Politik: Denkzettel für den Westen
Vier der sechs neuen BRICS-Mitglieder kommen aus dem Mittleren Osten. Während die USA an Macht verlieren, setzt sich Peking weiter in der Region fest.
Eine neue Abkürzung muss her. BRICASSEEE vielleicht? Frei nach dem beliebten Hühnchengericht schwimmen jetzt auch im BRICS-plus-Topf jede Menge recht unterschiedlich großer Stückchen. Auf den ersten Blick wird das wenig am Grundgeschmack ändern, addieren die Neumitglieder doch nominal lediglich zwölf Prozent zur Gesamtwirtschaftsleistung des Staatenbunds. Trotzdem kristallisiert sich eine distinkte mittelöstliche Note heraus, gehören mit Saudi-Arabien, Iran, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) doch vier der sechs Aufsteiger geografisch zum Mittleren Osten und Nordafrika. Addiert man Äthiopien noch dazu, ist die Region zwischen Rotem Meer und Persischem Golf plötzlich ganz formidabel vertreten in einem Bündnis, das einige Kommentatoren als „anti-hegemoniales Projekt“ beschreiben.
Ursprünglich mal ein Akronym für aufsteigende Wirtschaftsmächte zeigt diese Neuaufnahme, dass die ökonomische Kooperation nicht mehr die primäre Raison d’Être ist. Zumindest beschwören Staaten wie der hoch sanktionierte Iran oder der IWF-Schuldner Ägypten jetzt nicht zwangsläufig Bilder wirtschaftlichen Dynamismus herauf. Am ehesten fällt noch die Technoautokratie der Emirate in diese Kategorie.
Doch Wirtschaftsdynamik hin oder her, Emporkömmlinge im geopolitischen Sinne sind alle vier der mittelöstlichen Neumitglieder. Die Financial Times spricht nicht ohne Grund vom „Aufstieg der Mittelmächte“. Nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg sei die Zeit günstiger gewesen für eigenständig agierende „Swing States“, die im Rahmen der neuen multipolaren Ordnung eine Balancepolitik zwischen den Weltmächten betreiben.
Der BRICS-plus-Verbund ist vielleicht das augenscheinlichste Vehikel für diesen Drang zur Multipolarität. Mit Aufnahme der sechs Neuen mag die innere Kohäsion des Clubs weiter abnehmen. Aber das nimmt ihm nichts von seiner Attraktivität. Weitere 20 bis 25 Staaten sind angeblich in der Warteschlange. Dabei spielt die innere politische Verfasstheit kaum eine Rolle. Fast die gesamte globale Regimevielfalt ist vertreten. Was eint, ist das Streben nach strategischer Autonomie und einer neuen Weltordnung.
Was eint, ist das Streben nach strategischer Autonomie und einer neuen Weltordnung.
Genau hier könnte der Unterschied zu Europa nicht größer sein. Während die großen Staaten des Mittleren Ostens nach einem Mehr an politischer Beinfreiheit streben und die Überwindung der Unipolarität als Chance begreifen, erlebt Europa die Rückkehr der alten US-dominierten Hackordnung. Manche Beobachter wollen gar eine Vasallisierung ausgemacht haben, Begriffe wie „europäische Souveränität“ oder „strategische Autonomie“ bleiben höchst umstritten.
Im Mittleren Osten ist die Stoßrichtung genau entgegengesetzt. Dabei sind es – im Unterschied zum Iran – mit Saudi-Arabien, den VAE und Ägypten drei traditionelle Alliierte der Vereinigten Staaten, die nun in ein durch Peking dominiertes Bündnis drängen. Ägypten hat gar den offiziellen Status eines „major non-NATO ally“, ist somit Mitglied eines exklusiven Clubs wichtigster US-Verbündeter außerhalb des nordatlantischen Raums. Saudi-Arabien und mit Abstrichen auch die Emirate waren und sind beide Grundpfeiler amerikanischer Machtprojektion im Mittleren Osten. In allen drei Staaten sind amerikanische Streitkräfte stationiert.
Nun ist eine Mitgliedschaft im transaktionalen Club der BRICS nicht zwangsläufig mit einer antiamerikanischen Schlagseite gleichzusetzen, auch ältere Mitgliedstaaten wie Indien, Brasilien und Südafrika unterhalten sehr ausdifferenzierte Beziehungen zu Washington. Mindestens jedoch ist der Beitritt zu diesem Verbund ein Misstrauensvotum gegen die amerikanisch dominierte Weltordnung. Kein Geringerer als UN-Generalsekretär Antonio Guterres durfte auf dem BRICS-Gipfel in Johannesburg das Hohelied auf die Verheißungen der multipolaren Welt singen. Die heutigen Global-Governance-Strukturen reflektierten die Welt von gestern, dies sei im Besonderen zutreffend für den Sicherheitsrat und die Bretton-Woods-Institutionen. Dass der oberste UN-Vertreter sich derart äußert, zeigt, dass das BRICS-Narrativ außerhalb des Westens längst hegemonial geworden ist.
Ganz überraschend kommt die Abwendung der arabischen BRICS-Neulinge von Washington nicht. Alle drei eint eine Geschichte der Entfremdung von Amerika. Weder in Riad noch in Kairo hat man vergessen, mit welcher Geschwindigkeit die US-Regierung im sogenannten Arabischen Frühling Präsident Mubarak hat fallen lassen. Im Windschatten der vom Westen vergeblich erhofften Demokratisierung erstarkte dann in der ganzen Region der Politische Islam – gemeinsamer Erzfeind sowohl der ägyptischen Militärs wie auch der saudischen und emiratischen Herrscherhäuser. Dass Washington dann noch ohne Konsultation seiner arabischen Verbündeten den Iran-Nukleardeal aushandelte, verstärkte gerade in Riad die Annahme, dass die amerikanische Vormacht im Zweifelsfall ein unsicherer Kantonist sei.
Ganz überraschend kommt die Abwendung der arabischen BRICS-Neulinge von Washington nicht.
Auch die special relationship, die Mohammad bin Salman, der aufsteigende Stern am saudischen Herrscherfirmament, zu Donald Trump kultivierte, sollte daran nichts ändern. Als im September 2019 ein mutmaßlich iranisch koordinierter Angriff auf Ölförderanlagen die saudische Produktion um die Hälfte einbrechen ließ, blieb die Reaktion aus Washington äußerst verhalten. Präsident Trump war zwar an saudischem Geld gelegen, amerikanische Soldaten zur Verteidigung des Königreichs mochte er jedoch nicht einsetzen.
Der Amtsantritt Joe Bidens markiert den bisherigen Tiefpunkt im saudisch-amerikanischen Verhältnis. Als Kandidat verkündete Biden noch vollmundig, das Königreich zu einem Pariastaat machen zu wollen. Der dem Kronprinzen zugeschriebene Khashoggi-Mord hatte in Amerika offenbar einen Nerv getroffen. Von dieser Ankündigung ist nicht viel übriggeblieben. Ganz im Gegenteil haben sich die Kräfteverhältnisse unterdessen derart verschoben, dass plötzlich Riad am längeren Hebel sitzt.
Nach Ausbruch des Ukrainekrieges tritt nun Washington in Riad als Bittsteller auf. Nicht sonderlich erfolgreich allerdings. Woran auch Bidens persönlicher Canossagang ins Königreich wenig änderte. Mit fast schon masochistischer Beständigkeit holt sich die Weltmacht USA in Riad eine Watschen nach der anderen ab. Statt Sanktionen gegen Russland zu verhängen, weitet Riad die Kooperation mit Moskau im OPEC-plus-Kartell aus. Statt die amerikanische Haltung gegenüber China im Dezember 2022 zu unterstützen: Abhaltung des ersten China-Golf-Kooperationsrat-Gipfels in Riad, unter Teilnahme des chinesischen Staatspräsidenten. Statt die durch Washington betriebene internationale Isolierung Irans: im März 2023 die historische Annäherung an Teheran, ausgerechnet vermittelt durch China.
Dass zwischenzeitlich und gegen den Willen der Amerikaner auch Syriens Machthaber Assad wieder in die Arabische Liga aufgenommen wurde, fällt da fast schon nicht mehr ins Gewicht. Symbolisch schwerer dürfte manchem in Washington im Magen liegen, dass Riads BRICS-Beitritt nun ausgerechnet in eine Zeit fällt, in der Amerika sich intensiv um eine Normalisierung zwischen Israel und Saudi-Arabien bemüht.
Brücken werden nicht zerstört, sondern nach allen Seiten aufgebaut.
Zwar mag die tiefere Bewandtnis dieser Bemühungen mehr in Joe Bidens Eitelkeit liegen, zum Ende seiner Amtszeit doch auch noch etwas Historisches hinterlassen zu wollen. Womöglich sogar etwas, das die trumpschen Abraham Accords oder den chinesisch garantierten Iran-Saudi-Deal überstrahlt. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Saudis mit der eigentlich indiskutablen Forderung nach NATO-ähnlichen Sicherheitsgarantien den Preis bewusst ins Unbezahlbare treiben.
Versuchte man sich früher in Washington mit viel Geld lieb Kind zu machen, macht man sich heute rarer. Je unabhängiger man agiert, desto interessanter wird man für die Großmächte. Brücken werden nicht zerstört, sondern nach allen Seiten aufgebaut. So ist dieser Beitritt für Riad, aber auch für die Emirate und Ägypten, kein Votum gegen Amerika, sondern die Reaktion auf eine neue globale Machtverteilung und der daraus abgeleitete Ehrgeiz, diese transaktional und unideologisch zur Mehrung der eigenen Macht und Souveränität zu nutzen.
In Teheran ticken die Uhren dagegen anders als in Riad. Für Iran ist die multipolare Welt kein Mittel zum Zweck, sondern ein ideologisches Projekt mit klar antiwestlicher Schlagseite. Dass ausgerechnet ein global so umstrittener Staat zum jetzigen Zeitpunkt in die BRICS aufgenommen wird, darf durchaus als Affront gegen den Westen gelesen werden. Es zeigt deutlich, dass nicht nur Peking und Moskau, sondern auch Brasilia, Pretoria und Neu-Delhi der Auffassung sind, sich von niemandem Vorschriften machen lassen zu müssen. Die Spannungen zwischen Teheran und dem Westen befinden sich derzeit auf einem Höhepunkt. Die stockenden Atomverhandlungen tragen dazu ebenso bei wie die Niederschlagung der jüngsten Protestbewegung und die direkte Waffenhilfe für Moskau – die momentan kein anderer Staat der Welt leistet.
Während der Antagonismus zum Westen wächst, ist Teheran aktiv bemüht, die Beziehungen in die restliche Welt auszubauen. Schon unter Präsident Ahmadinedschad wurde eine „Blick nach Osten“-Politik mit Fokus auf Asien formuliert. Spätestens nach Beginn der amerikanischen Politik des „maximalen Drucks“ nach dem Ausstieg Washingtons aus dem Atomabkommen hat Teheran diese Strategie intensiviert. Der BRICS-Beitritt erfolgt nur einen Monat nach Irans Aufnahme in die ebenso von Moskau und Peking dominierte, auf Eurasien beschränkte Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) im Juli.
Auch für die BRICS ist Irans Mitgliedschaft nicht ohne Risiko.
Aber auch in unmittelbarer Nachbarschaft ist Teheran nicht untätig geblieben. Im Westen kaum beachtet, erklärte der erzkonservative Staatspräsident Ebrahim Raissi schon zu Beginn seiner Amtszeit Mitte 2021, die Beziehungen zu den arabischen Nachbarstaaten verbessern zu wollen. Bereits ab 2019 erfolgte eine schrittweise Normalisierung im Verhältnis zu den VAE. Das durch Peking vermittelte Annäherungsabkommen mit Riad hat im März 2023 eine Entspannung im virulentesten Hegemonialkonflikt des Mittleren Ostens herbeigeführt. Zwar ist unklar, ob Teheran auch liefern kann, was Saudi-Arabien sich wünscht, allem voran Frieden im Jemen. Die gemeinsame Aufnahme der Rivalen in den BRICS-Club wird diese Détente nun aber konsolidieren. Mit dem Neumitglied Ägypten unterhält Iran gleichsam bereits seit 1979 keine diplomatischen Beziehungen mehr, aber auch hier steht die Annäherung möglicherweise kurz vor dem Durchbruch.
Irans Neumitgliedschaft in dem – neben dem Sicherheitsrat – womöglich exklusivsten Club der Welt stellt den Westen vor die bittere Erkenntnis, dass von einer globalen Isolation des Landes keine Rede mehr sein kann. Der derzeitige Fokus des Staatenverbunds auf Entdollarisierung ist ganz im Interesse des nach Russland meistsanktionierten Staats der Erde. Aber auch für die BRICS ist Irans Mitgliedschaft nicht ohne Risiko. Nicht nur hat sich Teheran in der Vergangenheit durch sehr brutale außenpolitische Methoden ausgezeichnet. Der ungelöste Atomkonflikt lässt am Horizont zudem das Fanal eines direkten Krieges zwischen den Vereinigten Staaten und einem BRICS-Mitgliedstaat aufleuchten.
Die primär durch China vorangetriebene Erweiterung in die bislang nicht im Staatenverbund vertretene Region Mittlerer Osten zeigt einmal mehr, welchen Stellenwert Peking dieser zumisst. Während die USA zumindest rhetorisch den Rückzug aus der Region propagieren, setzt sich das Reich der Mitte dort zunehmend fest. Mit Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Iran bindet China als weltgrößter Ölimporteur seine nach Russland wichtigsten Lieferanten ein. Mit Indien als absehbar zweitgrößtem Importeur sind künftig die wichtigsten Player des globalen Ölmarkts in BRICS vertreten – eine Entwicklung, die trotz aller Hindernisse die angestrebte Entdollarisierung begünstigen könnte. In gewisser Weise wird über BRICS so die „Neue Seidenstraße“ und damit die Anbindung Westasiens an China konsolidiert.
Was bedeutet nun diese BRICS-Erweiterung für Deutschland und Europa? Sie bedeutet zuallererst, dass Multipolarität von einem ideologischen Schlagwort zu einer Zustandsbeschreibung geworden ist. Die Attraktivität der BRICS ist nur offensichtlichster Ausdruck dessen.
Ein Systemkonflikt würde die Weltordnung fragmentieren, nicht stabilisieren.
Der Fokus auf den Krieg in der Ukraine und die vor allem im Westen um sich greifende China-Panik sollten nicht den Blick darauf verstellen, dass die vielbeschworene regelbasierte Weltordnung außerhalb Europas und Nordamerikas kein ausdrücklich positiver Bezugspunkt ist – sondern häufig als ideologische Bemäntelung einer wenig populären unipolaren Ordnung gilt, in der diese Regeln recht selektiv angewendet werden. Indem nun der Ausgang des Ukrainekrieges zum Lackmustest für das Überleben dieser Ordnung stilisiert wird, werden auch Staaten, die gewiss keine Sympathien für Angriffskriege und gewaltsame Grenzverschiebungen hegen, ins neutrale oder gar prorussische Lager gedrängt. Die Tatsache jedenfalls, dass sich außerhalb des Westens fast niemand an Waffenlieferungen an Kiew und am Sanktionsregime beteiligt, sollte zu denken geben.
Auch die „Allianz der Demokratien“, von der die Biden-Regierung lange geträumt hat und die auch in Deutschland Anhänger hat, wird nicht fliegen. Außerhalb des Westens will niemand einen Systemkonflikt, darüber ist man sich systemübergreifend einig. Davon zeugt nicht zuletzt die in den BRICS vertretene Systemvielfalt. Ein Systemkonflikt würde zudem die Weltordnung fragmentieren, nicht stabilisieren. Zumal auch nicht klar ist, wer diese Allianz anführen sollte, wenn ab 2025 ein Vertreter des Trumpflügels der Republikanischen Partei im Weißen Haus säße.
Die entscheidende Frage ist nicht: Multipolarität oder nicht? Sondern: wie? Wie gestaltet man die im Entstehen begriffene neue Ordnung? Dabei gilt es so viel Positives wie möglich aus der bisherigen Ordnung hinüber in die Neue zu retten, es gleichzeitig aber zuzulassen, bestehende multilaterale Institutionen so zu reformieren, dass in ihnen die realen Machtverhältnisse gespiegelt werden.
Die BRICS sind kein per se feindlicher oder antiwestlicher Verbund, sondern ein Vehikel für diese Reform. Zuhören, Ernstnehmen, Verhandeln sind womöglich bessere Alternativen als Abblocken und auf Konfrontation zu gehen. Die Gefahr ist nicht klein, dass die beiden größten Pole der neuen multipolaren Welt weiterhin aufeinander zurasen. Hier wäre es klug, gerade als Europäer alles in die Waagschale zu werfen, um auf Mäßigung im Umgang miteinander hinzuwirken. Im Mittleren Osten hatte Präsident Obama den saudischen und iranischen Kontrahenten einst zugerufen: „Share the Region“. Womöglich ist es Zeit für ein „Share the World“.
Marcus Schneider leitet das FES-Regionalprojekt für Frieden und Sicherheit im Mittleren Osten mit Sitz in Beirut, Libanon. Zuvor war er für die FES unter anderem als Leiter der Büros in Botswana und Madagaskar tätig.