Eine Italienische Reise
Unter der Rubrik „Schreibwerkstatt“ veröffentlichen wir literarische Texte von bekannten und bislang unbekannten Autoren.
Heute veröffentlichen wir von der Bonner Autorin Monika Lamers eine Erzählung aus ihrem Buch:
Monika Lamers : Eine Italienische Reise
Kleine Hommage an Goethes Italienische Reise
(Zitate aus dem Original)
Flucht vor dem frühen Herbst, Flucht vor den Freunden, durchdrungen von dem Gedanken, hier alles zu verlassen und aufzubrechen in das andere Licht, ist wie ein dickschaliger Same, der lange gelegen hat. Jetzt treibt er und zeigt seinen arkadischen Keim. Ist es gestattet, solche Sehnsüchte in Taten umzusetzen? Dieses Mal nicht standzuhalten? Standhalten ist eine alte, sehr verwickelte Versuchung.
Hier war nicht länger zu säumen. Ich warf mich ganz allein, nur einen Mantelsack und Dachsranzen aufpackend, in eine Postchaise … an einem schönen, stillen Nebelmorgen. Die obern Wolken streifig und wollig, die untern schwer. Mir schienen das gute Anzeichen. Ich hoffte, nach einem so schlimmen Sommer einen guten Herbst zu genießen.
Auf dem Fluchtweg nachts Station gemacht in Weil am Rhein, im »Hirschen« zu Haltingen, seit 1747 in Betrieb, sechs Generationen. Hier hätte Goethe übernachten können, als er im Oktober nach Italien aufbrach. Jedenfalls der gleiche arkadische Keim, die gleiche Lust zu fliehen, dessen erinnere ich mich, nicht des genauen Wegs, den er nahm.
Der Morgen war kühl, man klagt auch hier über Nässe und Kälte des Sommers; aber es entwickelte sich ein herrlicher, gelinder Tag … Verzeihung, daß ich so sehr auf Wind und Wetter acht habe; der Reisende zu Lande, fast so sehr als der Schiffer, hängt von beiden ab, und es wäre ein Jammer, wenn mein Herbst in fremden Landen so wenig begünstigt sein sollte als der Sommer zu Hause.
Mir fällt ein, dass Goethe genauso alt war wie ich es jetzt bin, als er diese Reise unternahm. Bisschen lächerlich, dass mir das einfällt. Im Auto natürlich eine andere Art zu reisen als damals, folglich andere Wahrnehmungen, andere Erinnerungen:
Es gibt eine Art von Grobheit, die nur in Generationen von Grund auf ausgemerzt werden könnte. Sie ist auch nicht zu verdecken unter eingelernten höflichen Umgangsformen oder weiblicher Koketterie. Es nimmt jemand alle, ausnahmslos alle Äpfel und Birnen mit, die zum Gruß auf sein Zimmer gestellt wurden. Es blinkt jemand die vor ihm auf der linken Fahrspur Fahrenden hemmungslos zur Seite, obwohl er hier, auf den Schweizer Autobahnen, Gast ist. Es lässt jemand sich die Sonnenbrille so oft putzen, als sei er den Johann gewöhnt. Es bewundert jemand Haus und Hof zu weltläufig, in Wahrheit also herablassend. Als ich vor Jahren diesen Weg nach Aargau nahm, saß Annemarie am Steuer. Auch davor Flucht ins italische Licht.
Was lasse ich nicht alles rechts und links liegen, um den einen Gedanken auszuführen, der fast zu alt in meiner Seele geworden ist!
Im Mai starb der Großvater. Im Juli Annemarie.
Nun ging mir eine neue Welt auf: ich näherte mich den Gebirgen, die sich nach und nach entwickelten.
Lago de la Gruyère. Hinter Fribourg Berge und Wolken um deren Gipfel. Eine Wehrburg inmitten des Sees? Nicht auszumachen während rascher Fahrt. Leichte Müdigkeit kriecht aus den Hirnritzen, verstärkt ihr Gewicht, je mehr es bergan geht. Wenn der Weg nahe am schroffsten Felsen hergeht … so erblickt man die Seite gegenüber sanft abhängig, so daß noch kann der schönste Feldbau darauf geübt werden. Es liegen Dörfer, Häuser, Häuschen, Hütten, alles weiß angestrichen, zwischen Feldern und Hecken auf der abhängenden, hohen und breiten Fläche. Bald verändert sich das ganze, das Benutzbare wird zur Wiese, bis sich auch das in einen steilen Abhang verliert.
Ende der Autobahn. Jetzt über Land. Noch lecken Lichtungen großzungig hinauf in den Mischwald. Die Krähe da? Noch nicht. Noch nicht Anbruch der Krähenzeit, nein, Flucht vor dem frühen Herbst! Noch stehen die stark rosa leuchtenden Malven, noch rötet das Weinlaub an den Mauern. Unter uns plötzlich der Spiegel des Lago di Geneva. Das Mädchen, das ich am Straßenrand aufgelesen habe, staunt und schweigt. Ich ließ sie zu mir sitzen … Sie unterhielt mich recht gut. Hübsche, große, braune Augen, eine eigensinnige Stirn, die sich manchmal ein wenig hinaufwärts faltete. Wenn sie sprach, war sie angenehm und natürlich, besonders, wenn sie kindlich laut lachte; hingegen wenn sie schwieg, schien sie etwas bedeuten zu wollen…
Unsere Straße durchzieht die Weinberge. Irgendwann zu einem früheren Zeitpunkt bin ich einmal mit Anma hierher gekommen. Erinnerungen an eine durchhetzte Stadt, an Café-Besuche an jeder Ecke, an ihren Rochas-Duft. Auch dieses Mal liegt das westliche Seeufer im Dunst verborgen. Wolken wie reißender, dicker Zuckerguss. Rhythmische Schatten zucken über die Karte auf dem Schoß des Mädchens neben mir. Unter dem gelben Licht des letzten Tunnels hat sie sich zu mattem Beige entfärbt: weder rote noch gelbe Straßen, weder blaue Seen noch grüne Grenzen mehr darauf zu finden.
Vor Martigny ist das Tal wie zugestellt. Die Müdigkeit sitzt mir im Nacken. Nicht aufzuzählen, was uns alles begegnet. Die Kinder mit aufgeschulterten Kiepen, die aus dem Weinberg kommen, zum Beispiel. Hört sich romantisch an? Aber es sind nicht die alten geflochtenen, sondern aus grellrotem Plastik. Schon wieder ein alter Schuh auf der Bergstraße zum Großen Sankt Bernhard, für dieses Mal erst der zweite. Ich habe eine Affinität zu Straßen mit alten Schuhen und toten Katzen. Jene erzeugen eine müde Melancholie, diese einen scharfen Schmerz. Linksseitig wäre Sanddorn zu ernten. Das Mädchen neben mir schweigt und schaut.
Sich hocharbeiten zum Colle di San Bernardo. Wie Tempel von weitem, die Tunnelentlüfter, zwischen metallisch aufglänzendem Fels. Oben beginnt die kalte Luft über der erhitzten Motorhaube zu flimmern. Endlich der Pass.
Hier angekommen, gleichsam gezwungen, endlich an einen Ruhepunkt, an einen stillen Ort, wie ich ihn mir nur hätte wünschen können. Es war ein Tag, den man Jahre lang in der Erinnerung genießen kann. Den klaren Himmel reinigte ein scharfer Wind vollkommen. Es war eine Kälte, wie sie nur im Februar erlaubt ist. Nun aber die dunklen, mit Fichten bewachsenen Vordergründe, die grauen Kalkfelsen dazwischen, und dahinter die beschneiten höchsten Gipfel auf einem tiefen Himmelsblau, das waren köstliche, ewig abwechselnde Bilder.
2473 Meter oder 8114 Fuß über dem Meer finde ich — Stofftiere: Plüsch-Bernhardiner in allen Preis- und Kitschlagen. Und allerlei Leute in allerlei Lagen, etliche lassen ein Foto schießen vor dem steinernen Höhenschild und vor schmutzigen Schneeresten.
Das Mädchen steigt hier aus. Sie wird den Hundezwinger suchen, um sich dort als Tierpflegerin zu verdingen. Sie mag Hunde. Ich stelle mir vor, wie ähnlich ihre braunen Augen denen der Bernhardiner sein werden.
Jetzt wieder nach unten durch Steinhalden mit mageren Grassoden. Der Blick zurück bestätigt: die Passlage ist gut gewählt. Wird mir ein Rätsel bleiben, wie man in diese Berge einen solchen Tunnel bohren konnte. Plötzlich erneuter Bewuchs. Gelbe Lärchen. Noch vor dem Winter. Die Natur kennt keine Furcht vor dem Winter.
Und das andere Licht! Liegt es nicht dort im Tal bei Aosta? Hier leuchten die Dahlien noch satt, röten die Essigbäume die Flecken, auf denen sie stehen. Aber es geht gegen Abend. Die Müdigkeit gedeiht auch hier.
Nun wurde es dunkler und dunkler: das Einzelne verlor sich, die Massen wurden immer größer und herrlicher; endlich, da sich alles nun wie ein tiefes, geheimes Bild vor mir bewegte, sah ich auf einmal wieder die hohen Schneegipfel vom Mond beleuchtet …
Noch vor Allessandria eine Panne. Schwierigkeiten klar zu machen, um was es sich handelt, wiewohl ich weiß, die Lichtmaschine ist defekt, lädt nicht mehr, seit etlichen Kilometern zu beobachten. Mach einem das deutlich in einer fremden Sprache! Wie fremd sie ist, merkst du dann. Immer sind es die falschen Wörter, die sie uns beibrachten, Dante-Wörter, Montale-Wörter … Il generatore?
Schließlich findet sich, nach einigen, ohne Licht durchfahrenen Tunneln –es dämmert derweilen – ein Mann, der helfen kann. Endlich ist das Seil befestigt. Endlich los. Unendlich langsam. Nach wenigen hundert Metern, an einem leichten Hang, reißt das Seil. Der Mann montiert die Warnlampe auf meinem Wagendach. Er wird zur nächsten officina fahren, um Hilfe zu holen, die überraschend schnell kommt.
Während das Auto hochgekurbelt wird, ist am Horizont eine silbrige Dämmrung wahrzunehmen, liegt dort über dem Dunkel, unbehelligt von Pannen jeglicher Art, fern und schön. Langsam zur Werkstatt in einen kleinen Ort namens Massone. Der Monteur begreift sofort, um was es sich handelt. Über Nacht wird er die Batterie laden, mit der man dann bis irgendwohin kommen könne.
Ein einziges Hotel findet sich, ventri metri, aber was für eins. Essen in einem ländlichen Restaurant mit ausschließlich Einheimischen. Man singt an einem langen, rundum besetzten Tisch, als gelte es einen Wettbewerb: bel canto! Tut gut, merkwürdigerweise.
Der Tag ist so lang, das Nachdenken ungestört, und die herrlichen Bilder der Umwelt verdrängen keineswegs den poetischen Sinn, sie rufen ihn vielmehr, von Bewegung und freier Luft begleitet, nur desto schneller hervor. Mit ganz und gar unklassischer Wut schlage ich Goethes Italienische Reise zu und versuche zu schlafen. Morgens erwache ich mit der festen Absicht, diese Reise abzubrechen. Fluch der Flucht?
Ich beeile mich, irgendwo an diesem Sonntagmorgen in Massone etwas Essbares zu finden, denn das Hotel hat kein Frühstück. An einer Ecke gibt’s schwarzen Kaffee, immerhin. Irrsinnigerweise liegt die Italienische Reise schon wieder auf der Reisetasche zuoberst. Jetzt sondere ich Iphigenie aus dem Paket und nehme sie mit in das schöne warme Land als Begleiterin.
Alles klar. Das Gefühl, an diesem unbekannten Flecken allein in Italien herum zu hängen. Aber zweifellos einfacher, als etwa mit Annemarie hier fest zu sitzen, die ihr Missfallen ob solcher Zumutungen entsprechend kundgetan hätte. Ich kann mir den genauen Wortlaut vorstellen. Einfacher so. Wohl einsamer, klar.
Wahrhaftig hätte ich mich nicht zu beeilen brauchen. Vor der Werkstatt warte ich bis zehn auf den Monteur, neun war ausgemacht. Der Rover läuft fürs erste. Solange es hell ist, werde ich damit weiterkommen. Die nächste Stadt ist Genua. Nie dort gewesen. War Filippo Miller, tedesco, pittore, alias Goethe, je dort? Mein Gedächtnis nennt mir einen Autozug von Genua bis Köln, den werde ich nehmen.
Sonderbare Mischung von Empfindungen der Erlöstheit und des Alleingelassenseins auf dieser ersten langen Fahrt ohne Anma.
Genua. Nur eine flüchtige, gleißende Ahnung vom Meer, im Mittagsgegenlicht hingestreckt unter schwarz ruhenden Schiffen. Dann führt die Straße im weiten Bogen schnell hinab in die Stadt.
Am Bahnhof stelle ich den Wagen ab in einer verbotenen Zone. Nirgendwo ein Parkplatz. Sofort beäugen ihn einige Bengel. Natürlich geht kein Autozug nach Köln. Zwar gibt es einen, aber der fährt nur im Sommer. Unterwegs in den Bahnhofshallen treffe ich auf einen Schweizer, der Schlafwagendienst tut. Zuhause haben sie eine Autowerkstatt. Feiner Kerl. Rät mir, auf keinen Fall die Reparatur in Genua zu versuchen, wenn ich kein Italienisch könne. Ob ich nicht nach Celerina im Oberengadin fahren wolle. Er wisse zuverlässig, dass man dort die nötige Lucas-Lichtmaschine vorrätig habe.
Wieso? frage ich entgeistert, wieso Celerina? Mann, was soll ich da? Ich habe einen arkadischen Traum, mein Lieber! Wie Goethe und Konsorten. Und übrigens, wer sagt mir, dass ich solange auf Batterie fahren kann?
Mit Sicherheit! sagt er und malt mir in Ruhe auf einen Zettel, wie ich innerhalb Celerinas die Werkstatt Ramponi finden kann.
Aus welchem Grund finde ich mich keine Stunde später auf dem Weg nach Celerina? Ich kenne nicht einmal den Namen des Mannes, der mir dazu riet, wohl seine Warmherzigkeit. Würde ich überall wieder erkennen, seine Freude am Kameradschaftlichen – äußerst anders als die Freunde, vor denen ich floh. Ich fahre Stunde um Stunde unter einer mächtigen Sonne, esse nichts außer einem Apfel, einer Banane. Die Schokolade vom Bahnhof in Genua schmilzt. Ich fahre, was das Zeug hält, ohne zu stoppen natürlich. Die Ladung steht noch ganz gut, liegt bei knapp elfeinhalb Voltmetern. Allerdings, wenn sie gut ist, hat sie dreizehn. Während ich mich am engen Ufer des Comer Sees entlang arbeite, stehen vor meinem Auge wieder die schwarzen Schiffe der Genueser Ankunft.
So lasst uns denn
Im Schatten sitzen
Wie alte Schiffe …
Keine Ahnung, wer das schrieb – im Schatten sitzen wie alte Schiffe. Noch nicht! Noch Flucht vor dem frühen Herbst.
Durch das spätsommerliche Bergell fahre ich nach Maloja hinauf, über diesen kuriosen Pass, von dem es nicht wieder bergab geht, denn fast auf seiner Höhe liegt schon der Silser See. In der Dämmerung beginnen die Lärchen zu leuchten.
Beängstigend, wer hier schon alles war, nicht nur Proust, sondern Nietzsche und Rilke und Thomas Mann und Adorno. Jedenfalls weder Anma noch ich. Auch Goethe nicht, oder? Wohl wusste Anma, dass die Auslagen der Bijouterien von Sankt Moritz denen der Zürcher Bahnhofstrasse in nichts nachstehen, jedenfalls nicht im Winter.
In Celerina fahre ich an der sonntäglich geschlossenen Werkstatt Ramponi vorüber und miete mich in einem großen Hotelkasten ein. Man wird mir höchstens zwei Übernachtungen gewähren. Zum Abend esse ich Gnocchi alla Romana. Wenn schon nicht italienisch reisen … Zur Nachspeise den Rest Goethe.
Die Literaturgeschichten meinen, mit diesem Text die Wende zur Klassik einläuten zu müssen. Gut. Von mir aus. Jedenfalls hübsch erzählt, Filippo-Wolfgang. Dein italienischer Oktober lag mehr als zweihundert Jahre vor meinem: 1786. Insgesamt eher harmlos, oder? Vergleich das mit Späterem – Welten dazwischen. Doch eben jener Goethe der Ersten italienischen Reise ist jemand, den ich mag: Wie er beschließt, alles, was lexikalisch vielleicht längst geordnet ist, nicht zum Faden seiner Betrachtungen zu machen, sondern sich den eigenen Sinnen zu überlassen. Mir ist es jetzt nur um die sinnlichen Eindrücke zu tun, die kein Buch, kein Bild gibt. Die Sache ist, daß ich wieder Interesse an der Welt nehme … und prüfe … ob die Falten, die sich in mein Gemüt geschlagen und gedrückt haben, wieder auszutilgen sind.
Montags früh will ich den Fenstervorhang lüften, um den Turm von San Gian zu entdecken. Was sehe ich? Schnee. Lautlos schmiegt sich Flocke an Flocke. San Gian dort in der leicht dunstigen Ferne trägt bereits eine Turmhaube von Schnee. Dann ein behagliches Schweizer Frühstück. Unter der Behaglichkeit wie eine Andeutung das Gefühl des Eingeholtseins, vom Schnee, vom frühen Herbst.
Ramponi zeigt sich nicht überrascht, er spricht davon, dass es ein Rover-Problem sei mit der Lichtmaschine, wie im Jaguar, Lucas-Elektrik, inzwischen verbessert. Zuerst wird er prüfen, ob diese noch zu retten sei, wie auch immer, um 16.°° Uhr könne ich den Wagen holen.
Die Sache ist, daß ich wieder Interesse an der Welt nehme… Den Trench zuknöpfen, so hoch es geht, die Hände tief in die Taschen. Gegen kalte Füße empfahl der Vater, die Zehen kräftig zu bewegen. San Gian liegt seit dem 14. Jahrhundert etwas draußen auf einem kleinen Hügel. Gegen Mittag lassen die Schneereste Wiesen- und Bergfarben müde erscheinen. San Gian ist alt und unprätentiös. Die Tür ist verschlossen, aber geschmückt, als habe man soeben Hochzeit gefeiert oder den Tod.
Nach links wende ich mich, den Kirchhof zu durchschreiten, um meinen Augen einen neuen Winkel zu gewinnen. Gern erinnere ich mich jenes Mannes, von dem Hofmannsthal erzählt, er hätte sich einen verlassenen, verfallenden Waldfriedhof gekauft. Am oberen Ende des Gottesackerrechtecks finde ich das Generationengrab einer reichen Familie und sehe: Selbst in den Grabmalen wechselte die Mode. Allen aber eignet marmorne Stille.
Ich wende mich seitwärts. In der Sonne rechts des Turms sitzt ein Mädchen und beschattet mit der Hand den Blick auf die Berge, Richtung Bernina. Die fehlte mir jetzt noch hier.
Jetzt blickt sie mich an, aus sehr braunen Augen.
Aber das kann ja nicht sein! ruft sie und schüttelt eigensinnig den Kopf. Die Enden ihres Kopftuchs flattern im Wind. O, sie ist nicht gesprächig, sie erzählt nichts.
Es war wohl nichts mit dem Zwingerdienst? forsche ich behutsam. Kopfschütteln.
Du bist seit gestern hier? Kopfnicken. Vor meinen Füßen, vor unseren Füßen, im Schutz der hier eng verlaufenden Mauer, stehen unverschneit die trockenen Blütenkörbchen der Immortellen. Sie fragt nichts. Redet nichts. Lächelt wenig. Faltet die Stirn ein wenig hinaufwärts, als ich frage:
Kommst du mit mir nach Hause? Und nickt.
Ich stehe auf und ziehe den Schal fester, ehe wir gehen.
Wie heißt du eigentlich? frage ich, während wir uns auf den Rückweg machen.
Annemarie.
»Vom Geschlecht der Engel und anderen Kalamitäten« versammelt neun Erzählungen einer verdichteten Wirklichkeit, die die Leserin, den Leser immer wieder überrascht und ihr und ihm die Augen öffnet für Menschliches-Allzumenschliches, das bei Monika Lamers fast immer ein gutes Ende findet.
»Hauptsächlich deshalb wage ich nicht zu sagen, welchen Geschlechts er war, oder sie. Meine Sprache bietet mir nur diese zwei Möglichkeiten, sie hat kein Wort für ein anderes Geschlecht, das Geschlecht der Engel, denn sie kennt diese Seinserfahrung nicht.«
Monika Lamers, geboren 1941 in Bonn, lebt in der Nähe von Bonn. Arbeit in der Grundschule und der Lehrerfortbildung, anschließend Studium der Philosophie in Bonn, vier Jahrzehnte »Familienmanagement«.
Im Free Pen Verlag bereits erschienen: »Wintersturm«, 2011, »An den stillen Ufern des Königs«, 2013, und »Ckancelvie«, 2014.
Monika Lamers – Vom Geschlecht der Engel und anderen Kalamitäten
Free Pen Verlag
Erzählungen
Paperback, 82 S., 1. Auflage 2017
ISBN 978-3-945177-48-8
€ 10,-