Die Teufelsmühle

Eine menschliche Lieferkette aus Osteuropa sorgt für Spargel auf den Tellern und Pflege für die Alten. Eine Zukunft hat das jedoch nicht.

Erntehelfer in Deutschland © Rainer Sturm / pixelio.de

Die Covid-19-Pandemie mit Zehntausenden von Todesfällen und Millionen von Infizierten weltweit wirft generelle Fragen darüber auf, wie wir menschliche Gesellschaften und ihr Verhältnis zur Natur organisieren. Die Pandemie weckt Zweifel an den Grundsätzen des kapitalistischen Wirtschaftsmodells. Gegen alle Erwartungen hat sie das Mahlwerk von Karl Polanyis „Teufelsmühle“ gänzlich angehalten, sodass wir über Arbeitswelt und Rechte arbeitender Menschen neu nachdenken müssen. Neben den unterbezahlten und überarbeiteten Beschäftigten im Gesundheitswesen wurden auch die Arbeitskräfte in Lebensmittelgeschäften, Reinigungsfirmen und Restaurant-Lieferdiensten über Nacht für unentbehrlich erklärt, weil unsere Gesellschaft auf diese Berufe schlichtweg angewiesen ist.

In Europa und anderswo, besonders aber in Deutschland, läuft eine politische Debatte um eine andere Kategorie von Beschäftigten aus den Randbereichen der Arbeitswelt, die für die Versorgungssicherheit allerdings entscheidend sind: die Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft, die in Zeiten der Pandemie wegen Grenzschließungen und Einschränkungen im Reiseverkehr nicht nach Deutschland kommen können. Die Problematik selbst und die politischen Lösungsversuche sagen viel über Normativität und politische Ökonomie von Arbeit und Mobilität in der europäischen Kern-Peripherie aus.

300 000 Erntehelfer

Die deutsche Landwirtschaft braucht und beschäftigt zurzeit 300 000 saisonale Erntehelfer aus den östlichen EU-Mitgliedstaaten. Sei es für die Ernte von Spargel, Gurken oder Erdbeeren: Der Export saisonaler Erntehelfer von Ost- nach Westeuropa ist eine institutionalisierte menschliche Lieferkette, organisiert Jahr für Jahr von diversen Vermittlern und anderen Akteuren. Als die Politik im Kampf gegen die Pandemie die Freizügigkeit in Europa aufhob und strenge Reiseverbote verhängte, verhinderte sie im April auch die erwartete Einreise von Erntehelfern, sodass die Gefahr bestand, dass die deutsche Spargel- und Obsternte auf den Feldern verderben könnte. Nicht nur der schreckliche Gedanke an einen Frühling ohne Spargel und Erdbeeren in Deutschland, sondern auch der wirtschaftliche Schaden, den der Verlust einer gesamten Jahresernte mit sich gebracht hätte, zwang die Politik, die Krise zu lösen.

Im Dilemma zwischen Gesundheitsproblematik, wirtschaftlichen Verlusten und einer möglichen Nahrungsmittelknappheit stand sie vor einem ethischen Problem, das auch die EU als politische Gemeinschaft berührt. Die jüngsten Infektionsausbrüche in Fleischverarbeitungsbetrieben und Berichte über Todesfälle bei Saisonarbeitern offenbaren Doppelstandards. Wenn rumänische und bulgarische Erntehelfer mitten in einer Pandemie nach Deutschland geholt werden, zeigt das nicht nur, dass in der Krise im Hinblick auf Gesundheit und Sicherheit mit zweierlei Maß gemessen wird, sondern auch, wie ungleich im europäischen Kerngebiet und in der Peripherie Risiken und Lasten für die Arbeiterschaft verteilt sind.

Entwertung von Arbeit?

Die Spargel-Saga verweist auf drei zentrale Aspekte der Arbeitswelt im erweiterten Europa, die von der irregeleiteten Diskussion über Billigarbeitskräfte oder Sozialhilfetourismus aus dem Osten üblicherweise überdeckt werden: die Arbeitsteilung in der erweiterten EU, Freizügigkeit als Zwangsmigration und die strukturelle Entqualifizierung und Entwertung von Arbeit in Sektoren, die von migrantischen Arbeitskräften dominiert werden.

Im europäischen Kerngebiet (zum Beispiel in Deutschland) hängen arbeitsintensive Bereiche wie Landwirtschaft, Pflege oder Reinigungsarbeiten stark von Arbeitskräften aus der (östlichen) Peripherie ab. Besonders in der Landwirtschaft wanderte das Outsourcing mit jeder Runde der EU-Erweiterung weiter gen Osten, sodass die meisten Arbeitskräfte mittlerweile aus Polen, Bulgarien und Rumänien kommen. Schon lange vor der EU-Erweiterung war die deutsche Landwirtschaft auf saisonale Arbeitskräfte angewiesen. So untersuchte in den 1890er Jahren bereits Max Weber den Einfluss polnischer Arbeitskräfte, die auf preußischen Feldern arbeiteten, auf die Arbeitsbedingungen ostelbischer Landarbeiter.

Armee von Reservearbeitern

Die Freizügigkeit in der EU hat in diesem Sektor die Auslagerung erleichtert und für Landwirte lukrativer gemacht, da sich die „Armee der Reservearbeitskräfte“ aus immer kostengünstigeren Arbeitskräften mit immer schwächerer Verhandlungsmacht rekrutierte. Bestand hatte dieses Geschäft, weil die niedrigen Löhne an Wert gewannen, sobald die Arbeitskräfte in ihre Herkunftsstaaten zurückkehrten, und die anstrengenden Arbeitsbedingungen wegen der Befristung (nicht mehr als drei Monate) noch erträglich waren.

Im aktuellen Fall entlarvte die Reaktion der Landwirte auf den Vorschlag der Regierung, Arbeitslose aus der Region oder Asylbewerber als Ersatz für die fehlenden Saisonarbeitskräfte einzustellen, vor allem die Rede von der „unqualifizierten Arbeit“ als Mythos. Das werde nicht gutgehen, trugen die Landwirte vor, denn Erntearbeit, besonders beim Spargel, erfordere Erfahrung, besondere Fertigkeiten und Geschick, die willkürlich angeheuerte Arbeitskräfte aus der Region weder hätten, noch sich so schnell aneignen könnten. Deshalb vereinbarten die Landesminister des Inneren und der Landwirtschaft, 80 000 Saisonarbeitskräfte aus östlichen EU-Mitgliedstaaten einzufliegen, und das zu einer Zeit, in der massive Reisebeschränkungen gelten und die Freizügigkeit in Europa praktisch ausgesetzt ist.

Diese Entscheidung müsste die Betrachtung osteuropäischer (Saison-)Arbeitskräfte grundlegend verändern, belegt sie doch, dass bei der derzeitigen Arbeitsteilung in Europa die osteuropäische Saisonarbeitskraft in der Landwirtschaft nicht „bedürftig“, sondern notwendig oder sogar unentbehrlich, also „systemrelevant“ ist, wie es in Deutschland heißt. Das Wort von den mobilen Arbeitskräften aus den östlichen EU-Mitgliedstaaten, die vom Zugang zum Binnenmarkt profitieren (konkret von den Märkten in den westlichen Kernregionen der EU), dreht sich um: Diese Märkte sind in Wahrheit vollständig auf die Arbeitskräfte aus der östlichen Peripherie angewiesen.

Die dunkle Seite der Freizügigkeit

Die Covid-19-Krise wirft nicht nur ein Schlaglicht auf die europäische Arbeitsteilung zwischen Kern und Peripherie, in der ganze Wirtschaftssektoren existenziell von Arbeitskräften aus der östlichen Peripherie abhängen, sondern sie offenbart auch die dunkle Seite der EU-Freizügigkeit, der großartigsten und gleichzeitig umstrittensten Errungenschaft der Europäischen Union. Wenn prekäre Verhältnisse instrumentalisiert werden, so entpuppt sich Freizügigkeit als bloßes romantisches Klischee. Aus der Mobilität von Arbeitskräften wird Zwangsmigration. Die 80 000 Saisonarbeitskräfte steigen in Flugzeuge, um in überfüllten Sammelunterkünften zu wohnen, in Kantinen zu essen und auf den Feldern eng an eng zu arbeiten.

In der regulären Erntesaison sind Lebens- und Arbeitsbedingungen für Erntehelfer das genaue Gegenteil von sozialem (oder physischem) Distanzhalten. Bis zu sechs Personen leben bisweilen in einem stickigen Containerraum, Arbeitskräfte pendeln in Bussen und Kleinbussen zu den Feldern und teilen sich diverse enge Gemeinschaftsräume. Da man vor diesen Bedingungen, die gegen die meisten Kontaktbeschränkungen verstoßen, die Augen verschließt, könnten für die Rettung der Spargelernte die Saisonarbeitskräfte mit ihrer Gesundheit bezahlen.

Ein Grundsatz degeneriert

Der europäische Grundsatz „In Vielfalt geeint“ degeneriert zu materieller Ungleichheit. Es zeigt sich, dass in Europa Freizügigkeit mal großzügige Reisefreiheit, mal erzwungene Ausreise bedeutet, je nachdem, ob man das Kerngebiet oder die Peripherie in den Blick nimmt. Vor diesem Hintergrund belegt der Fall der deutschen Spargelernte, wie notwendig es ist, die aktuelle Debatte über die Mobilität von Arbeitskräften um die vernachlässigte Perspektive diseer Menschen, und auch das Recht, nicht mobil zu sein, zu thematisieren.

Ein Blick auf die Saisonarbeit in der Landwirtschaft zeigt, dass diese Arbeit wie die anderen in der Krise so wichtigen Bereiche, etwa Pflege und Lebensmittelhandel, relevant und wesentlich für unsere Gesellschaften ist, sie jedoch durch strukturelle und sprachliche Entqualifizierung entwertet wurde. Wer bestimmte Arbeiten als geringqualifiziert darstellt, dazu häufig mit ethnisch gefärbten Argumenten – wie im Falle der landwirtschaftlichen Saisonarbeit in Deutschland –, zementiert die niedrigen Arbeitskosten und die ungünstigen Arbeitsbedingungen. Vor dem Hintergrund der ungleichen Arbeitsteilung im integrierten Europa entlang der Ost-West-Bruchlinie dürfen wir künftig nicht mehr von bedürftigen und armen osteuropäischen Arbeitsmigranten sprechen, sondern müssen anerkennen, dass n Wirklichkeit diese Menschen während der globalen Pandemie in ganz Europa die Gesellschaften und Volkswirtschaften am Laufen gehalten haben.

Die Einsicht in die beschriebene materielle Ungleichheit in der EU, die Arbeitsteilung auf dem Kontinent und die Aufgaben, die in Sachen Mobilität und Arbeitnehmerschutz vor uns liegen, liefert uns zudem einen Ausgangspunkt dafür, die integrierte Arbeitswelt der EU neu zu denken. Die kommerzialisierte und einseitige Betrachtung von Mobilität, Bürgerrechten und Arbeitnehmerschutz muss überwunden werden, nicht nur in der Pandemie, sondern generell.

Aus dem Englischen von Anne Emmert

Vladimir Bogoeski ist Doktorand an der Hertie School of Governance und der Humboldt Universität Berlin und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hebräischen Universität Jerusalem.

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