Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

Es fehlt der Schnee. Wirklich. Für jemanden, der das Jahr noch immer in seinen vier Zeiten erleben möchte, fehlt jetzt ganz einfach der Schnee. Auch Mitte Februar ist schließlich immer noch Winter. Und deshalb hat sich auf dem Thermometer die Temperatur eher um den Nullpunkt herum zu bewegen, statt bei 20 Grad. Plus, wohlgemerkt. Auch die Rosen auf dem Balkon sollten ihre Triebe besser zurückhalten und allenfalls Schneeglöckchen das Blühen erlauben. Denn die sind von Natur aus so gepolt, dass sie ihre Köpfchen auch durch eine Schneedecke stecken würden. Gut, Schnee in der Stadt zeigt in der Regel nur kurz seine weiße Schönheit, weil er stets ganz schnell zu Matsch versalzen wird und die meisten Autofahrer besonders im Flachland damit auch nicht umzugehen wissen. Aber trotzdem – Schnee im Dezember, Januar und auch Februar, das wäre in Ordnung. Wenigstens das.

Früher, als es die DDR noch gab, kursierte dort dieser satirische Witz: „Was sind die vier größten Feinde des Sozialismus?“ Antwort: „Frühling, Sommer, Herbst und Winter“. Der Witz ist nicht angekommen? Wirklich nicht? Da sieht man doch wieder einmal, wie die Zeit vergeht. Oder genauer: Wie schnell ehemalige Wirklichkeiten in Vergessenheit geraten. Der Witz war, dass im Sozialismus nichts funktionierte – im Frühling, weil in den Kraftwerken noch nicht genügend Kohle angeliefert worden war; im Sommer, weil es zu heiß oder zu trocken war; im Herbst wegen des allgemeinen Mangels an Ersatzteilen; im Winter aufgrund der Glätte sowie des gefrorenen Bodens. Und außerdem halt überhaupt… Aber Mangel und Unzulänglichkeiten hatten wenigstens eine bestimmte Ordnung, die da hieß: So war es immer, und deshalb wird es wohl auch immer so bleiben.

Aber so ist es nicht! 30 Jahre nachdem die Menschen in der DDR das kommunistische Joch abgeschüttelt hatten, ist die Infrastruktur zwischen Elbe und Oder in einem hervorragenden Zustand. Das heißt: Auch im Winter ist jetzt die Belieferung überall gesichert. Die Kommunikations-Technologie ist weitaus moderner als in der „alten“ Bundesrepublik. Die einst verfallenden Städte – und keineswegs nur Dresden oder Leipzig – wie Erfurt oder Bautzen präsentieren sich in strahlender Schönheit. Aber Zufriedenheit und Freude über Freiheit und Fortschritt sind eher selten zu finden bei den Menschen. Natürlich gibt es weiterhin Probleme – wirtschaftliche, soziale, auch menschliche. Das ist nicht schön, aber trotzdem irgendwie normal. Weil es solche überall gibt, in Ost wie in West. Doch erklärt das, warum so viele Bürger ein wie auch immer geartetes Heil bei politischen Kräften im linken und (schlimmer noch) äußersten rechtsnationalistischen Bereich suchen? Dort mag man einfache Lösungen für komplizierte Fragen anbieten. Aber stabile Ordnungen für ein zivilisiertes Zusammenleben? Das gewiss nicht.

Nein, es wackelt Vieles im Staate Deutschland. Und zwar keineswegs allein beim gewohnten Verlauf der Jahreszeiten. Das, was über Jahrzehnte in Ordnung erschien, gilt ganz offensichtlich nicht mehr. So lösen sich zum Beispiel in fast dramatischer Geschwindigkeit die alten politischen Strukturen auf, bei denen über Jahrzehnte starke Parteien rechts und links der Mitte auch in schwierigen Situationen Stabilität, Festigkeit und – nicht zuletzt – Wehrhaftigkeit gegen alle Angriffe auf die demokratische Ordnung garantierten. Es sind aber ebenfalls zivilisatorische Errungenschaften ins Wanken geraten, ohne die ein gesittetes Miteinander nicht funktionieren kann. Die Verrohung der Sprache schon in der Schule, die Verbreitung von Beleidigungen bis hin zu blankem Hass in den neuen Medien, der zunehmende Unwille, ja sogar die Unfähigkeit zum Zuhören und Meinungsaustausch – das ist pures Dynamit für eine Gesellschaft, die doch (zumindest in ihrer Mehrheit) eigentlich an Anstand, Kultur und Rechtlichkeit gewöhnt war und die, schon als Lehre aus ihrer Geschichte, immun und gefeit schien gegen Extremisten links wie rechts, gegen Heilsverkünder und Verschwörungstheoretiker.

„Heil´ge Ordnung, segensreiche Himmelstochter“, jubilierte Friedrich Schiller in seinem „Lied von der Glocke“. Das klingt nicht nur wie eine Stimme aus einer anderen Welt, das ist auch eine solche. Es mag nicht jeder so empfinden, tatsächlich jedoch stehen wir in vielfacher Weise an einer Wende. Die alten Kräfte haben ihre Bindungskraft für die Menschen verloren – Parteien, Kirchen, Gewerkschaften. Es wird sich gewiss eine neue Ordnung herausbilden; welche, ist noch völlig ungewiss. Dazu gehören selbstverständlich auch die parteipolitischen Irrungen und Wirrungen in Deutschland, wie sie sich aktuell bei der CDU/CSU abspielen. Bei der Partei also, die – mehr als jede andere – die Geschicke im Lande bestimmte oder wenigstens beeinflusste.

„Prognosen sind schwierig. Vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen“. Diese Erkenntnis des amerikanischen Schriftstellers Mark Twain mag platt erscheinen. Sie trifft jedoch exakt zu auf unsere Zeit, unser Land und unsere Gesellschaft.       

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