Auch Kanada stand einst vor dem Zerfall, da sich Quebec abspalten wollte. Fünf Lehren für Spanien vor der Katalonien-Wahl.

Die Fahnen von Katalonien und Kanada

Wenn die Katalanen am 21. Dezember vorgezogene Neuwahlen abhalten, wird das Ergebnis auch auf der anderen Seite des Atlantiks mit Interesse verfolgt. Immerhin stand auch der Bundesstaat Kanada im Jahr 1995 kurz vor dem Zerfall, als die Provinz Québec sich in einem denkbar knappen Referendum mit 50,58 Prozent der Stimmen gegen die Unabhängigkeit entschied. Die Wahlbeteiligung lag damals bei über 93 Prozent.

Der juristische Kontext in Kanada weicht zwar vom spanischen ab: Der Supreme Court of Canada hat entschieden, dass die kanadische Bundesregierung im Falle einer klaren Mehrheit für die Unabhängigkeit dazu verpflichtet wäre, mit der betreffenden Provinz Austrittsverhandlungen aufzunehmen. Die „Reference Re Secession of Quebec“ stützt sich auf das Konzept der Selbstbestimmung der Völker, also auf internationales Recht. Dieses scheint der Oberste Gerichtshof in Madrid nicht in Betracht zu ziehen. So könnte man also in Spanien „kurzen Prozess“ mit der Unabhängigkeitsbewegung Kataloniens machen, während eine solche Abkürzung für die kanadische Führung nicht mehr besteht.

Dennoch lohnt sich für die spanische Zentralregierung der Blick nach Kanada, wenn sie vermeiden will, dass die katalanische Abspaltungsbewegung zusätzlichen Auftrieb erhält. Zumal die Spanier ja auch nicht über die Option verfügen, dem Unabhängigkeitskampf durch starke internationale Zuwanderung nach Katalonien langfristig das Wasser abzugraben – so wie das derzeit in Québec geschieht. Fünf Ratschläge nach Spanien:

Gründungsmythen vermeiden

Prägende Ereignisse  – man betrachte die Boston Tea Party oder den Sturm auf die Bastille – sind die Basis für das Nationalgefühl vieler Völker. Madrid muss daher aufpassen, das Feuer der Unabhängigkeitsbewegung durch Gewaltanwendung nicht noch zusätzlich zu schüren.

Die kanadische Bundesregierung hat dabei in der Vergangenheit nicht immer ein glückliches Händchen bewiesen: So hatte Pierre Elliott Trudeau 1970 nach einer Serie von Entführungen und Bombenanschlägen der Front de Libération du Québec das Kriegsrecht ausgerufen, die kanadische Armee nach Quebec einmarschieren und hunderte der Unabhängigkeitsbewegung nahestehende Personen verhaften lassen. Auf die Frage, wie weit er denn noch bei der Beschneidung der Bürgerrechte gehen wolle, antwortete Trudeau Senior nur flapsig: „Just watch me!“ Das wirkt bis heute prägend auf Quebec und hat die knappen Referenden in den Jahren 1980 und 1995 überhaupt erst möglich gemacht.

Auf Trudeaus unilaterale Repatriation der Verfassung 1982, die ohne Zustimmung der Provinzen erfolgte, folgten dann unzählige Föderalismuskonferenzen unter seinem Nachfolger Mulroney und schließlich zwei Kompromissvorschläge Anfang der 1990er, in denen die Anglokanadier spezielle konstitutionelle Rechte für Quebec mehrheitlich ablehnten. Das wurde in der nach Abhängigkeit strebenden Provinz ebenfalls als zusätzlicher Brennstoff für das Referendum 1995 genutzt.

Wirtschaftsängste helfen

Ängste vor wirtschaftlichem Abschwung zu schüren zahlt sich aus, da in fortschrittlichen Volkswirtschaften wie in Quebec, Katalonien oder Schottland auch Anhänger der Unabhängigkeit ökonomisch gesehen viel zu verlieren haben.

Auch wenn die wirtschaftliche Schwarzmalerei der Bundesregierung im kanadischen Falle größtenteils unberechtigt gewesen ist, haben diese Argumente 1995 wohl die entscheidenden Stimmen für den Verbleib in der kanadischen Föderation mobilisieren können.

In der Realität ­– nach ein paar High-Profile-Abwanderungen von Banken und Großinvestoren in Richtung Toronto – sind Montreal und Québec City inzwischen wieder Motoren des Wirtschaftswachstums im kanadischen Osten. Der Tourismus und die Bauindustrie brummen, und der Kreativsektor hat in Montreal viele der traditionellen Industriejobs abgelöst.

Keine krummen Deals

Loyalität der nach Unabhängigkeit strebenden Provinzen durch Milliardeninvestitionen und teures Regierungsmarketing zu erkaufen, ist auch nicht ratsam. Eine solche Vorgehensweise nährt den Zynismus und ist für Korruption sehr anfällig. Der sogenannte „Sponsorship Skandal“ Anfang der 2000er, bei dem windige, der Liberalen Partei nahestehenden Public Relations Firmen Millionensummen einstrichen, um Kanada in Quebec zu vermarkten, hätte den Föderalisten dort nämlich fast den Garaus gemacht.

Es muss beim Werben um die Herzen der Katalanen also sauber zugehen. Nach dem Motto: hart aber fair! Vorzüge des Zusammenhalts und Nachteile der Abspaltung konsequent publik zu machen ist ratsam. Unsinniges Branding des spanischen Zentralstaates oder gar Bestechung von Wählern und Entscheidungsträgern kann sich nur rächen.

Weniger zentrale Staatsgewalt

Zugeständnisse im Zuge einer Föderalismusreform zu machen und der nach Unabhängigkeit strebenden Provinz mehr Eigenständigkeit innerhalb der Föderation einzuräumen, scheint im kanadischen Falle relativ gut funktioniert zu haben. Dabei geht es um eine gerechte Aufteilung sowohl der Gesetzgebungskompetenz, als auch des Steueraufkommens. Weniger zentrale Staatsgewalt in einer auf Autonomie pochenden Provinz auszuüben kann also mehr bewirken als mit starker Hand gegen die lokale Regierung vorzugehen.

Finger weg vom identitären Nationalismus

Zum Schluss noch einen Ratschlag an die Katalanen, vor allem die Linke: Egal wie die Wahlen oder etwaige zukünftige Referenden ausgehen, darf die Unabhängigkeitsbewegung nicht in ethnischen, auf Ablehnung der Spanier abzielenden Nationalismus abrutschen. In Québec kommen dabei die trotzig verbitterten Worte des geschlagenen Premiers Jacques Parizeau ins Gedächtnis, der noch am Abend der Niederlage 1995 „dreckiges Geld und ethnische Stimmen“ für den Ausgang des Referendums verantwortlich gemacht hat. Seitdem schwelt ein Kulturkampf um die Identität Quebecs, der jeden Dialog über progressive Politikansätze im Keim erstickt. Also: Finger weg vom identitären Nationalismus, sonst gibt es über Generationen lang nur Terz um identitäre Politik! Und mit progressiver, sozialer Politik ist dann kein Blumentopf mehr zu gewinnen.

Raoul Gebert ist Research Fellow beim in Montreal ansässigen Interuniversity Research Centre for Globalization and Work (CRIMT) und seit über zehn Jahren bei den kanadischen Sozialdemokraten (NDP) auf vielen Ebenen tätig.

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