Michail Sergejewitsch Gorbatschow ©seppspiegl
Das wurmt ihn. Noch immer. Michail Gorbatschow, der letzte Präsident der Sowjetunion, kritisiert bis heute, dass die USA den Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges nur als Sieg feierten. Dabei verpassten sie die Chance, „den Weg des Aufbaus neuer Beziehungen, einer neuen Weltordnung“ zu gehen. Denn genau das war Gorbatschows Ziel in den 1980er-Jahren – aufbauend auf einem neuen Denken in der Friedens- und Sicherheitspolitik.
Eng mit dem Namen Gorbatschow sind vor allem innenpolitische Reformen verbunden: Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umbau). Weniger bekannt ist sein damals gewagter Versuch, in einem so gefährlichen Konflikt wie dem Kalten Krieg Mitte der 1980er-Jahre neue Wege zu beschreiten. Er wollte weg vom sowjetischen Dogma, Hochspannungen zwischen Kapitalismus und Sozialismus als immerwährend anzusehen. Stattdessen redete er der Interdependenz das Wort, den universell geltenden Werten und den dringend notwendigen Antworten auf globale Herausforderungen. Er wollte eine gemeinsame positive Agenda für die Zukunft.
Damit traf er den Zeitgeist, denn Europa war seiner Teilung und der Ost-West-Konfrontation müde. Als einer der mächtigsten Staatschefs nahm er die Überlegungen west- und osteuropäischer Denker und Bewegungen auf, die einen friedlichen, wohlhabenden und stabilen Kontinent anstrebten. Vieles ist gelungen. Freilich bei weitem nicht alles. Europa ist weiterhin geteilt, nun mit einer nach Osten gewanderten Grenze. Friedlich ist Europa noch immer nicht, in der Ukraine sterben Menschen aufgrund bewaffneter Auseinandersetzungen. Und darüber hinaus zeichnet sich eine globale Konkurrenz großer Mächte ab.
Derzeit überwiegt weniger die Suche nach Kompromissen, sondern vielmehr die Sucht nach der moralisch richtigen Antwort, vielleicht sogar dem moralischen Sieg.
Wie kann das Neue Denken von Gorbatschow auf die heutige Zeit übertragen werden? Ein Denken, das einst einer kopernikanischen Wende gleichkam – also das Infragestellen von allgemeingültigen Annahmen bei gleichzeitiger Formulierung politischer Antworten und zum Teil sogar deren Umsetzung. Oder sind Frieden und Sicherheit in Europa doch die historische Ausnahme, die, wenn überhaupt, allein mit Waffengewalt zu schützen ist? Und damit die Bestätigung der immer wieder vorgebrachten Kritik, dass die Politik großer EU-Mitgliedsstaaten und der USA, aber auch Russlands pfadabhängig ist, weil sie sich stets anderen Nationen gegenüber als überlegen ansehen.
Diese Fragen sind von der Zunft der Denkfabrikler zu beantworten, deren Impulse in die Politikentscheidungen einfließen. Doch statt eines offenen, an Themen orientierten intellektuellen Wettstreites finden zunehmend normative Auseinandersetzungen statt – weniger die Suche nach inhaltsorientierten Erkenntnissen, nach Kompromissen gar, sondern vielmehr die Sucht nach der moralisch richtigen Antwort, vielleicht sogar dem moralischen Sieg. Die Auseinandersetzungen finden zumeist auf den sozialen Medien in den jeweiligen Echokammern statt, sonst meiden sich die voreingenommenen Lager.
Dominierend ist die Ansicht, dass die EU sich erwehren muss in einem geopolitischen 21. Jahrhundert, in dem die großen Staaten USA (militärisch und wirtschaftlich), Russland (militärisch) und China (wirtschaftlich und zunehmend militärisch) die europäische Sicherheit zu einem sehr bedeutenden Teil bestimmen werden. Bisher ist das Verständnis in Brüssel, dass eine starke NATO und eine enge Partnerschaft mit den USA die Grundvoraussetzungen sind, um dem entgegenzuwirken. Also die Ordnung der westlichen Welt, die nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen und mit der NATO-Osterweiterung gefestigt wurde.
Es ist völlig klar, dass weder China noch Russland, aber eben auch nicht eine amerikanisch geführte westliche Allianz in Zukunft das Geschehen der Menschheit allein bestimmen wird.
Doch diese Politik ist ratlos, was Russland und auch China betrifft. Das ist wenig verwunderlich, ist doch die westliche Allianz alles andere als geeint. Allein auf Abschreckung können sich die westlichen Länder und viele der Denkfabriken meist verständigen. Aber kaum auf die nicht minder wichtige strategisch vorausschauende Politik mit schwierigen Staaten. Von der anderen Seite betrachtet finden sich ebenso wenige Ansätze. Feindbilder aufzubauen ist einfach, sie abzubauen unendlich schwierig.
Beide Seiten beharren darauf, dass die jeweils andere Seite für die Ausgestaltung der Zukunft unerheblich sei, dass die eigene Kraft völlig ausreiche, die selbstgesteckten Ziele zu erreichen. Dabei ist völlig klar, dass weder China noch Russland, aber eben auch nicht eine amerikanisch geführte westliche Allianz in Zukunft das Geschehen der Menschheit allein bestimmen wird. Daran ändern auch die Worte des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden auf der virtuellen Münchner Sicherheitskonferenz nichts. Bei den enormen sicherheitspolitischen Herausforderungen, die hier einmal nicht aufgezählt werden sollen, weil hinreichend bekannt, reicht der Standardinstrumentenkasten westlicher Sicherheitspolitik für politische Gegner wie Aufrüstung und Sanktionen bei weitem nicht mehr aus.
Es bedarf eines größeren Bestecks. Und eines klaren Blickes bei der Auswahl. Dabei sind die üblichen Unterscheidungen zwischen Moral- und Realpolitik nicht mehr tauglich. Voraussetzungen für eine kritische Auseinandersetzung mit dem sicherheitspolitischen Status quo, der höchst unbefriedigend ist, sind intellektuelle Offenheit, Ehrlichkeit gegenüber seinen eigenen Schwächen, aber auch Stärken und die Abkehr vom Lagerdenken. Genau das ist in den vergangenen 30 Jahren aufgrund von sicherheitspolitischer Überheblichkeit verloren gegangen.
Gorbatschow machte sich diese Gedanken an der Spitze einer sich im Niedergang befindenden Supermacht. Die EU und die USA dagegen können sich ein Neues Denken aufgrund ihrer wirtschaftlichen und militärischen Stärke noch leisten.
Daher sollte eine Wiederbelebung des Neuen Denkens im Bereich der Friedens- und Sicherheitspolitik, unter besonderer Berücksichtigung von Staaten wie Russland und China, sowohl in den Kreisen der Fachleute als auch mit der breiten Bevölkerung debattiert werden. Denn Frieden und Sicherheit sind schon lange nicht mehr allein Angelegenheiten der Eliten. In Deutschland wird eine Politik präferiert, die krisenpräventiv und konfliktmildernd wirkt, die nicht eskaliert. Eben nicht allwissend den Weg vorgebend, sondern gemeinsam durch die Erkenntnis verbunden, dass Kompromisse notwendig werden.
Das wird nicht einfach sein. Die innenpolitischen autoritären Verhärtungen in Russland und China sind zu berücksichtigen. Ebenso die innenpolitische Zerrissenheit der USA, die natürlich Auswirkungen auf ihre außenpolitische Rolle hat. Das ist auch bei einigen Mitgliedsstaaten der EU der Fall und damit auch bei der Union insgesamt. Doch trotz oder gerade wegen dieser Herausforderungen müssen die Bemühungen für ein gedeihliches Miteinander, für Sicherheit und Prosperität verstärkt werden. Dabei geht es nicht um den einen großen außenpolitischen Wurf. Sondern eher um eine zeitliche Aufteilung der möglichen Schritte, angefangen mit dem Verständnis, dass die konfrontativen Beziehungen gemanagt werden müssen. Und endend mit einer gemeinsamen positiven Agenda, so schwer das auch fällt.
Im Gegensatz zu Gorbatschow, der sich diese Gedanken in Moskau an der Spitze einer sich im Niedergang befindenden Supermacht gemacht hatte, haben die EU und die USA den Vorteil, sich ein solches Neues Denken aufgrund der wirtschaftlichen und militärischen Stärke noch leisten zu können. Waren einst Sozialismus und Kapitalismus die Gegensätze, so sind es heute Demokratie und Autokratie. Und weil eine schnelle Auflösung nicht zu erkennen ist, werden weder Politiker noch Denkfabrikler daran vorbeikommen, sich an der Konzeption von Friedens- und Sicherheitspolitik wieder abzumühen. Das wäre ein wahrlich europäisches Geburtstagsgeschenk für den 90-jährigen Jubilar Michail Sergejewitsch Gorbatschow.
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