baum versenkt. Als dieser nach Jahrzehnten gefällt wurde, fand man – so die Legende – ein 60 cm großes Holzstück, das als Christus-Körper identifiziert wurde. Er soll Wunder bewirkt haben und zog Pilger an. Auch Joseph Beuys hat sich mit dem wundertätigen Kreuz von Kranenburg beschäftigt.

Rückzugsort in Kranenburg

Der Hof in Kranenburg wurde für den Künstler zum Rückzugsort. Hierhin zog er sich 1957 in einer Schaffenskrise zurück, in der er naturwissenschaftliche Literatur, aber auch Novalis, James Joyce und immer wieder den Anthroposophen Rudolf Steiner las. Daneben half er bei der Ernte und entwarf Konzepte für Plastiken. Die Zeit seines Rückzugs endete 1958. Beuys mietete sich ein Atelier im alten Kurhaus am Tiergarten in Kleve und lernte die Tochter des Zoologen Hermann Wurmbach,  Eva Wurmbach, kennen. 1959 heiratete das Paar. Die kirchliche Trauung fand statt in der romanischen Doppelkirche Schwarzrheindorf bei Bonn. Das Gotteshaus war 1151 vom Kölner Erzbischof Arnold von Wied geweiht worden und dient seit der Verstaatlichung des Kirchenbesitzes 1803 der katholischen Gemeinde St. Maria und St. Clemens als Pfarrkirche.

In dieser Zeit bewarb sich Beuys bei der Düsseldorfer Kunstakademie um die Professur für monumentale Bildhauerei. Sein einstiger Lehrer Mataré legte Einspruch ein. 1961 erneuerte er die Bewerbung und wurde einstimmig zum Nachfolger vom Josef (Sepp) Mages (1895-1977) bestellt. Beuys hatte Freude an seiner neuen Aufgabe. Er war innovativ und kritisch und unterrichtete mit ungewöhnlichen Methoden. Fast täglich hielt er sich in der Akademie auf – oft auch am Wochenende und in den Semesterferien, um seinen Studenten als Gesprächspartner zur Verfügung zu stehen. Joseph Beuys räumte ihnen große Freiheiten ein. Das führte zu Konflikten mit anderen Kollegen der Akademieleitung und dem zuständigen Ministerium in Düsseldorf.

Der Konflikt eskaliert

Beuys setzte sich dafür ein, das traditionelle Zulasssungsverfahren durch ein zweisemestriges Probestudium zu ersetzen. 1971 eskalierte der Konflikt mit der Obrigkeit, als er das Sekretariat der Akademie mit 17 abgewiesenen Bewerbern besetzte, die er in seiner Klasse haben wollte. Die Aktion wiederholte er 1972 mit diesmal 54 zuvor abgewiesenen Studierenden. Der damalige Wissenschaftsminister (und spätere Bundespräsident) Johannes Rau (1931-2006) entließ Beuys daraufhin fristlos. Protestbriefe aus aller Welt – u.a. von Peter Handke, Jim Dine, David Hockney, Gerhard Richter, Martin Walser und Heinrich Böll – trafen in Düsseldorf ein. Beuys klagte gegen seine Entlassung und erhielt 1978 recht. Dem Land NRW dämmerte, wie sehr es seinem Renommée als Kunststandort geschadet hatte. Deshalb half es in späteren Jahren, im Kreis Kleve /Bedburg Hau die Stiftung Schloss Moyland zu errichten. Hier konnte die große Sammlung der van der Grintens an Werken und  Archivalien untergebracht werden. Jahrzehntelang haben die beiden Brüder dort bis zu seinem Tode als Kuratoren gewirkt.

Ab Mitte der 60-er Jahre gelang Josef Beuys der Durchbruch sowohl mit zunehmender Präsenz in der Öffentlichkeit als auch auf dem kommerziellen Kunstmarkt. Sein Galerist René Block verkaufte 1969 auf dem Kölner Kunstmarkt die Installation „The pack“ (Das Rudel), einen VW-Bus mit 24 Schlitten für 111 000 DM.  Die Summe entsprach damals dem Preis eines großen Bildes von Robert Rauschenberg. Diese Installation übrigens verschaffte ihm die Zuschrift eines katholischen Pfarrers, der hier die Kirche und ihre Missstände angesprochen sah und von ihrem Urheber die Antwort erbat, ob eine solche Interpretation zulässig sei. Beuys antwortete dankbar: „Auch Sie haben erspürt, dass es sich im Kern um ein christliches Zeichen handelt. Ich meine, das Christentum hat eigentlich noch gar nicht begonnen. Gegenüber dem, was das Christentum eigentlich ist, ist das Christentum wie wir es kennen, nur ein verwirrtes Vorgeplänkel mit Überlagerungen und Zugaben, die schwer allerdings zu verstehen sind, aber auf ein viel Lichteres hinweisen.“

Der Künstler von Weltrang

Seit 1974 galt Beuys als Künstler von Weltrang. Auf einer ersten USA-Reise mit einer Vortragstournee unter dem Titel „Energy Plan for the Western man“ brillierte er als eindringlicher Kommunikator. Dazu war er mit einer großen Installation bei der 37. Biennale in Venedig vertreten, in der Berliner Nationalgalerie beschäftige sich eine Installation mit „Eurasia“ und „Berlin“. Beuys deutete die Mauer als Linie der Trennung gegensätzlicher Ideologien, die er als „Westlichen Privatkapitalismus“ und „Östlichen Staatskapitalismus“ verstand. 1979 traf er zum ersten Mal Andy Warhol, mit dem er eine konstruktive Arbeitsbeziehung aufbaute. Für die „documenta 7“ in Kassel entwarf er sein Konzept „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ – 7000 Eichen. Bis zu seinem Tod wurden 5500 Eichen gepflanzt.

Für die Zeitgeist-Ausstellung im Berliner Martin- Gropius-Bau hat er ein Ensemble mit dem Titel „Hirschdenkmäler“ geschaffen, das er später modifizierte und vom Frankfurter Museum für moderne Kunst erworben wurde. Für Hamburg entwickelte er ein Bepflanzungskonzept, das vom Senat der Hansestadt abgelehnt wurde. Mehr Glück hatte er in Italien. 1984 wurde er Ehrenbürger der Stadt Bologna. Er hatte dort die ersten 4000 von 7000 Bäumen und Sträuchern gepflanzt zur Errichtung eines Naturschutzgebietes.

In Todesahnung

Nun war Josef Beuys mit seinem Werk nicht nur in Deutschland, sondern auch in USA, Japan, Italien, Österreich und vielen Ländern der Welt präsent. Die letzte von ihm eingerichtete Installation, „Palazzo Regale“, wurde von Dezember 1985 bis 1986 im Museo Capodimonte in Neapel gezeigt. Im Herbst reiste Beuys zum letzten Mal mit seiner Familie nach Neapel zu seinem Galeristen Lucio Amelio, um letzte Hand anzulegen an der neapolitanischen Ausstellung, die der Freund im Rückblick als großartiges autobiografisches Werk bezeichnet. Als geistiges Testament, das die Elemente einiger seiner wichtigsten Arbeiten enthalte.

Amelio meint, Beuys habe bei dieser Arbeit eine Vorahnung seines herannahenden Endes verspürt. In den Weihnachtstagen 1985 ordnete er mit bedächtiger Sorgfalt seine Objekte in den Vitrinen der Ausstellung. Vielleicht spürte er, meinte der Freund, dass er sein „Tedeum“ schrieb. „Mir bleibt die Erinnerung an sein ergriffenes Gesicht während der Christmette in der Kirche von Amalfi. Er hatte den Hut abgenommen und plötzlich erschien er mit uralt. Er, der Ungläubige, hatte fast Tränen in den Augen. Da verstand ich, dass er ergriffen war von den Leiden und Hoffnungen in den Gesichtern der anwesenden Gläubigen“.

Die letzte Rede

Im Januar 1986 bekam Joseph Beuys den renommierten Wilhelm-Lehmbruch-Preis der Stadt Duisburg zuerkannt, und er hielt seine letzte Rede. Darin sprach er vom Einfluss des Preis-Namensgebers auf sein eigenes Werk. Dem 17-Jährigen war 1938 ein Buch über Wilhelm Lehmbruch in die Hände gefallen. Und wenig später weckte  der Katalog der Gedächtnisausstellung des gerade verstorbenen Lehmbruck das Interesse des Jugendlichen für die Plastik. In seinen Skulpturen – so Beuys in seiner Rede – gestaltete Lehmbruck nicht nur physisches, sondern seelisches Material, also etwas Innerliches. Beuys folgerte daraus, „Alles ist Skulptur“ und „Denken ist bereits Plastik“. Mit dieser zugespitzten Interpretation der Lehmbruck´schen Arbeiten zur „sozialen Plastik“ will Beuys seinem „Lehrer“ zum Propheten eines neuen sozialen „Organismus“ ernennen, mit dem die Welt wieder menschlicher gemacht werden könne. Wenig später, am 21. Januar 1986, starb Beuys in seinem Atelier in Düsseldorf-Oberkassel an Herzversagen. Er wurde auf See bestattet.

Ideologien und Dogmen als Ballast

Was Beuys kennzeichnete, war sein Anspruch, das Ganze in den Blick zu nehmen, das Universelle auszufüllen. So strengte er sich an, die von ihm vorgefundenen Gegensätze in der Welt miteinander zu versöhnen und jede Art von Grenzen zu überschreiten. Dies beginnt schon mit dem Gegensatz zwischen Geist und Materie, den er ebenso wenig gelten lassen will wie den Unterschied zwischen Vernunft und Gefühl, zwischen Wissenschaft und Kunst oder zwischen Geschichte und Mythos. Jede Ideologie und jedes Dogma war für ihn ein Ballast, der den Menschen an der Entfaltung seiner kreativen Kräfte hinderte.

Die reale Welt – wie er sie erlebte – sei voller Defizite, die der Heilung bedürfen. Seine radikale Kritik am westlichen Privatkapitalismus und am östlichen Staatskapitalismus basiert auf der Feststellung, dass so die Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen erstarrt seien. Jeder Mensch verfüge über eine, ihm eigene Schöpferkraft, die an Gott als den Urheber der Schöpfung erinnere. Für Beuys war Gott der oberste Künstler. Jeder Mensch (so Beuys´ Credo) könne und müsse durch Kunst ermuntert und ermutigt werden, die in ihm schlummernden kreativen Fähigkeiten zu wecken und auszuprobieren, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Kritik auch an Kirche und Staat

Auch der Staat und die Kirche, überhaupt alle Institutionen, seien defizitär, weil sie von defizitären Menschen betrieben würden. In den 70-er und 80-er Jahren beteiligte sich Beuys – entgegen seinen Grundüberzeugungen – an der Gestaltung von Institutionen. Das galt z.B. für die Gründung der Studentenpartei und auch der Freien Interdisziplinären Universität. Auch engagierte er sich parteipolitisch. Zunächst in der Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AUD), später bei den Grünen. All diese Engagements führten zu nichts. Sie kosteten ihn viel Zeit und Energie, die ihm für die persönliche Kommunikation mit seinem Publikum fehlte. Der christliche Grundimpuls seines Wirkens konnte in diesen Aktivitäten nicht zum Ausdruck kommen.

Schon 1972 sieht Beuys allein in einer Belebung des erstarrten Christentums die „einzige Möglichkeit des zukünftigen Menschen“. In einem ausführlichen Gespräch mit dem Kölner Künstlerseelsorger und Jesuiten Friedhelm Mennekes 1984 präzisierte er seine Vorstellung: Christus sei nicht nur ein großer Prophet gewesen, sondern eine göttliche-menschliche Kraft, die in den historischen Kontext geraten sei als reales Mysterium. Der Mensch sei erst frei geworden und habe sich auf seine Individualität besinnen können „durch die Inkarnation des Christuswesens in die physischen Verhältnisse der Erde“.

Reich Gottes – unvollendet

Deshalb sei das Reich Gottes zwar bereits angebrochen, aber noch nicht vollendet. Die Vollendung könne nur bewirkt werden durch die kreative Selbsttätigkeit des Menschen, indem er das göttliche Angebot annehme und verwirkliche. Christus wurde von Beuys als „universelle Kraft“ verstanden. Allerdings ohne Klerus. Aber gleichwohl mit dem Anspruch universeller Wirksamkeit. Auf die Frage, was ihm am besten gelungen sei, antwortet Beuys interessanterweise nicht mit dem Hinweis auf eines seiner Werke oder Werkgruppen, sondern: „Es ist der erweiterte Kulturbegriff, der mir am besten gelungen ist. Diese Grundformel ist aus sich selbst heraus wahr. Unter diese Grundformel lässt sich alles unterordnen, was sonst noch an Detailnotwendigkeiten angeschafft werden muss. Dieser Kunstbegriff bedeutet nichts anderes, als dass es keine andere Methode für den Menschen mehr gibt, das, was existiert, zu überwinden“.

Man kann diese persönliche Sichtweise des Künstlers auf sein eigenes Werk als Hinweis darauf verstehen, was er der Nachwelt als Botschaft und Erbe hinterlassen wollte. Und als seine persönliche Kommunikation, mit der er viele seiner Zeitgenossen bezaubert hat.  Aber darin ist auch Beuys´ utopisch-visionäre Rhetorik erkennen, die   – jenseits aller Kriterien von Rationalität, Systematik und Logik – hier mitgeholfen hat. Aber diese Kommunikation hat auch polarisiert und polemisiert und Ressentiments gegen die zeitgenössische Kunst hervorgerufen. Von diesen zwiespältigen und widersprüchlichen Wirkungen hat nicht nur Josef Beuys profitiert, sondern auch die zeitgenössische Kunst. Dank der kommunikativen Fähigkeiten von Josef Beuys konnte sie ihren Resonanzraum enorm erweitern und gleichzeitig vertiefen.

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