Balz um neue Partner

Der russische Krieg in der Ukraine hat Auswirkungen auf die Weltpolitik. Russland, China und der Westen wetteifern um Einfluss im Globalen Süden.

© Susanne Stöckli auf Pixabay.com

Russlands Einmarsch in der Ukraine seit dem 24. Februar 2022 wird in Lateinamerika, Asien und im Nahen und Mittleren Osten uneinheitlich bewertet. Generell lässt sich ein anti-westlicher Reflex bei einer ganzen Reihe von Regierungen beobachten. Der Überfall bedeutet eine globale Zäsur, die eine ganze Reihe von unterschiedlichen Auswirkungen nach sich zieht. Wie aber lässt sich diese Zäsur beschreiben, verstehen und in politisches Handeln übertragen?

Das System, welches sich nach dem Ende des Kalten Krieges etabliert hat, scheint zerrüttet. Der Überfall auf die Ukraine bricht eklatant mit den regelbasierten Beziehungen, die dem internationalen System jahrelang Stabilität und Ordnung verliehen haben. Er schwächt gemeinschaftliche Lösungsansätze in den internationalen Beziehungen, insbesondere die Vereinten Nationen als die zentrale globale Plattform. Der Krieg befördert letztendlich ein neues Lagerdenken. Allianzen und Partnerschaften erscheinen wichtiger denn je.

Noch mehr zeigt die Zäsur die unterschiedlichen Abhängigkeiten und Formen der Zusammenarbeit auf – was nicht nur Auswirkungen auf die Politik, sondern auch auf den ganz einfachen Alltag der Menschen hat. Der Krieg führt zu enormen globalen Wohlstandsverlusten, indem die Ausgaben für Energie und Nahrungsmittel in vielen Ländern in die Höhe schnellen und das Wachstum einbricht. Einige Politikfelder, wie etwa Energiesicherheit, erhalten plötzlich mehr Aufmerksamkeit, teilweise verbunden mit einem erheblichen Zuwachs an öffentlichen Budgetmitteln. Ähnliches gilt für die Militärausgaben.

Andere Politikfelder und Herausforderungen rutschen in der politischen Aufmerksamkeit ab. Zu Recht wird kritisiert, dass vor allem Bemühungen gegen den Klimawandel gerade hintangestellt werden. Andere Felder erfahren eine Neubewertung, wie etwa uneinheitliche Trends bei der Neuerschließung von fossilen Energieträgern einerseits und einer teilweise unterstützenden Dynamik zugunsten von erneuerbaren Energien andererseits. All diese Entwicklungen sind von hoher Bedeutung für den Globalen Süden und werden durch dessen Akteure mitgeprägt. Das Resultat zeigt sich in geostrategischen Konstellationen oder beispielsweise dem Zugang zu Energieträgern. Der Globale Süden entwickelt sich zusehends zu einem hart umkämpften strategischen Partner in einer fluktuierenden Geopolitik.

Der Globale Süden als Kategorie suggeriert eine Homogenität, die in der Realität nicht existiert.

Der Globale Süden als Kategorie suggeriert eine Homogenität einer Ländergruppe, die in der Realität bekanntermaßen schon seit Jahrzehnten nicht existiert. Die schiere Zahl an Ländern, deren höchst unterschiedlichen Voraussetzungen – etwa hinsichtlich der Bevölkerungszahlen, der Regierungssysteme und der wirtschaftlichen Potenz – zeigen, wie unscharf oder sogar irreführend eine vereinfachende Kategorisierung sein kann. Dennoch eint sie in der Regel eine gemeinsame Geschichte und die Positionierung gegenüber den OECD-Staaten. Durch Zusammenschlüsse wie die Gruppe der 77, der größten von Entwicklungsländern gebildeten Gruppe innerhalb der Vereinten Nationen, und die sogenannten Blockfreien Staaten bestehen politische Gemeinsamkeiten, aufgrund derer sie sich als unabhängige politische Kraft in der Weltpolitik verstehen.

Die Identität als Ländergruppe könnte gerade durch eine wiederbelebte Identität des „Westens“ befördert werden. Auch dieser lässt sich nicht anhand klarer Merkmale oder gar einer formalen Mitgliedschaft bestimmen. Vielmehr ist er als nicht organisierte Gruppe zu verstehen, deren dazugehörige Länder eine sich ähnelnde Werteorientierung hinsichtlich offener, demokratischer Regierungssysteme haben und die zum Teil über verteidigungspolitische Bündnisse, wie die NATO, oder wirtschaftliche und politische Zusammenschlüsse, wie die Europäische Union oder die G7, verbunden sind.

Russland versucht, den Begriff und die Perzeption „des Westens“ global negativ zu prägen.

Russland versucht, den Begriff und die Perzeption „des Westens“ global zu prägen. Dabei geht es um eine eindeutig negative Konnotation „des Westens“ als informelles Staatenbündnis, das es zu bekämpfen gelte. Dessen Ziel sei es, die weltwirtschaftliche und -politische Vormachtstellung einer Staatenminderheit abzusichern. Insofern besteht gerade in der vermeintlichen Gegenüberstellung zur russischen Aggression zwischen „dem Westen“ einerseits und dem „Rest der Welt“ andererseits die Gefahr, dass es weniger um den Krieg in der Ukraine an sich geht, sondern in großen Teilen um einen geopolitischen Konflikt, bei dem der Globale Süden Doppelstandards und lang andauernde ungerechte politische und wirtschaftliche Strukturen wahrnimmt. Gezielt werben Bundeskanzler Olaf Scholz und andere westliche Vertreter daher für ein multilaterales Weltordnungs-Narrativ, das gerade im Interesse des Globalen Südens sei.

Besonders gut lassen sich unterschiedliche Sichtweisen in Bezug auf den russischen Einmarsch in der Ukraine für den afrikanischen Kontinent erkennen. Eine durchgängig klare panafrikanische Stimme, die sich unmissverständlich gegen Aggression, Besatzung und Vertreibung ausspräche, sucht man vergebens. Teilweise lässt sich dies mit den historischen Beziehungen erklären, etwa der Unterstützung afrikanischer Befreiungsbewegungen wie des ANC in Südafrika oder der SWAPO in Namibia durch die ehemalige Sowjetunion. Hinzu kommt die Kritik an westlichen „Doppelstandards“, etwa an Militärinterventionen des „Westens“, vornehmlich der USA, die ohne VN-Mandatierung stattfanden – so etwa die „Koalition der Willigen“, die sich 2003 dem mit manipulierten „Belegen“ begründeten US-Angriff auf den Irak anschloss.

Afrikanische Staaten werden noch stärker als politische Bündnispartner, zum Teil auch als Partner mit Zugang zu Energieressourcen umworben.

Gerade der betont freundschaftliche Charakter des Besuchs der Vorsitzenden der Afrikanischen Union (AU), Senegals Präsident Macky Sall, und der AU-Kommission, Moussa Faki Mahamat, bei Präsident Wladimir Putin in Russland im Juni 2022 zeigte zweierlei: Erstens werden Afrikanische Staaten noch stärker als politische Bündnispartner, zum Teil auch als Partner mit Zugang zu Energieressourcen umworben, was ebenso durch die Besuche von Kanzler Scholz, auch in seiner Rolle als G7-Vorsitzender, im Senegal, Niger und Südafrika ebenfalls im Juni 2022 deutlich wurde. Zweitens ist die Nahrungsmittelversorgung durch die Auswirkungen der russischen Aggression gerade für afrikanische Länder von dramatischer Bedeutung.

Viele Wahrnehmungen nach der russischen Aggression seit Februar 2022 konzentrieren sich darauf, wie sich Länder und Ländergruppen bei mit dem Angriffskrieg befassten VN-Resolutionen und VN-Debatten verhalten haben. Allein dieser Fokus auf das Abstimmungsverhalten zeigt, dass die politische Positionierung von Staaten eine neue Relevanz erhalten hat. Insofern spielt ein verstärktes strategisches Lagerdenken im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg eine große Rolle. Zugleich ist die Bildung neuer Länderallianzen, die sich von den Konstellationen der letzten Jahre grundlegend unterscheiden, vorläufig nicht erkennbar. Dies beinhaltet auch, dass viele Entwicklungsländer durchaus ihre in den letzten Jahrzehnten erworbene politische Emanzipation nutzen und eigene Positionen formulieren und auch etwaige Doppelstandards von westlichen Regierungen benennen.

China wirbt zunehmend um Verbündete zur Durchsetzung neuer internationaler Spielregeln und Sichtweisen.

Es ist zu erwarten, dass die internationalen und weltwirtschaftlichen Beziehungen, das Verhältnis zum Globalen Süden und die Entwicklungspolitik durch geostrategische Themen und Problemlagen dominiert sein werden. Die USA gehen ausdrücklich davon aus, dass die Rivalität in allen Feldern, vorwiegend in Wirtschaft, Militär oder Einflusszonen dauerhaft, durch einen Wettbewerb mit China, geprägt sein wird. Dieser dürfte zukünftig noch prägender werden und wird derzeit in Teilen vom russischen Angriffskrieg in der Wahrnehmung überlagert.

China wirbt zunehmend um Verbündete zur Durchsetzung neuer internationaler Spielregeln und Sichtweisen. Die verstärkte Zusammenarbeit von China und Russland, um mit einem eigenen Diskurs zu „echter Demokratie“ Debatten zu steuern, zeigt, wie insbesondere China globale Meinungen zu beeinflussen versucht.

Die Rivalitäten zwischen zentralen Akteuren des Globalen Südens dürften künftig prägnanter werden: Dies gilt nicht zuletzt für das Verhältnis zwischen Indien und China. Indiens Positionierung zum russischen Krieg in der Ukraine ist auch von der Frage mitbestimmt, wie sich der Krieg auf das Kräfteverhältnis zwischen China und Indien auswirken dürfte. Zugleich zeigt sich China interessiert, den Kreis der bisherigen BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) um Entwicklungsländer zu erweitern, die nicht Teil der G20 sind; damit dürfte ein weiterer Versuch verbunden sein, die eigenen Einflusszonen zu erweitern.

Übergreifend wird „Unsicherheit“ immer mehr eine systemische Herausforderung darstellen. Nicht oder unzureichend antizipierte Krisen der vergangenen Jahre – vom Migrationsdruck auf Europa bis hin zu den deutlich sichtbaren klimabedingten Katastrophen in allen Erdregionen – setzen Entscheidungsträger unter Druck. Krisen erzwingen unmittelbares Handeln; sie lassen allerdings für ein antizipatives und gestalterisches Vorgehen weniger Raum. Der Bedarf an proaktiven Strategien in einem unsicheren Kontext nimmt immens zu. Strategische Vorausschau und konkretes politikfeldübergreifendes Handeln spielen vor diesem Hintergrund wichtige Rollen.

Dr. Stephan Klingebiel leitet am German Institute of Development and Sustainability (IDOS) – früher: Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) – in Bonn das Forschungsprogramm „Inter- und transnationale Kooperation“. Von 2019 bis Juni 2021 leitete er das Global Policy Centre des UNDP in Seoul, Südkorea.

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